Urteil des OLG Dresden vom 02.04.2017
OLG Dresden: öffentliche sicherheit, widerklage, kreuzung, betriebsgefahr, führer, feststellungsklage, rechtspflicht, anerkennung, geschwindigkeit, verkehrsunfall
zu 12 U 2428/00
Leitsatz:
Im Haftpflichtprozess ist zulasten des Halters des Einsatzwagens zu
berücksichtigen, dass der Einsatz des Sondersignals nicht zulässig war.
§§ 7, 17 StVG, 38 Abs. 1 StVO
Sachverhalt:
Der Kläger begehrt Schadenersatz aus einem Verkehrsunfall.
Er befuhr eine vierspurige Ausfallstrasse in C. Vor einer Ampelkreuzung hatte sich
in der Linksabbiegerspur ein Rückstau gebildet, an dem er bei "grün" mit
unverminderter Geschwindigkeit rechts vorbeifuhr, um die Kreuzung in gerader
Richtung zu überqueren. Dabei kam es zur Kollision mit dem von links bei "rot" mit
ca. 20 - 30 km/h in die Kreuzung einfahrenden Einsatzfahrzeug des Beklagten.
Blaulicht und Einsatzhorn waren eingeschaltet. Die Fahrt diente der Beförderung
einer Zeugin zur Vernehmung durch den Ermittlungsrichter. Der Beklagte hat die
vom Kläger geltend gemachten Schäden ohne Anerkennung einer Rechtspflicht
teils zu 50%, teils voll reguliert, eigene Schäden hat er vorgerichtlich nicht geltend
gemacht.
Der Kläger hat behauptet, er habe das Einsatzhorn nicht gehört, und Ersatz seines
restlichen Schadens sowie Feststellung begehrt, dass die geleisteten Zahlungen
nicht zurückgefordert werden können. Der Beklagte hat widerklagend Ersatz seines
hälftigen Schadens begehrt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und die Widerklage zugesprochen, weil
der Kläger (sogar) zu 100% hafte. In der Berufung hat der Kläger den
Feststellungsantrag für erledigt erklärt.
Oberlandesgericht Dresden
Aktenzeichen: 12 U 2428/00
9 O 1119/00 LG Chemnitz
Verkündet am 20. Dezember 2000
Die Urkundsbeamtin:
Justizsekretärin
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Rechtsstreit
1.
- Kläger, Widerbeklagter und Berufungskläger -
2.
- Widerbeklagte und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte
gegen
Beklagter, Widerkläger und Berufungsbeklagter
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte
wegen Schadensersatzes aus Verkehrsunfall
hat der 12. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden aufgrund der mündlichen
Verhandlung vom 6. Dezember 2000 durch
Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht
Richterin am Amtsgericht und
Richter am Oberlandesgericht
für Recht erkannt:
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom
17. August 2000 abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.052,50 DM zuzüglich 4 % Zinsen
hieraus seit dem 25. November 1999 zu bezahlen.
Die Widerbeklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den
Widerkläger 2.000 DM zuzüglich 4 % Zinsen hieraus seit dem 19. April 2000 zu
bezahlen.
Im Übrigen werden Klage und Widerklage abgewiesen.
2. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
3. Von den Gerichtskosten beider Instanzen tragen der Kläger alleine 4/8, der
Kläger und die Widerbeklagte zu 2. als Gesamtschuldner weitere 2/8 und der
Beklagte 2/8.
Von den aussergerichtlichen Kosten des Klägers trägt der Beklagte 2/8.
Von den aussergerichtlichen Kosten des Beklagten trägt der Kläger alleine
3/8, der Kläger und die Widerbeklagte zu 2 als Gesamtschuldner weitere 2/8.
Von den aussergerichtlichen Kosten der Widerbeklagten trägt der Widerkläger
1/3.
Weitere aussergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
5. Die Beschwer sämtlicher Parteien liegt unter 60.000 DM.
Entscheidungsgründe:
Die nach den Feststellungen in der mündlichen Verhandlung zulässige Berufung
hat teilweise Erfolg.
Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Schadensersatz nach
§§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 StVG; der Beklagte hat gegen die Widerbeklagten einen
Anspruch aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 18 StVG, § 3 Nr. 1 und 2 PflVG. Die
Verteilung der im Wesentlichen unstreitigen Schäden der Parteien folgt einer
Haftungsquote von 1/3 zu 2/3. Die Feststellungsklage ist unzulässig, im übrigen
sind die Klage und die Widerklage teilweise begründet.
Die Feststellungsklage ist unzulässig, weil kein Feststellungsinteresse besteht.
Der Beklagte hat die Zahlungen zwar ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, aber
nicht unter dem Vorbehalt der Rückforderung geleistet. Er hat sich eines
Rückforderungsanspruches auch nicht berühmt. Damit ist der Kläger durch § 814
BGB hinreichend geschützt, er hat kein Feststellungsinteresse im Sinne von § 256
Abs. 1 ZPO. Die Feststellung der Erledigung ist damit nicht möglich.
Die Klage ist in Höhe von 1.052,50 DM begründet.
1. Die Gefährdungshaftung des Beklagten als Halter des Polizeifahrzeuges nach
§ 7 Abs. 1 StVG erhöht sich um die dem Beklagten zuzurechnenden Verstöße
des Fahrzeugführers gegen § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 und § 38 Abs. 1 StVO.
Dem Führer des Fahrzeuges des Beklagten ist zum einen anzulasten, dass er
sich trotz der für ihn auf rot stehenden Lichtzeichenanlage nicht mit einer
angemessenen, notfalls nur mit Schrittgeschwindigkeit in die Kreuzung
getastet hat. Mit einer zugunsten des Beklagten unterstellten Geschwindigkeit
20 km/h war es dem Fahrer bei Einfahrt in die Kreuzung offensichtlich nicht
möglich, sich vor der Durchfahrt davon zu überzeugen, dass die an sich
vorfahrtsberechtigten Fahrzeuge in der durch wartende Linksabbieger
verdeckten Geradeausspur sein Sonderrecht erkennen und ihm die Durchfahrt
ermöglichen.
In die nach § 17 StVG vorzunehmende Gesamtwürdigung ist des Weiteren
einzubeziehen, dass der Fahrer des Fahrzeugs des Beklagten das
Sondersignal ohne einen hierfür nach § 38 Abs. 1 StVO ausreichenden Grund
eingeschaltet hatte. Der Transport einer Zeugin zum ermittlungsrichterlichen
Vernehmungstermin erfüllt keine der Varianten des § 38 Abs. 1 Satz 1,
insbesondere ist eine Verspätung auf der
ermittlungsrichterlichen
Zeugenvernehmung keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung.
Zwar gilt das Gebot des § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO unabhängig vom Vorliegen
der Voraussetzungen für den Einsatz des Sondersignals (KG, VM 1982, 37;
Jagusch-Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 33. A., § 38 StVO Rn. 11). Das
spricht jedoch nicht dagegen, die missbräuchliche Verwendung des
Sondersignals im Haftpflichtprozess zu berücksichtigen. Von einem mit
Sondersignal geführten Kraftfahrzeug geht zunächst eine erhöhte
Betriebsgefahr als von jedem vergleichbaren, ohne Inanspruchnahme des
Sonderrechts geführten Kraftfahrzeug. Hinzu tritt, dass der Führer des
Fahrzeugs der Beklagten nicht nur unter dem Gesichtspunkt des §§ 38 Abs. 1
Satz 1, 49 Abs. 3 Nr. 3 StVO verpflichtet ist, das Sondersignal nur bei
Vorliegen seiner Voraussetzungen zu betätigen, sondern ihn auch eine
gleichlautende Amtspflicht tritt. Die Inanspruchnahme des Sondersignals führt
nämlich zumindest zu einer Behinderung und abstrakten Gefährdung anderer
Verkehrsteilnehmer, die sich für diese als ein Sonderopfer darstellt. Ein
solches ist diesen jedoch nur bei Vorliegen eines hierzu ausreichenden
Grundes zuzumuten.
