Urteil des OLG Dresden vom 15.03.2017

OLG Dresden: örtliche zuständigkeit, strafvollstreckung, sicherungsverwahrung, aufwand, rechtskraft, obergericht, widerruf, aussetzung, bewährung, beschwerdeschrift

Leitsatz:
Eine Strafvollstreckungskammer ist mit der Entscheidung über die Reststrafen-
aussetzung konkret "befasst", wenn der von Amts wegen zu beachtende maß-
gebliche Zeitpunkt nach § 57 StGB herannaht. Bei langjährigen Haftstrafen ist
hierbei regelmäßig ein zeitlicher Vorlauf von etwa sechs Monaten anzusetzen.
Denn zu berücksichtigen ist der Zeitaufwand für die Einholung eines Sachver-
ständigengutachtens (§ 454 Abs. 2 StPO), die sodann zu treffende Entscheidung
der Strafvollstreckungskammer sowie die Durchführung eines eventuellen Be-
schwerdeverfahrens mit ggf. Zurückverweisung und erneuter Entscheidung der
Strafvollstreckungskammer. Spätestens zum maßgeblichen Zeitpunkt nach § 57
StGB soll nämlich rechtskräftig feststehen, ob die restliche Strafvollsteckung
ausgesetzt wird.
Oberlandesgericht
Dresden
2. Strafsenat
Aktenzeichen: 2 Ws 681/04
StVK 927/2004 LG Dresden
34 Js 70070/94 StA Darmstadt, ZwSt. Offenbach/Main
2210 Js 14660/99 StA Wiesbaden
23 GWs 776/04 GenStA Dresden
Beschluss
vom 06. Dezember 2004
in der Strafvollstreckungssache gegen
wegen
hier: Strafaussetzung gemäß § 57 StGB
Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wiesbaden ge-
gen
den
Beschluss
des
Landgerichts
Dresden
vom
04. November 2004 wird als unbegründet verworfen.
Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Darmstadt,
Zweigstelle Offenbach, vom 23. November 2004 gegen denselben
Beschluss wird als unzulässig verworfen.
Die Staatskasse trägt die Kosten beider erfolglosen Rechtsmittel
einschließlich der dem Verurteilten hierdurch erwachsenen not-
wendigen Auslagen.
G r ü n d e :
I.
Der Verurteilte verbüßt gegenwärtig die Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren
neun Monaten aus dem Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 28. April 1997
(Az.: 34 Js 70.070/94 15 KLs) sowie die weitere Freiheitsstrafe von drei Jahren
aus
dem
Urteil
des
Amtsgerichts
Wiesbaden
vom
06. März 2003
(Az.: 2210 Js 14660/99). Zwei Drittel beider Strafen waren am 24. Oktober 2004
verbüßt.
Kurz zuvor, am 06. Oktober 2004, war der Verurteilte in die Justizvollzugsanstalt
Dresden verlegt worden, nachdem er die Strafen zunächst bis zum 07. Juli 2004
in der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt und anschließend vom 08. Juli 2004 bis
05. Oktober 2004 in der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt verbüßt hatte.
Gemäß § 57 Abs. 1 StGB war die Prüfung einer möglichen Aussetzung der bei-
den letzten Strafdrittel zur Bewährung von Amts wegen zum 24. Oktober 2004
vorzunehmen. Darüber hinaus hatte der Verurteilte mit Schreiben vom
25. Juni 2004, eingegangen bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts
Darmstadt am 13. Juli 2004, die Strafaussetzung begehrt.
Die beteiligten Staatsanwaltschaften Wiesbaden und Darmstadt als Vollstre-
ckungsbehörden haben die Sache dem Landgericht Dresden vorgelegt; nach
ihrer Auffassung sei die dortige Strafvollstreckungskammer zur Entscheidung
berufen.
Am 04. November 2004 hat sich die Strafvollstreckungskammer des Landge-
richts Dresden für örtlich unzuständig erklärt, weil die Verlegung des Verurteilten
in die Justizvollzugsanstalt Dresden am 06. Oktober 2004 ihre örtliche Zustän-
digkeit nicht begründet habe. Hiergegen richten sich die Beschwerden der
Staatsanwaltschaften.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat beantragt, das Rechtsmittel der
Staatsanwaltschaft Wiesbaden als unbegründet zu verwerfen. Zur sofortigen Be-
schwerde der Staatsanwaltschaft Darmstadt hat sie keinen Antrag gestellt.
II.
1. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Darmstadt ist unzulässig,
weil die Frist des § 311 Abs. 2 StPO nicht eingehalten wurde.
