Urteil des OLG Düsseldorf vom 10.03.2008

OLG Düsseldorf: fahrspur, kollision, höchstgeschwindigkeit, befragung, distanz, betriebsgefahr, gefährdung, fahrbahn, grundstück, vertrauensgrundsatz

Oberlandesgericht Düsseldorf, I-1 U 188/07
Datum:
10.03.2008
Gericht:
Oberlandesgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
1. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
I-1 U 188/07
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das am 18. Juli 2007 verkündete
Urteil des Einzelrichters der 17. Zivilkammer des Landgerichts
Wuppertal wird zurückge-wiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens fallen den Beklagten zur Last.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
1
Die zulässige Berufung der Beklagten ist in der Sache unbegründet. Sie wenden sich
ohne Erfolg dagegen, dass das Landgericht der Klage in vollem Umfang stattgegeben
hat.
2
Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Tatsachenaufklärung ist kein Raum für die
durch die Beklagten mit ihrem Rechtsmittel geltend gemachte Reduzierung der
Anspruchsberechtigung des Klägers auf die Quote von 2/3 seiner nunmehr in der
Berufungsinstanz unstreitigen materiellen und immateriellen Unfallschäden. Entgegen
der seitens der Beklagten geäußerten Ansicht lässt sich kein schuldhaftes Fehlverhalten
des Klägers feststellen, welches sich (mit)ursächlich auf die Entstehung der
Unfallschäden ausgewirkt hat. Vielmehr trifft den Beklagten zu 1. die alleinige
Verantwortung für das Zustandekommen des Kollisionsereignisses, welches er durch
grob fahrlässige Unachtsamkeiten herbeigeführt hat. Das Ausmaß der ihm
anzulastenden Pflichtwidrigkeiten wiegt so schwer, dass demgegenüber die von dem
Motorrad des Klägers ausgegangene Betriebsgefahr bei der Abwägung aller
unfallursächlichen Umstände nicht mehr haftungsbegründend ins Gewicht fällt.
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Im Einzelnen ist Folgendes auszuführen:
4
I.
5
1) Gemäß § 529 Abs. 1 Ziff. 2 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und
Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen
zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder
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Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb
eine erneute Feststellung gebieten. Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinne ist jeder
objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen
Feststellungen. Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder
Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber
ausschließen (BGH NJW 2006, 152 mit Hinweis auf BGHZ 159, 254, 258).
Durchgreifende Zweifel sind in Bezug auf die Richtigkeit der Tatsachenfeststellungen im
angefochtenen Urteil nicht gegeben.
2) Danach steht außer Zweifel, dass der Beklagte zu 1. durch ein grob fahrlässiges
Fehlverhalten die maßgebliche Ausgangsursache für die Entstehung der Kollision
gesetzt hat. Unbegründet sind die Einwendungen der Beklagten, die darauf abzielen,
dem Kläger ein ursächliches Mitverschulden wegen einer überhöhten
Annäherungsgeschwindigkeit und/oder einer fehlerhaften Bremsreaktion anzulasten.
Zwar lässt sich eine geringfügige Überschreitung der innerorts zulässigen
Höchstgeschwindigkeit um 5 km/h durch den Kläger feststellen. Es ist jedoch nicht
ersichtlich, dass sich diese Überschreitung in schadensstiftender oder –fördernder
Weise in dem Unfallgeschehen niedergeschlagen hat. Vielmehr ist nach dem Ergebnis
der erstinstanzlichen Tatsachenaufklärung davon auszugehen, dass sich das
Unfallgeschehen in gleicher Weise und im Wesentlichen mit denselben
Schadensfolgen ereignet hätte, wenn der Kläger mit der nach den Vorgaben des § 3
StVO zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf den Kollisionsort zugefahren wäre.
7
3) Ebenso wenig kann dem Kläger die Tatsache angelastet werden, die
Gefahrenabbremsung seines Motorrades so intensiv ausgeführt zu haben, dass das
Vorderrad mit der schadensursächlichen Sturzfolge blockierte. Denn nach dem
anfänglichen Stillstand des durch den Beklagten zu 1. rückwärts gesteuerten Pkw
Daimler-Chrysler in der rechtsseitigen Garageneinfahrt des Hauses S. Nr. 81 in
Heiligenhaus, welcher bei dem Kläger den Eindruck eines verkehrsgerechten
Verhaltens seines späteren Unfallgegners entstehen ließ, setzte bei seiner weiteren
Annäherung mit dem Motorrad die Rückwärtsfahrt des Pkw so plötzlich über zwei
Fahrspuren hinweg ein, dass er sich in nicht vorwerfbarer Weise zu einer Notbremsung
veranlasst sah. Dass in dieser Gefahrensituation bei dem Bemühen des Klägers, nicht
mit dem plötzlichen Frontalhindernis zusammen zu stoßen, der Bremseinsatz mit der
Folge einer Vorderradblockade zu heftig ausfiel, begründet nicht den Vorwurf einer
fahrlässigen Unfallmitverursachung.
8
II.
9
1) Unstreitig hatte der Beklagte zu 1. die Absicht, aus einer in seinem damaligen
Wohnhaus S. 81 gelegenen Garageneinfahrt mit dem Heck seines Pkw rückwärts in die
zweispurige Einbahnstraße S. zu fahren, um sodann von der durch den Kläger
benutzten linken Fahrspur aus seine Fahrt geradeaus in östlicher Richtung fortzusetzen.
