Urteil des OLG Dresden vom 29.03.2017

OLG Dresden: einstellung des verfahrens, höchstgeschwindigkeit, aufmerksamkeit, handschriftlich, ermittlungsverfahren, bekanntgabe, verfolgungsverjährung, versendung, anhörung, fahrverbot

Leitsatz:
1. Die Übersendung eines Anhörungsbogens zur Bekanntgabe der
Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (§ 33 Abs. 1 Nr. 1
OWiG) hat nur dann verjährungsunterbrechende Wirkung, wenn
entweder aktenkundig gemacht ist, wer die Anordnung vorge-
nommen hat und der zuständige Sachbearbeiter durch Unter-
schrift oder Handzeichen die Verantwortung für die Richtig-
keit der Beurkundung des Datums übernommen hat, oder der An-
hörungsbogen mittels einer EDV-Anlage gefertigt worden ist,
ohne dass der Sachbearbeiter zuvor in den vorprogrammierten
Arbeitsanlauf des Computer eingegriffen hat.
2. Führte die Bußgeldbehörde das Ermittlungsverfahren zunächst
gegen Unbekannt, stellt die Entscheidung, nunmehr gegen ei-
nen bekannten Betroffenen zu ermitteln, eine Individualent-
scheidung des Sachbearbeiters dar, über die die Bußgeldbe-
hörde in der Akte Zeugnis ablegen muss.
3. Die Verjährung kann gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 1 OWiG dadurch un-
terbrochen werden, dass ein Polizeibeamter dem Betroffenen
fernmündlich die Einleitung des Ermittlungsverfahrens mit-
teilt und sich die Tatsache und das Datum der Unterbre-
chungshandlung unmittelbar aus der Akte ergibt.
4. Eine grob pflichtwidrige Missachtung der gebotenen Aufmerk-
samkeit liegt auch dann vor, wenn der Verkehrsteilnehmer
nicht nur die durch Zeichen 274 beschränkte Höchstgeschwin-
digkeit von 30 km/h, sondern auch die an sich innerörtlich
zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h in erheblicher
Weise (hier: um 16 km/h) überschreitet. In diesem Fall kann
er sich hinsichtlich der Überschreitung der durch das Zei-
chen angeordneten Geschwindigkeitsüberschreitung nicht auf
ein sogenanntes "Augenblicksversagen" berufen.
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Oberlandesgericht
Dresden
Senat für Bußgeldsachen
- Der Einzelrichter -
Aktenzeichen: Ss (OWi) 886/04
4 OWi 147 Js 24504/04 AG Pirna
24 OWi Ss 886/04 GenStA Dresden
Beschluss
vom 10. Mai 2005
in der Bußgeldsache gegen
M
geboren am
wohnhaft
Verteidiger: Rechtsanwälte
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
1. Der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der
Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsge-
richts Pirna vom 07. September 2004 wird als
unzulässig verworfen.
Der
Betroffene
trägt
die
Kosten
seines
Rechtsmittels.
2. Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwalt-
schaft Dresden wird das Urteil des Amtsge-
richts
Pirna
vom
07. September 2004
im
Rechtsfolgenausspruch
mit
den
zugehörigen
Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu er-
neuter Verhandlung und Entscheidung, auch ü-
ber die Kosten des Rechtsmittels, an das
Amtsgericht Pirna zurückverwiesen.
3
G r ü n d e :
I.
Das Amtsgericht Pirna hat den Betroffenen wegen fahrlässi-
ger Überschreitung der durch Streckenverbot beschränkten
Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 100,00 EUR ver-
urteilt. Von der Verhängung eines im Bußgeldbescheid noch
vorgesehenen Fahrverbots für die Dauer von einem Monat hat
es abgesehen. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts be-
fuhr
der
Betroffene
mit
einem
Pkw
die
B 172
in
Bad Schandau/Postelwitz mit einer toleranzbereinigten Ge-
schwindigkeit von 66 km/h, obwohl durch Zeichen 274 eine
zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h angeordnet war.