Der angefochtene Beschluss ist der Staatsanwaltschaft am 18. November
2004 zugestellt worden; ihre am 23. November 2004 verfasste Beschwerde-
schrift ist jedoch erst nach Ablauf der Wochenfrist am 26. November 2004
bei dem Landgericht Dresden eingegangen. Eine Übermittlung des Schrift-
stücks vorab per Telefax ist nicht erfolgt.
2. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wiesbaden ist zwar zuläs-
sig, aber unbegründet.
Eine örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer beim Landgericht
Dresden ist unter keinen Umständen ersichtlich, § 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO.
Mit Recht haben die Strafvollstreckungskammer und die Generalstaatsan-
waltschaft Dresden in ihrer Zuschrift vom 03. Dezember 2004 darauf hinge-
wiesen, dass über die konkret anstehende Entscheidung einer Reststrafen-
aussetzung gemäß § 57 Abs. 1 StGB weiterhin die Zuständigkeit entweder
der Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Darmstadt oder der Straf-
vollstreckungskammer beim Landgericht Marburg begründet ist.
Deren örtliche Zuständigkeit war bereits durch ihr konkretes Befasstsein mit
der anstehenden Entscheidung über die Reststrafenaussetzung gemäß § 57
StGB begründet worden. Ein Befasstsein im Rechtssinne liegt nämlich schon
dann vor, wenn Tatsachen aktenkundig werden (oder sind), die eine Ent-
scheidung in der Vollstreckungssache rechtfertigen können (BGHSt 30, 189,
191 - zum Widerruf).
So liegt der Fall hier. Bereits mit Einleitung der Strafvollstreckung stand fest,
dass von Amts wegen spätestens zum 24. Oktober 2004 eine Entscheidung
gemäß § 57 Abs. 1 StGB getroffen sein muss (Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl.
§ 454 Rdnr. 5 m.w.N.).
Im Hinblick auf § 454 Abs. 2 StPO wird eine Strafvollstreckungskammer mit
dieser Entscheidungsfrage bereits dann konkret "befasst", wenn der maß-
gebliche Zeitpunkt nach § 57 StGB herannaht. Nach Auffassung des Senats
ist gerade bei langjährigen Haftstrafen - unter Berücksichtigung des erforder-
lichen Zeitaufwands für die Einholung eines Gutachtens (§ 454 Abs. 2 StPO),
die sodann zu treffende Entscheidung der Strafvollstreckungskammer sowie
für ein möglicherweise durchzuführendes Beschwerdeverfahren - ein zeitli-
cher Vorlauf von etwa sechs Monaten anzusetzen. Spätestens zum maßgeb-
lichen Zeitpunkt nach § 57 StGB soll nämlich rechtskräftig feststehen, ob die
restliche Strafvollstreckung ausgesetzt wird. (Siehe zur vergleichbaren Inte-
ressenlage bei der regelmäßigen Überprüfung der Sicherungsverwahrung
neuestens Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 16. November
2004 - 2 BvR 2004/04 -).
Dass die Staatsanwaltschaften als Strafvollstreckungsbehörden diesen aus
organisatorischen Gründen erforderlichen zeitlichen Aufwand nicht immer
berücksichtigen und die Sachakten der Strafvollstreckungskammer viel zu
spät vorlegen, vereinzelt sogar erst nach einer zwischenzeitlichen Verlegung
des Verurteilten in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Strafvollstre-
ckungskammer, ändert an der konkreten Befasstheit der örtlich zuständigen
Strafvollstreckungskammer nichts. Diese hat vielmehr die anhängige Rechts-
frage abschließend, d.h. bis zur Rechtskraft (gegebenenfalls auch unter
Durchführung eines Beschwerdeverfahrens mit Zurückverweisung der Sache
an sie) zu entscheiden.
3. Dem Senat obliegt es nicht, die Zuständigkeit entweder der Strafvollstre-
ckungskammer beim Landgericht Darmstadt oder derjenigen beim Landge-
richt Marburg festzustellen.
Hierzu mag zwischen den beteiligten Vollstreckungsbehörden und -gerichten
geklärt werden, ob die Erwägungen des Senats zum zeitlich-
organisatorischen Vorlauf bei Entscheidungen nach § 57 StGB vom Ober-
landesgericht Frankfurt als ihr gemeinsames Obergericht geteilt werden. Ge-
gebenenfalls könnte auch der Antrag des Verurteilten vom 25. Juni 2005, der
am 13. Juli 2005 bei einem Gericht, nämlich der Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts Darmstadt, eingegangen und damit zu diesem Zeitpunkt
aktenkundig geworden war, maßgeblich sein.
III.
Die Kostenentscheidungen folgen aus § 473 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1
StPO.
Drath
Schüddekopf
Halt
Vorsitzender Richter
Richter am
Richterin am
am Oberlandesgericht
Oberlandesgericht
Amtsgericht