10
2) Im Zusammenhang mit diesem Fahrmanöver hatte er gleich in zweifacher Hinsicht
strengste Sorgfaltsanforderungen zu beachten: Zum Einen hatte er sich gemäß § 9 Abs.
5 StVO als Rückwärtsfahrer so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer
Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Gleiches galt im Hinblick auf die Bestimmung
des § 10 StVO. Auch danach muss derjenige Verkehrsteilnehmer, der aus einem
Grundstück auf die Fahrbahn einfahren will, sich so verhalten, dass eine Gefährdung
anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
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Von dem Rückwärts- bzw. Grundstücksausfahrer wird äußerste Sorgfalt gefordert.
12
a) Es ist möglichst weit rechts und in ständiger Bremsbereitschaft rückwärts zu fahren;
bei rückwärtigem Verkehr ist sofort anzuhalten. Der zurückstoßende Kraftfahrer muss
darauf achten, dass der Gefahrraum hinter dem Kraftfahrzeug frei ist und von hinten wie
von den Seiten her frei bleibt. Bei einer Kollision während des Zurücksetzens spricht der
Anschein schuldhafter Unfallverursachung durch einen Verstoß gegen den strenge
Sorgfaltspflicht des § 9 Abs. 5 StVO gegen den Rückwärtsfahrenden (ständige
Rechtsprechung des Senats, so auch Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 9
StVO, Rdnr. 51 und 55).
13
b) Der Grundstücksausfahrer muss sich vergewissern, dass die Fahrbahn für ihn im
Rahmen der gebotenen Sicherheitsabstände frei ist und dass er niemanden übermäßig
behindert. Die Verantwortung für die Sicherheit des Vorgangs trifft vor allem ihn.
Besonders erhöhte Sorgfaltspflichten bestehen beim Einfahren in der Dunkelheit.
Gegen den Ausfahrenden aus einem Grundstück bzw. gegen einen Rückwärtsfahrer
spricht der Anschein schuldhafter Unfallverursachung bei einer Kollision mit dem
fließenden Verkehr (ständige Rechtsprechung des Senats, zuletzt Urteil vom 11. Juni
2007, Az.: I-1 U 261/06; so auch Hentschel a.a.O., § 10 StVO, Rdnr. 11 mit weiteren
Rechtsprechungsnachweisen).
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3) Zur Feststellung eines unfallursächlichen Fehlverhaltens des Beklagten zu 1. bedarf
es indes noch nicht einmal der Heranziehung der Grundsätze über den
Anscheinsbeweis. Es ist unstreitig, dass er nicht den strengen Sorgfaltsanforderungen
der §§ 9 Abs. 5, 10 StVO gerecht geworden ist. Aus diesem Grund haben die Beklagten
schon vorprozessual ihre Einstandspflicht im Umfang von 2/3 der materiellen und
immateriellen Unfallschäden des Klägers anerkannt.
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4) Indes sieht sich der Senat im Hinblick auf das Berufungsvorbringen der Beklagten
veranlasst, das Ausmaß der Pflichtwidrigkeit des Beklagten zu 1. als Rückwärts- und
Grundstücksausfahrer zu verdeutlichen. Dieses ist so gravierend, dass der Vorwurf einer
grob fahrlässigen Unfallverursachung gerechtfertigt ist.
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a) Sowohl bei seiner Befragung durch die aufnehmenden Polizeibeamten am Unfallort
als auch bei seiner informatorischen Befragung durch das Landgericht im Termin am 4.
Oktober 2006 hat der Beklagte zu 1. angegeben, vorkollisionär "den Motorradfahrer" erst
im Rückspiegel gesehen zu haben. Bei dieser Sachlage ist davon auszugehen, dass
der Beklagte zu 1. anlässlich seiner Rückwärtsfahrt viel zu spät auf den bevorrechtigten
fließenden Verkehr der Straße Südring geachtet hat. Denn nach dem durch den
Sachverständigen N. in seinem für das Landgericht erstatteten Gutachten vom 16. April
2007 zeichnerisch rekonstruierten Bewegungsablauf der Rückwärtsfahrt konnte der
Beklagte zu 1. in seinem Pkw erst zu einem Zeitpunkt den von hinten herannahenden
Verkehr über seine Rückspiegel beobachten, als das Fahrzeug bereits eine
ausgeprägte Schrägstellung im Verhältnis zum geraden Straßenverlauf erreicht hatte
und damit die durch den Kläger benutzte linke Fahrspur vollständig versperrte. Vor der
abbiegebedingten Schrägstellung hätte der Beklagte zu 1. mit Hilfe seiner Spiegel nur
die Verkehrssituation unmittelbar hinter ihm in der Sichtachse zu der
gegenüberliegenden Häuserfront wahrnehmen können.