Gegen das Urteil richtet sich der Antrag des Betroffenen
auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, der nach Vorlage des
schriftlichen Urteils begründet werden sollte. Das Urteil
wurde dem Verteidiger am 22. September 2004 zugestellt.
Die Staatsanwaltschaft Dresden wendet sich gegen das Urteil
mit der Rechtsbeschwerde und rügt ausschließlich, dass das
Amtsgericht von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen
hat.
Die Rechtsbeschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft wurde
dem Verteidiger zugestellt, der sodann am 19. November 2004
zur Rechtsbeschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft Dres-
den sowie zum Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde
Stellung nahm.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat beantragt,
1. auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Dres-
den
das
Urteil
des
Amtsgerichts
Pirna
vom
07. September 2004 aufzuheben;
2. das Verfahren einzustellen;
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3. den Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbe-
schwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Pirna vom
07. September 2004 als unbegründet zu verwerfen.
Die Generalstaatsanwaltschaft meint, es sei Verfolgungsver-
jährung eingetreten.
II.
1. Das Rechtsmittel des Betroffenen hat keinen Erfolg.
a) Der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechts-
beschwerde erweist sich entgegen der Auffassung der
Generalstaatsanwaltschaft bereits als unzulässig.
Der
Zulassungsantrag
wurde
fristgemäß
am
13. September 2004 gestellt. Er sollte jedoch erst
nach Vorlage des schriftlichen Urteils begründet wer-
den. Eine solche Begründung ist nicht innerhalb der
Frist des § 345 Abs. 1 StPO, § 80 Abs. 3 Satz 2 StPO
eingegangen. Die im Zusammenhang mit der Stellungnah-
me zur Rechtsbeschwerdebegründung der Staatsanwalt-
schaft
Dresden
abgegebene
Begründung
vom
19. November 2004 war verspätet, nachdem das Urteil
dem Verteidiger am 22. September 2004 zugestellt wor-
den war.
b) Auf die Frage der Verjährung kommt es in dem hier
vorliegenden Zulassungsverfahren nicht an, weil ein
Verfahrenshindernis nur zur Einstellung des Verfah-
rens durch das Beschwerdegericht führt, wenn das Ver-
fahrenshindernis nach Erlass des Urteils eingetreten
ist (§ 80 Abs. 5 OWiG). Der Eintritt eines Verfah-
renshindernisses nach Erlass des angefochtenen Ur-
teils ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich.
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2. Die wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte
Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft erweist sich
hingegen als zulässig und begründet; sie führt zur Auf-
hebung im Rechtsfolgenausspruch und Zurückverweisung an
das Amtsgericht.
a) Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft
hat das Amtsgericht im Ergebnis zu Recht angenommen,
dass
bei
Erlass
des
Bußgeldbescheides
am
23. März 2004 noch nicht gemäß §§ 26 Abs. 3, 24 StVG
Verfolgungsverjährung eingetreten war. Dem ging fol-
gender - für etwaige Verjährungsunterbrechungen rele-
vanter - Verfahrensablauf voraus:
Die Tat wurde am 15. Dezember 2003 begangen. Die Buß-
geldbehörde übersandte zunächst dem Halter des Fahr-
zeugs, der F GmbH einen Zeugenanhörungsbogen. Am
04. Februar 2004 teilte die F GmbH Namen und An-
schrift des Betroffenen als verantwortlichen Fahr-
zeugführer mit. Am 09. Februar 2004 veranlasste die
Bußgeldbehörde die Versendung eines Anhörungsbogens
an den Betroffenen. Die Anordnung dieser Anhörung
wurde in der Akte jedoch weder handschriftlich doku-
mentiert, noch unterschrieben oder mit einem Handzei-
chen versehen. Am 18. Februar 2004 meldete sich der
Verteidiger des Betroffenen und bat um Akteneinsicht,
die ihm am 19. Februar 2004 durch die Bußgeldbehörde
gewährt wurde. Auch die Anordnung der Versendung der
Akten an den Verteidiger wurde weder handschriftlich
dokumentiert noch unterschrieben. Am 04. März 2004
richtete
die
Bußgeldbehörde
ein
Fahrer-
Ermittlungsersuchen an das 3. Polizeirevier in Kas-
sel, das dort am 10. März 2004 einging. Aus dem Ver-
merk eines dort tätigen Polizeibeamten vom selben Tag
ergibt sich, dass der Beamte mit dem Betroffenen te-
lefonisch Rücksprache genommen hat und der Betroffene
nach erfolgter Belehrung mitgeteilt hat, dass er die
Fahrereigenschaft nicht bestreitet.