Aus dem Vorgesagten ergibt sich, dass der Unfall für die Beklagtenseite auch
nicht unvermeidbar im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG ist.
2. Der erhöhten Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Beklagten steht allerdings die
Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs gegenüber. Auch diese entfällt
nicht nach § 7 Abs. 2 StVG, weil ein bei der Beurteilung der Unabwendbarkeit
zugrunde zu legender "Idealfahrer" das Sondersignal des beklagten
Fahrzeuges zumindest gehört hätte. Der Senat geht davon aus, dass ein
Einsatzhorn im städtischen Verkehr grundsätzlich hörbar ist. Wenn der Kläger
das Einsatzhorn nicht gehört hat, so liegt dies entweder an Umständen, die
bei einem Idealfahrer nicht vorliegen, beispielsweise Ablenkung,
Einschränkung der Hörfähigkeit oder überlaute Nebengeräuschen, oder an
konreten, die Vermeidbarkeit aussließenden Ausnahmesituationen wie
beispielsweise überraschender Baustellen- oder Flugzeuglärm, die
vorzutragen im Rahmen des § 7 Abs. 2 StVG dem Kläger obliegt. Solche
Umstände sind jedoch vorliegend nicht ersichtlich.
3. Nach der nach § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmenden Gesamtwürdigung ist die
Haftungsquote der Klägerseite mit 1/3 und die des Beklagten mit 2/3 zu
bewerten (zu Quoten bei Missbrauch des Sondersignals vgl. Grüneberg,
Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 6.A., Rn. 80).
4. Schlüssig und nach der detaillierten Darstellung in der Replik unwidersprochen
hat der Kläger Abschleppkosten, Gutachterkosten, Fahrzeugschaden,
Mietwagenkosten und Unkostenpauschale in Höhe von insgesamt
9.506,18 DM dargelegt. Unschlüssig sind demgegenüber die geltend
gemachten Kosten für das Attest und die Pauschale für Ab- und Anmeldung.
Das ärztliche Attest hat der Kläger auf Aufforderung der Staatsanwaltschaft
erstellen lassen. Unabhängig davon, dass sich hieraus keine
Verpflichtung des Klägers zur Übernahme der Attestkosten ergeben haben
dürfte, obliegt es dem Kläger, diese Kosten im Rahmen des
Ermittlungsverfahrens geltend zu machen.
Unschlüssig ist auch die geltend gemachte Pauschale für Abmeldung des
Unfallwagens und Neuanmeldung eines Ersatzwagens. Im Gegensatz zur
allgemein anerkannten Pauschale für Unkosten besteht bei der Ab- und
Anmeldung kein Bedarf für eine Schätzung nach § 287 ZPO, weil es dem
Kläger ohne weiteres möglich ist, die angefallenen Kosten konkret zu
beziffern.
5. Für die Klage ergibt sich damit folgende Berechnung:
Gesamtschaden:
9.506,18 DM
davon zu erstatten 2/3:
6.337,45 DM
davon gezahlt:
./. 5.284,95 DM
zu titulieren:
1.052,50 DM
6. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 284 Abs. 1 Satz 1, 288, 246 BGB. Eine
verzugsbegründende Mahnung hat der Kläger nicht vorgetragen, ein Verzug
ergibt sich jedoch aus dem teilweise ablehnenden Abrechnungsschreiben des
Beklagten vom 25. November 1999 (Anlage K 8).
Die Widerklage ist in Höhe von 2000 DM begründet. Der Gesamtschaden des
Beklagten beträgt 6.000 DM. Den Anfall der darüber hinausgehenden geltend
gemachten Notarztkosten von 126,27 DM haben die Widerbeklagten zulässig
bestritten, Beweis ist nicht angeboten. Zu ersetzen sind damit 1/3 von 6.000 DM.
Der Zinsanspruch beruht auf §§ 284 Abs. 1 Satz 2, 288, 246 BGB.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10,
713, 546 Abs. 2 Satz 1 ZPO.