17
aa) Wegen dieser Zusammenhänge steht Folgendes fest: Der Beklagte zu 1. hat sich
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unter Verletzung seiner strengen Sorgfaltspflichten viel zu spät über das Herannahen
des bevorrechtigten fließenden Verkehrs vergewissert, nämlich erst zu einem Zeitpunkt,
als sein Fahrzeug am Ende des Abbiegevorganges die durch den Sachverständigen
zeichnerisch dargestellte Schrägstellung unter Inanspruchnahme der gesamten linken
Fahrspur erreicht hatte. Um in der gemäß §§ 9 Abs. 5, 10 StVO gebotenen Weise für
den Ausschluss einer Gefährdung der vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmer Sorge zu
tragen, hätte der Beklagte zu 1. hingegen sich schon unmittelbar bei dem Verlassen der
Grundstückseinfahrt über die Verkehrssituation aus der Richtung der Straße Südring
vergewissern müssen, aus welcher sich der Kläger näherte.
bb) Dabei bildete der nach der polizeilichen Unfallzeichnung und nach der
Rekonstruktionszeichnung des Sachverständigen N. am rechten Straßenrand in Höhe
des Hauses Nr. 81 abgestellt gewesene Pkw kein nennenswertes Sichthindernis. Denn
dieser Wagen nahm weniger als die Hälfte der 5,30 m breiten rechten Fahrspur ein. Wie
der Sachverständige N. in seinem für die Staatsanwaltschaft Wuppertal erstellten
Erstgutachten vom 10. Juni 2003 dargelegt hat, konnte der Beklagte zu 1. mit dem Heck
seines Pkw so weit einfahren, wie die linksseitige Front des geparkten Fahrzeuges
reichte; von dieser Position aus hatte er eine Sicht auf den sich nähernden Verkehr auf
eine Distanz zwischen 115 und 130 m (Bl. 36 Beiakte).
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b) Der Beklagte zu 1. hat sich im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren 90 Js 520/03 StA
Wuppertal unstreitig dahingehend eingelassen, es herrsche zur Unfallzeit gewöhnlich
reger Fahrzeugverkehr auf dem Südring, was ihm als Bewohner des Hauses Nr. 81
bekannt sei (Bl. 9 d.A.). Damit ist festzustellen, dass der Beklagte zu 1. nach den
örtlichen Straßen- und Verkehrsverhältnissen zu Beginn der Rückwärtsfahrt eine
Vorsichtsmaßnahme unterlassen hat, deren Einhaltung sich ihm förmlich hätte
aufdrängen müssen: Eine frühzeitige Beobachtung des sich ihm seitlich von rechts
nähernden bevorrechtigten fließenden Verkehrs. Tatsächlich hat der Beklagte zu 1. die
Verkehrssituation hinter ihm viel zu spät erst zu einem Zeitpunkt wahrgenommen, als er
diese am Ende des Abbiegevorganges über seine Rückspiegel beobachten konnte.
20
c) Nicht überzeugend ist die Darstellung des Beklagten zu 1. bei seiner informatorischen
Befragung durch das Landgericht, er habe nach der Wahrnehmung des
"Motorradfahrers" im Rückspiegel zu einem Anhalten entschlossen, "damit der rechts
vorbei fahren kann" (Bl. 117 unten d.A.). Nach der zeichnerischen Unfallrekonstruktion
des Sachverständigen in Verbindung mit seiner Zeit-Weg-Analyse hatte der Kläger zu
dem Zeitpunkt, als der Beklagte zu 1. in der Rückwärtsfahrt die durch ihn, den Kläger,
benutzte 3,2 m breite linke Fahrspur erreichte, bereits eine Ausweichbewegung nach
links in Verbindung mit einer Vollbremsung eingeleitet, die – nicht zuletzt wegen des
anschließenden Sturzes – jede Ausweichbewegung nach rechts unmöglich machte.
Das durch den Sachverständigen rekonstruierte Lenkverhalten des Klägers ist typisch
für das intuitive Lenkverhalten eines Fahrzeugführers bei einer plötzlichen Begegnung
mit rechtsseitigem Annäherungsverkehr: Der Fahrer ist bemüht, durch eine reflexartige
Ausweichbewegung nach links sein Fahrzeug von der rechtsseitigen Gefahrensituation
wegzulenken.
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d) Im Zusammenhang mit dem pflichtwidrigen Verhalten des Beklagten zu 1. ist
schließlich auch die schon durch das Landgericht aufgezeigte Tatsache zu
berücksichtigen, dass der Beklagte zu 1. trotz des rechtsseitig am Straßenrand in Höhe
des Hauses Nr. 81 abgestellt gewesenen Wagens fahrtechnisch gar nicht darauf
angewiesen war, die Rückwärtsbewegung in einem weiten Bogen bis hin zu der durch
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den Kläger benutzten linken Fahrspur auszugestalten. Der Sachverständige N. hat
wiederholt – zuletzt in seinem Gutachten vom 16. April 2007 – dargelegt, dass der
Beklagte zu 1. raumsparend sofort nach Verlassen der Grundstückseinfahrt seine
Lenkung nach rechts hätte einschlagen können mit der Folge, dass er dann etwa mittig
innerhalb der rechten, 5,30 m breiten Spur einen 90 Grad-Bogen hätte ausfahren
können; von dort aus hätte er dann seine Weiterfahrt in Geradeausrichtung aufnehmen
können (S. 12 des Gutachtens).
III.
23
1) Die Beklagten machen ohne Erfolg geltend, der Kläger habe schon frühzeitig damit
gerechnet, dass der Beklagte zu 1. aus der Garageneinfahrt zurücksetzen werde, und er
sei deshalb gehalten gewesen, zur Vermeidung einer Sturz- und Verletzungsgefahr ein
Bremsmanöver einzuleiten (Bl. 206 d.A.). Im Hinblick auf den zu Gunsten des
vorfahrtberechtigten Klägers eingreifenden Grundsatzes des Vertrauens auf ein
verkehrsgerechtes Verhalten wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer war der Kläger nicht
gehalten, schon frühzeitig seine Fahrtgeschwindigkeit auf ein Tempo zu reduzieren,
welches eine räumliche Vermeidbarkeit der Kollision durch eine Vollbremsung
ermöglicht hätte. Es lässt sich nicht feststellen, dass die Rückwärtsbewegung des
Beklagten zu 1. für den Kläger von vornherein als konkrete Gefahrensituation wegen
einer drohenden Überschneidung der Fahrlinien erkennbar war.