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aa) Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts hat die An-
ordnung der Anhörung am 09. Februar 2004 die Ver-
jährung nicht unterbrochen. Die Übersendung eines
Anhörungsbogens zur Bekanntgabe der Einleitung
eines Ermittlungsverfahrens (§ 33 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 OWiG) hat nur dann verjährungsunterbrechen-
de Wirkung, wenn entweder aktenkundig gemacht
ist, wer die Anordnung vorgenommen hat, und der
zuständige Sachbearbeiter durch Unterschrift oder
Handzeichen die Verantwortung für die Richtigkeit
der Beurkundung des Datums übernommen hat oder
der Anhörungsbogen mittels einer EDV-Anlage ge-
fertigt worden ist, ohne dass der Sachbearbeiter
zuvor in den vorprogrammierten Arbeitsablauf des
Computers eingegriffen hat. Da die Bußgeldbehörde
das Ermittlungsverfahren zunächst gegen Unbekannt
geführt und der Halterin des Fahrzeugs einen Zeu-
genfragebogen übersandt hatte, beinhaltet die
Entscheidung, nunmehr gegen den Betroffenen als
Fahrer zu ermitteln, einen Eingriff in den sche-
matisierten EDV-Arbeitsablauf, der von dem darin
manifestierten, ursprünglichen Willen der Behörde
abwich. Der Eingabe der von der Halterin mitge-
teilten Personalien des mutmaßlichen Fahrzeugfüh-
rers durch den Sachbearbeiter der Bußgeldbehörde
musste eine - wenn auch unter Umständen nur ober-
flächliche - Prüfung vorausgehen, inwieweit die
den Verfahrensgegenstand bildende Tat bezüglich
des Betroffenen überhaupt noch verfolgbar war,
insbesondere dass die Tat nicht bereits verjährt
war. Von einer solchen Individualentscheidung ih-
res Sachbearbeiters muss die Bußgeldbehörde in
den Akten Zeugnis ablegen (OLG Dresden DAR 2004,
534). Dies ist hier nicht geschehen.
bb) Es kann dahingestellt bleiben, ob die Verjährung
gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 1 OWiG durch die (nicht
handschriftlich dokumentierte oder unterschriebe-
ne) Übersendung der Akten an den bevollmächtigten
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Verteidiger zur Einsichtnahme unterbrochen worden
ist (vgl. OLG Hamm DAR 2001, 375).
Denn verjährungsunterbrechende Wirkung kommt der
telefonischen Rücksprache des Polizeibeamten mit
dem Betroffenen am 10. März 2004 zu, in der der
Betroffene nach Belehrung mitteilte, dass er die
Fahrereigenschaft nicht bestreite. Damit ist dem
Betroffenen
im
Sinne
des
§ 33
Abs. 1
Nr. 1 2. Alt. OWiG wirksam bekanntgegeben worden,
dass gegen ihn das Ermittlungsverfahren eingelei-
tet
ist.