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a) Der Darstellung des Klägers zufolge ist der Beklagte zu 1. nicht in einem Zug von der
rechtsseitigen Garageneinfahrt rückwärts auf die linke Fahrspur vorgedrungen. Vielmehr
stand dessen Pkw Daimler Chrysler bei der ersten Wahrnehmung durch den Kläger
noch in der Garageneinfahrt, ehe er dann bei der weiteren Annäherung des
klägerischen Motorrades plötzlich ruckartig bis zum linken Fahrstreifen weiterbewegt
wurde (Bl. 3, 104 d.A.). Diese Ausführung haben sich die Beklagten bereits
erstinstanzlich zu Eigen gemacht und daraus die – sachlich unzutreffende –
Schlussfolgerung gezogen, der Kläger habe "in jedem Fall damit rechnen müssen, dass
der Beklagte zu 1. aus dem Grundstück auf die Fahrbahn fährt" (Bl. 92 unten d.A.). Auch
in der Berufungsinstanz ist unstreitig, dass der Kläger den Pkw des Beklagten zu 1.
erstmals gesehen hat, als dieser noch in der Garageneinfahrt stand (Bl. 206, 221 d.A.).
Bereits gegenüber den aufnehmenden Polizeibeamten hatte der Kläger angegeben, der
Pkw seines Unfallgegners sei sodann "sehr zügig" rückwärts herausgefahren.
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b) Stimmig dazu ist die Darstellung des Sachverständigen N. in seinem Gutachten vom
16. April 2007, die ausweislich der Bremsspur erfolgte Überbremsung des Motorrades
deute darauf hin, dass der Kläger – zu ergänzen ist: durch die sehr zügige
Rückwärtsfahrt – überrascht wurde und sodann spontan und zu heftig reagierte; dies sei
in der Geschehensabfolge auch nachvollziehbar, da der Beklagte zu 1. keine
Veranlassung zu einer Einfahrt auf die linke Fahrspur gehabt habe (S. 12 des
Gutachten).
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c) Nach Lage der Dinge ist somit davon auszugehen, dass der Kläger in der ersten
Phase seiner Annäherung an den Unfallort den Pkw des Beklagten zu 1. in einer
Standposition wahrgenommen hat. Dazu dem trotz der zum Unfallzeitpunkt
herrschenden Dunkelheit das Motorrad des bevorrechtigten Klägers wegen des
Fahrlichts den Darlegungen des Sachverständigen gemäß für den Beklagten zu 1. bei
gerader Streckenführung auf eine Distanz von mindestens 115 m erkennbar war, greift
zu Gunsten des Klägers der Vertrauensgrundsatz ein. Nach diesem darf sich ein
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Fahrzeugführer grundsätzlich auf ein verkehrsgerechtes Verhalten der anderen
Verkehrsteilnehmer verlassen. Insbesondere muss er sich nicht auf grobe
Verkehrsverstöße einstellen (Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 4. Aufl., § 14,
Rdnr. 12 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen).
2)
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Dem steht nicht entgegen, dass sich der Kläger der Unfallstelle entsprechend der
Feststellung im angefochtenen Urteil mit einer etwas überhöhten Geschwindigkeit
genähert hat. Diese kann nach der durch den Sachverständigen N. in seinem für die
Staatsanwaltschaft Wuppertal unter dem Datum des 10. Juni 2003 erstellten Gutachten
mit der darin angegebenen Berechnungsbandbreite zwischen 55 und 62 km/h zu Lasten
des Klägers sicher nur mit dem erstgenannten unteren Wert in Ansatz gebracht werden.
29
a) Zum Einen ist zu berücksichtigen, dass ein wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer im
innerstädtischen Verkehr immer mit einer gewissen Überschreitung der innerorts
zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h zu rechnen hat.
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b) Darüber hinaus hält sich die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in
engen Grenzen. Der Kläger befuhr eine insgesamt 8,50 m breite Einbahnstraße mit zwei
Fahrspuren, die wegen des geraden Streckenverlaufs aus seiner Annäherungsrichtung
für den Beklagten zu 1. auf weit mehr als 100 m einsehbar war. Zwar herrschte zum
Unfallzeitpunkt Dunkelheit. Da an dem Motorrad des Klägers jedoch unstreitig das
Fahrlicht eingeschaltet war, steht nach den gutachterlichen Ausführungen des
Sachverständigen N. die wechselseitige frühzeitige Wahrnehmbarkeit der späteren
Unfallgegner untereinander außer Zweifel.
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c) In diesem Zusammenhang verfängt nicht der Einwand der Beklagten, eine zum
Unfallzeitpunkt bestehende Feuchtigkeit habe die mit der Annäherung des Motorrades
des Klägers verbunden gewesene Betriebsgefahr deutlich erhöht (Bl. 205 d.A.). Zwar
hat der Kläger bei seiner informatorischen Befragung durch das Landgericht
angegeben, es sei "kalt und feucht" gewesen (Bl. 117 d.A.). In der polizeilichen
Verkehrsunfallanzeige ist aber der Straßenzustand als "trocken" ohne irgendwelche
Gefahrenstellen beschrieben. Die in der beigezogenen Ermittlungsakte befindlichen
Lichtbilder geben die örtliche Straßen- und Verkehrssituation wieder. Das Vorbringen
der Parteien enthält keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass sich der Kläger im
Rahmen eines nennenswerten Verkehrsaufkommens der Unfallstelle genähert hat.
Nach dem unstreitigen Sachverhalt in Verbindung mit dem Inhalt der beigezogenen
Ermittlungsakte 90 Js 520/03 StA Wuppertal ist vielmehr davon auszugehen, dass sich
nur der Kläger und der Beklagte zu 1. auf der Straße S. im Bereich der Unfallstelle als
Verkehrsteilnehmer um 6.45 Uhr morgens befanden.
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d) Bei dieser Ausgangssituation kann die feststellbare Annäherungsgeschwindigkeit
des Klägers von 55 km/h diesem nicht von vornherein als unfallursächliche
Pflichtwidrigkeit angelastet werden. Dies gilt insbesondere – wie noch darzulegen sein
wird – im Hinblick auf die Tatsache, dass nach den Ausführungen des
Sachverständigen N. in seinem Gutachten vom 16. April 2007 der Kläger selbst bei
einer deutlich geringeren Annäherungsgeschwindigkeit, von z.B. 40 km/h, genauso in
schadensursächlicher Weise infolge der heftigen Gefahrenbremsung als Reaktion auf
die plötzliche Rückwärtsfahrt des Beklagten zu 1. hätte stürzen können wie bei dem
feststellbaren Annäherungstempo von 55 km/h.
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3) Die Beklagten berufen sich ohne Erfolg darauf, die vorkollisionäre Geschwindigkeit
des Klägers habe tatsächlich über dem Wert von 55 km/h gelegen, weil dieser bei seiner
informatorischen Befragung angegeben habe, bereits auf den Anblick des stehenden
Pkw Daimler-Chrysler das "Gas weggenommen" und sich habe "rollen lassen" (Bl. 117
d.A.).
34
a) Für die Unfallanalyse ist nicht entscheidend, welche Geschwindigkeit ein
vorfahrtberechtigter Verkehrsteilnehmer auf seinem gesamten Annäherungsweg an die
spätere Unfallstelle in bestimmten Einzelphasen jeweils hatte. Maßgeblich ist vielmehr
sein Ausgangstempo in dem Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung im Zusammenhang
mit der Wahrnehmbarkeit des ersten vorkollisionären Gefahrensignals. Für den hier
maßgeblichen Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung, nämlich der Beobachtung der
plötzlichen, "sehr zügigen" Rückwärtsfahrt des Beklagten zu 1. in die durch ihn, den
Kläger, benutzte linke Fahrspur lässt sich indes sicher nur eine
Ausgangsgeschwindigkeit des Motorrades von 55 km/h ermitteln.
35
b) Die Unfallschilderung des Klägers lässt darauf schließen, dass er vorkollisionär den –
noch stehenden – Pkw des zur Rückwärtsfahrt bereiten Beklagten zu 1. zunächst als ein
nur abstraktes Gefahrenmoment wahrgenommen hat, welches ihn veranlasste,
vorsorglich "das Gas wegzunehmen" und "rollen zu lassen". Zunächst deutete jedoch
nichts auf die Einleitung einer plötzlichen Rückwärtsbewegung des Beklagten zu 1. weit
in den Straßenraum hinein hin. Der Kläger konnte wegen der – trotz der Dunkelheit –
guten Sichtverhältnisse von der Annahme ausgehen, der Beklagte zu 1. habe seine
Annäherung als bevorrechtigter Verkehrsteilnehmer bemerkt. Deshalb war er wegen
des zu seinen Gunsten eingreifenden Vertrauensgrundsatzes entgegen der Ansicht der
Beklagten nicht gehalten, als weitere Vorsichtsmaßnahme sein Motorrad deutlich
abzubremsen.
36
4) Zwar trifft es zu, dass nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen
N. der Kläger bei einer richtigen Abbremsung mit starker Betätigung der
Hinterradbremse und anteiliger Beteiligung der Vorderradbremse und einer damit
problemlos zu erzielenden Verzögerung von 4 m/sec² selbst noch bei einer
Ausgangsgeschwindigkeit von 52 km/h den Zusammenstoß räumlich hätte vermeiden
können. Statt dessen hat der Kläger, wie sich aus der am Unfallort vorgefundenen 12 m
langen Radierspur ergibt, nach der Einschätzung des Sachverständigen eine zu heftige
Bremsreaktion unter maßgeblicher Beteiligung der Vorderradbremse eingeleitet, die
dann zu einem Blockieren des Vorderrades mit Sturzfolge führte. Indes reichen auch
diese Ausführungen nicht für die Annahme eines dem Kläger vorwerfbaren
vorkollisionären unfallursächlichen Fehlverhaltens.