Diese
Unterbrechungshandlung
konnte
mündlich erfolgen (BGHSt 28, 381; Göhler, OWiG,
13. Aufl. § 33 Rdnr. 5 a m.w.N.). Sie musste
auch, wie der Umkehrschluss aus den übrigen Un-
terbrechungsarten des § 33 OWiG ergibt, nicht
durch die Verwaltungsbehörde unmittelbar erfol-
gen. Vielmehr genügen auch Ermittlungen durch Po-
lizeibeamte (OLG Zweibrücken DAR 2004, 603; Göh-
ler, OWiG, 13. Aufl., § 33 Rdnr. 6). Der Tag des
Eingangs der Akte bei dem Polizeirevier ist aus
der Akte ersichtlich, und der Polizeibeamte hat
die Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungs-
verfahrens durch seinen Aktenvermerk vom selben
Tag aktenkundig gemacht, so dass sich die Tatsa-
che und das Datum der Unterbrechungshandlung (10.
März 2004) unmittelbar aus der Akte ergeben (vgl.
BGHSt 30, 215 [219 f.]; BayObLG VRS 78, 463; OLG
Zweibrücken DAR 2004, 603).
Der Bußgeldbescheid vom 23. März 2004 wurde damit
innerhalb der Verjährungsfrist erlassen.
3. Der Rechtsfolgenausspruch hält sachlich-rechtlicher Ü-
berprüfung jedoch nicht stand. Die Feststellung des
Amtsgerichts tragen ein Absehen von der Verhängung des
Regelfahrverbotes nicht.
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Gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 1 BKatV, Nr. 11.3 BKat i.V.m.
Nr. 11.3.6 Tab. 1 Buchst. c ist als Regelfolge für das
Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in-
nerhalb geschlossener Ortschaften um 36 km/h ein Fahr-
verbot für die Dauer von einem Monat anzuordnen. Die
Verwirklichung des Regelbeispiels indiziert eine grobe
Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers so-
wohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht. An-
haltspunkte dafür, dass diese Indizwirkung im vorliegen-
den Fall aufgehoben sein könnte, liegen nicht vor. Der
Betroffene kann sich insbesondere nicht auf ein so ge-
nanntes "Augenblicksversagen" berufen. Der Betroffene
hat die gebotene Aufmerksamkeit trotz der vom Amtsge-
richt zur Erkennbarkeit der Geschwindigkeitsbeschränkun-
gen und zum Erscheinungsbild der Baustelle getroffenen
Feststellungen in grob pflichtwidriger Weise (vgl. BGHSt
43, 241) unterlassen. Denn eine grob pflichtwidrige
Missachtung der gebotenen Aufmerksamkeit liegt auch dann
vor, wenn der Verkehrsteilnehmer nicht nur die durch
Zeichen 274
angeordnete
Höchstgeschwindigkeit
von
30 km/h, sondern auch die innerörtlich zulässige Ge-
schwindigkeit von 50 km/h in erheblicher Weise über-
schreitet. In einem solchen Fall beruht der Verkehrsver-
stoß nicht auf einer augenblicklichen Unaufmerksamkeit,
sondern auf der Nichtbeachtung weiterer Sorgfaltspflich-
ten (OLG Köln DAR 2001, 469 [470]; OLG Karlsruhe NZV
2004, 211 [212]). So liegt der Fall hier, weil der Be-
troffene die an sich innerörtlich zulässige Höchstge-
schwindigkeit bereits um 16 km/h überschritten hat.
Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat gleichwohl
verwehrt, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass
die Anordnung eines Fahrverbots aus vom Amtsgericht noch
nicht festgestellten Gründen unangemessen sein oder eine
außergewöhnliche Härte für den Betroffenen bedeuten
könnte (§ 4 Abs. 4 BKatV).
4. Wegen der Wechselwirkung zwischen Fahrverbot und Geldbu-
ße war der Rechtsfolgenausspruch insgesamt aufzuheben.
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5. Die Sache war an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zu-
rückzuverweisen, weil kein triftiger Grund dafür vor-
liegt, die Sache einer anderen Abteilung oder einem an-
deren Amtsgericht zuzuweisen (§ 79 Abs. 6 OWiG).
III.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels des Be-
troffenen beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO, §§ 46
Abs. 1, 80 Abs. 4 Satz 4 OWiG.
Gorial
Richter
am Oberlandesgericht