37
a) Einerseits ist Folgendes zu berücksichtigen: Wie bereits ausgeführt, hatte der
Beklagte zu 1. im Bereich der Garageneinfahrt des Hauses S. Nr. 81 zunächst eine
Standposition eingenommen, ehe er sodann bei der weiteren Annäherung des Klägers
für diesen überraschend "sehr zügig" die Rückwärtsfahrt unter vollständiger
Inanspruchnahme der linken Fahrspur aufnahm. Dies führte dann nach der
Schlussfolgerung des Sachverständigen in seinem Gutachten vom 16. April 2007 zu
einer spontanen und zu heftig eingeleiteten Bremsreaktion des Klägers (S. 12 des
Gutachtens). Der Zeit-Weg-Analyse des Sachverständigen zufolge liegt zwischen dem
Punkt der Reaktionsaufforderung ("Reaktionspunkt R" der Zeichnung) und dem
Kollisionsort eine Wegstrecke von 38 m. In anderen Worten: Erst in einer Entfernung von
38
weniger als 40 m vor der Unfallstelle erkannte der Kläger die Notwendigkeit der
Einleitung einer sofortigen Vollbremsung. Den weiteren Darlegungen im Gutachten des
Sachverständigen vom 16. April 2007 gemäß lag die Wegstrecke für die Vermeidbarkeit
des Unfalls bei ca. 37 m mit der Konsequenz, dass der Kläger die Kollision noch gerade
räumlich hätte vermeiden können, wenn er sich mit 52 km/h unter Zugrundelegung einer
– moderaten – mittleren Bremsverzögerung von 4 m/sec² angenähert hätte (S. 10 des
Gutachtens). Erst recht gilt diese Vermeidbarkeitsbetrachtung für die Annahme eines
Annäherungstempos von 50 km/h, was der Sachverständige zu Ziff. 3.2 der
Zusammenfassung seines Gutachtens unter Zugrundelegung einer – wegen der
trockenen Fahrbahnoberfläche zu geringen – Verzögerung von 3,6 m/sec² noch einmal
exemplarisch dargelegt hat (S. 11 des Gutachtens).
b) Die Vermeidbarkeitsbetrachtungen des Sachverständigen beruhen andererseits
sämtlich auf der Prämisse der üblicherweise in Ansatz zu bringenden Reaktionsdauer
von 0,8 Sekunden (S. 10 des Gutachtens vom 16. April 2007). Klarstellend hat der
Sachverständige in diesem Zusammenhang ausgeführt, seine Betrachtungen bezögen
sich auf die Vorhersehbarkeit des Gefahrenereignisses mit der Möglichkeit des Klägers,
sich darauf rechtzeitig durch eine Bremsbereitschaft einzustellen (S. 12 des
Gutachtens). Eine solche Annahme kann aber der rechtlichen Bewertung des
Geschehens nicht zugrunde gelegt werden.
39
aa) Wie bereits ausgeführt, war zu Gunsten des Klägers der Vertrauensgrundsatz
einschlägig. Er durfte demnach als Vorfahrtberechtigter erwarten, dass bei der
Wahrnehmbarkeit seiner Annäherung auf einer Distanz von mehr als 100 m der
Beklagte zu 1. als Wartepflichtiger in seiner Standposition im Bereich der
Grundstückseinfahrt verblieb, um die Vorbeifahrt des Motorrades abzuwarten. Statt
dessen hat der Beklagte zu 1. mit seinem Pkw Daimler-Chrysler plötzlich "sehr zügig"
zurückgesetzt. Die sodann durch das Motorrad gezeichnete 12 m lange Radierspur
zeugt davon, wie überraschend die Rückwärtsfahrt des wartepflichtigen Beklagten zu 1.
für ihn kam. Nach der Darlegung des Sachverständigen weist das Überbremsen des
Motorrades darauf hin, dass der Kläger überrascht wurde (Seite 12 des Gutachtens).
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bb) Die Tatsache, dass der Kläger sein Motorrad nicht situationsgerecht unter
vorrangigem Einsatz der Hinterradbremse, sondern unter überwiegender
Inanspruchnahme der Vorderradbremse mit Blockier- und Sturzfolge durchführte,
rechtfertigt entgegen der seitens der Beklagten vertretenen Ansicht nicht den Vorwurf
eines mitwirkenden Verschuldens im Sinne des § 254 BGB. Nach ständiger
Rechtsprechung ist das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers – hier in Form
einer nicht sachgerechten Bremsreaktion – dann kein Verschulden, wenn er in einer
ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine
Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte
unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv
falsch reagiert (BGH DAR 1976, 185 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen; so
auch Senat NZV 2006, 415, 416; und auch Urteil vom 18. Juni 2007, Az.: 1 U 278/06).
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cc) Überdies kann wegen der Plötzlichkeit der aufgetretenen Gefahrenlage für die
Vermeidbarkeitsbetrachtung nicht von der üblichen Reaktionsdauer von 0,8 Sekunden
ausgegangen werden. Bei unerwartet auftretenden Ereignissen ist auch im Rahmen der
Anforderungen des § 17 Abs. 3 StVG dem Fahrer eine Schreckzeit zuzubilligen, sofern
ihm daraus, dass ihn das Ereignis unerwartet trifft, kein Vorwurf zu machen ist (Greger,
a.a.O., § 3, Rdnr. 377 mit Hinweis auf BGH VersR 1969, 162 sowie BGH VRS 23, 375
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und weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Die Dauer der zuzugestehenden
Schreckzeit hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. In der Regel wird es sich um
Bruchteile einer Sekunde handeln; die vielfach gebräuchliche Bezeichnung
"Schrecksekunde" ist demnach irreführend (Greger a.a.O.).
dd) Selbst wenn man die Schreckzeit mit einer geringfügigen Verlängerung der üblichen
Reaktionsdauer (0,8 Sekunden) um nur 0,2 Sekunden berücksichtigte, hätte der Kläger
mit seinem Motorrad für das durch den Sachverständigen beschriebene "Durcheilen der
Reaktionszeit" (S. 11 des Gutachtens vom 16. April 2007) nicht die im Gutachten
beschriebene Strecke von 11 m (38 m – 27 m) gebraucht, sondern eine solche von
knapp 14 m (genau: 13,89 m). Die zwischen dem Punkt der Reaktionsaufforderung und
dem Kollisionsort nach Abzug der Reaktionsstrecke verbliebene Schwell- und
Vollbremsstrecke hätte sich somit nicht, wie durch den Sachverständigen für eine
Ausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h angenommen, nur auf 27 m reduziert (38 m – 11
m), sondern auf eine Schlussentfernung von etwa 24 m (38 m – 14 m). Da der Kläger auf
seinem Motorrad aber bei einer verlängerten Reaktionsdauer von 1,0 Sekunden, einer
Ausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h und einer mittleren Verzögerung von 4,0 m/sec²
eine Schwell- und Vollbremsstrecke von knapp 25,5 m benötigt hätte, hätte er wegen
der ihm verbliebenen Restdistanz von nur 24 m den Zusammenstoß mit dem Pkw des
Beklagten zu 1. räumlich nicht mehr vermeiden können. Mit anderen Worten: Selbst eine
nur geringfügige Verlängerung der üblichen Reaktionsdauer um nur 0,2 Sekunden hätte
auf der dem Kläger verbliebenen Distanz von 38 m zwischen dem Punkt der
Reaktionsaufforderung und dem Unfallort zu einer Unvermeidbarkeit des
Unfallgeschehens geführt, ohne dass daraus zu Lasten des Klägers ein
Fahrlässigkeitsvorwurf abgeleitet werden kann.
43
ee) Noch deutlicher werden die Zusammenhänge, wenn man von einer schreckbedingt
um 0,4 Sekunden verlängerten Reaktionsdauer ausgeht. Dann entfiele auf die
Reaktionsstrecke ein Anteil von 16,67 m, so dass die bezeichnete Ausgangsdistanz von
38 m auf eine Entfernung von 21,33 m schrumpft. Da bei einem Ausgangstempo von 50
km/h und einer mittleren Verzögerung von 4,0 m/sec² die bis zum vollständigen
Stillstand erforderliche Schwell- und Vollbremsstrecke unverändert knapp 25,5 m
beträgt, wird die räumliche Unvermeidbarkeit der Kollision für den schreckbedingt in
seiner Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt gewesenen Kläger um so offenkundiger. Zu den
obigen Vergleichsberechnungen sieht sich der Senat in seiner Eigenschaft als
Fachsenat für Verkehrsunfallsachen unter Zuhilfenahme eines gängigen Anhalteweg-
Berechnungsprogramms in der Lage.
44
5) Im Ergebnis bedarf es keiner Festlegung des Senats zu der Tatsachenfrage, ob in
Übereinstimmung mit den Ausführungen des Sachverständigen die
Vermeidbarkeitsgeschwindigkeit zulässigerweise mit 50 km/h in Ansatz zu bringen ist,
oder ob wegen der zum Unfallzeitpunkt herrschenden Dunkelheit der Kläger unter
Berücksichtigung der Vorgaben des § 3 StVO sich mit einem niedrigeren
Ausgangstempo der späteren Kollisionsstelle hätte nähern müssen.
45
a) Denn ursächlich für den Eintritt der gravierenden Personen- und Sachschäden des
Klägers war sein Sturz von dem Motorrad, der wiederum eine Folge der durch ihn
spontan und zu heftig ausgeführten Bremsreaktion mit dem Vorderrad war. Da der
Kläger schreckbedingt wegen der plötzlichen Rückwärtsfahrt des Beklagten zu 1. in
seiner Reaktionsmöglichkeit beeinträchtigt war, gereicht ihm – wie bereits ausgeführt –
die nicht situationsgerechte Abbremsung seines Motorrades nicht zum Vorwurf im Sinne
46
der Feststellung eines anspruchsmindernden Mitverschuldens.
b) Von entscheidender Bedeutung ist, dass der Sachverständige in seiner
zusammenfassenden Darlegung am Ende seines Gutachtens vom 16. April 2007
überzeugend ausgeführt hat, dass der Sturz des Klägers infolge des wegen einer zu
heftigen Bremsreaktion blockierenden Vorderrades oberhalb einer Mindestgrenze von
20 km/h nicht an eine bestimmte Ausgangsgeschwindigkeit gebunden ist. Selbst wenn
sich der Kläger also nur mit einem Ausgangstempo von 35,40 oder 45 km/h der späteren
Unfallstelle genähert hätte, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach die durch die
Schreckreaktion bedingt gewesene Überbremsung des Vorderrades mit Sturzfolge
ebenso gegeben gewesen wie bei der tatsächlichen in Ansatz zu bringenden
Annäherungsgeschwindigkeit von 55 km/h. Bei einem Tempo von mehr als 20 km/h ist
nach der Schlussdarlegung des Sachverständigen ein blockierendes Vorderrad nicht
mehr abzufangen.
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6) Im Ergebnis lässt sich auch nicht feststellen, dass die geringfügige Überschreitung
der zulässigen Höchstgeschwindigkeit am Unfallort durch den Kläger zu einer
quantifizierbaren Vergrößerung seiner unfallbedingten Schäden geführt hat, wenn man
diese mit den Schadensfolgen vergleicht, die er hypothetisch bei Einhaltung der
zulässigen Höchstgeschwindigkeit erlitten hätte.
48
a) In der Berufungsinstanz sind die durch das Unfallereignis eingetretenen
immateriellen und materiellen Beeinträchtigungen des Klägers unstreitig. Im
Vordergrund stehen dabei das ihm durch das Landgericht zuerkannte Schmerzensgeld
von 15.000,-- €, der Fahrzeugschaden von knapp 2.400,-- € sowie ein
verletzungsbedingter Verdienstausfallschaden von knapp 1.400,-- €.
49
b) Zu berücksichtigen ist, dass die materiellen und immateriellen Schäden des Klägers
im Wesentlichen nicht dadurch entstanden sind, dass er und sein Motorrad gegen den
stehenden Pkw des Beklagten zu 1. geprallt sind. Vielmehr ist der Kläger unstreitig nach
der eingeleiteten Vollbremsung von seinem Motorrad gestürzt, wobei er seiner
glaubhaften Darstellung bei seiner informatorischen Anhörung gemäß noch hinter dem
Fahrzeug des Beklagten zu 1. liegen kam (Bl. 117 d.A.). Es fand sodann – wie im
Sachbericht des angefochtenen Urteils zutreffend dargestellt – eine Berührung der
Fahrzeuge statt, indem das Motorrad in das Heck des Pkw des Beklagten zu 1. rutschte
(Bl. 2 UA; Bl. 161 d.A.). Nach den Erkenntnissen des Sachverständigen N. geschah der
Aufprall des Motorrades mit einer Restgeschwindigkeit von nur etwa 10 km/h (S. 8 des
Gutachtens vom 16. April 2007).
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c) Nach Lage der Dinge ist deshalb davon auszugehen, dass die gravierende
Verletzung des linken Kniegelenks des Klägers mit Schienbeinkopf-, Meniskus- sowie
Kreuzbandruptur bereits durch den sturzbedingten Aufprall auf die Straßenoberfläche
entstanden sind. Auch die an seinem Motorrad eingetretenen Sachschäden stehen im
Zusammenhang mit der Rutschspur, die das Fahrzeug nach dem Umkippen ausweislich
der polizeilichen Verkehrsunfallzeichnung auf der Straßenoberfläche hinerlassen hat.
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d) Da nun aber der durch die Überbremsung des Vorderrades eingetretene Sturz des
Klägers als Folge der durch die falsche Fahrweise des Beklagten zu 1. eingeleiteten
Gefahrenbremsung sich ebenso mit vergleichbaren Verletzungs- und Schadensfolgen
hätte einstellen können, wenn sich der Kläger der späteren Unfallstelle mit einem
Ausgangstempo zwischen 40 und 50 km/h genähert hätte, fällt die geringfügige
52
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit im Rahmen der
haftungsbegründenden und –ausfüllenden Kausalitätsbetrachtung nicht ins Gewicht.
IV
.
53
Bei der Abwägung aller unfallursächlichen Umstände gemäß § 17 StVG sind zu Lasten
einer Partei nur solche Tatsachen zu berücksichtigen, auf welche sie sich entweder
selbst beruft, die unstreitig oder erwiesen sind. Mangels eines feststellbaren
unfallursächlichen Fehlverhaltens des Klägers als vorfahrtberechtigter Motorradfahrer
kann zu seinen Lasten nur die von seinem Fahrzeug ausgegangene Betriebsgefahr
berücksichtigt werden. Dem gegenüber steht das aus mehreren Gründen fahrlässige
vorkollisionäre Fehlverhalten des Beklagten zu 1. als Grundstücksaus- und
Rückwärtsfahrer, der gleich in doppelter Hinsicht (§§ 9 Abs. 5, 10 StVO) den durch ihn
einzuhaltenden strengen Sorgfaltsanforderungen nicht gerecht geworden ist. Kommt es
zu einer Kollision zwischen dem Fahrzeug eines Verkehrsteilnehmers, welcher bei
einer Rückwärtsfahrt oder bei dem Verlassen eines Grundstücks mit einem Fahrzeug
aus dem fließenden Verkehr zusammen stößt, so ist der Fahrer nach der ständigen
Rechtsprechung des Senats in der Regel voll für die dadurch verursachten Schäden
ersatzpflichtig. Nichts anderes gilt für den vorliegenden Fall. Die von dem Motorrad
ausgegangene Betriebsgefahr, die wegen der geringen
Geschwindigkeitsüberschreitung auch nur geringfügig gesteigert war, fällt nicht mehr in
einer eine Eigenhaftung des Klägers begründenden Weise ins Gewicht.
54
V.
55
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
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Die Anordnung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hat ihre Grundlage in §§
708 Nr. 10, 713 ZPO.
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Der Gegenstandswert für den Berufungsrechtszug beträgt 8.807,48 € (7.140,82 € +
1.666,66 € - 1/3 von 5.000,-- €).
58
Zur Zulassung der Revision besteht kein Anlass, weil die Voraussetzungen des § 543
Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind.
59
Dr. E. K. E.
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