Urteil des OLG Dresden vom 11.05.2009

OLG Dresden: widerruf, therapie, bewährung, unterbrechung, aussetzung, zukunft, suchterkrankung, rehabilitation, patient, unterbringung

Leitsatz:
1.) Der Widerruf einer Straf(rest)aussetzung dient nicht
der Ahndung von Bewährungsversagen; das zur Entscheidung
berufene Gericht hat vielmehr eine Kriminalprognose für den
Betroffenen aus heutiger Sicht zu treffen. 2.) Liegt be-
reits ein Widerrufsgrund nicht vor, scheidet auch die An-
wendbarkeit des § 56 f Abs. 2 StGB aus.
OLG Dresden, 2. Strafsenat, Beschluss vom 11.05.2009, Az.:
2 Ws 201/09
2
Oberlandesgericht
Dresden
2. Strafsenat
Aktenzeichen: 2 Ws 201/09
II StVK 131/09 LG Leipzig
(256 Ds) Cs 14/143 PLs 3709/01 (92/02) StA Berlin 26 G Ws
254/09 GenStA Dresden
Beschluss
vom 11. Mai 2009
in der Strafvollstreckungssache gegen
geboren am
zurzeit im Maßregelvollzug, Klinik für Forensische
Psychiatrie
Verteidigerin: Rechtsanwältin
wegen Diebstahls
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1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten
wird der Beschluss der Strafvollstreckungs-
kammer des Landgerichts Leipzig vom 09. März
2009 aufgehoben.
2. Der Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin vom
10. Oktober 2008, die Aussetzung der Gesamt-
freiheitsstrafe von elf Monaten aus dem Ur-
teil des Amtsgerichts Tiergarten vom 27. Mai
2002 (Az.: 256 Ds 92/02) zu widerrufen, wird
zurückgewiesen.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die
insoweit entstandenen notwendigen Auslagen
des Verurteilten hat die Staatskasse zu tra-
gen.
G r ü n d e:
I.
Der den Urteilsfestellungen zufolge bereits damals alko-
holabhängige Verurteilte war vom Amtsgericht Tiergarten
am 27. Mai 2002, rechtskräftig seit dem 04. Juni 2002,
wegen Diebstahls zu der Gesamtfreiheitsstrafe von elf
Monaten verurteilt worden. Die Vollstreckung dieser
Strafe hatte das Gericht zu Bewährung ausgesetzt und die
Dauer der Bewährungszeit, allerdings ohne jegliche Wei-
sung oder Unterstellung unter die Aufsicht und Leitung
eines Bewährungshelfers, auf vier Jahre festgesetzt.
Am 03. November 2003 hat das Amtsgericht wegen erneuter
alkoholbedingter Ladendiebstähle des Verurteilten die
Dauer der Bewährungszeit gemäß § 56 f Abs. 2 Satz 2 StGB
um zwei Jahre (auf insgesamt sechs Jahre) verlängert. In
der Folge hat es die Bewährungszeit wegen weiterer Dieb-
stähle des Verurteilten mit Beschluss vom 08. Juli 2005,
berichtigt durch Beschluss vom 22. Juli 2005, noch ein-
mal - um ein weiteres Jahr - verlängert. Weisungen, Auf-
lagen oder andere bewährungsunterstützende Maßnahmen
wurden wiederum nicht angeordnet.
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Am 11. März 2008 schließlich verurteilte das Amtsgericht
Annaberg den Beschwerdeführer wegen eines am 09. Juli
2006 begangenen gemeinschaftlichen Raubes in Tateinheit
mit gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe
von zwei Jahren und sechs Monaten (Az.: 3 Ls 750 Js
39768/06). Zugleich ordnete es seine Unterbringung in
einer Entziehungsanstalt an; diese Maßregel wird seit
dem 02. April 2008 vollstreckt.
Aufgrund dieser Verurteilung hat die Staatsanwaltschaft
Berlin in vorliegender Sache den Widerruf der Straf-
aussetzung beantragt. Diesem Antrag hat die Strafvoll-
streckungskammer des Landgerichts Leipzig mit ihrem vom
Verurteilten rechtzeitig angefochtenen Beschluss vom
09. März 2009 entsprochen.
II.
Das Rechtsmittel hat Erfolg, weil ein Widerrufsgrund
nicht (mehr) gegeben ist.
Bereits am 07. Oktober 2008 hatte die Strafvollstre-
ckungskammer des Landgerichts Leipzig über einen auf
denselben Widerrufsgrund gestützten Widerrufsantrag der
Staatsanwaltschaft Berlin vom 24. September 2008 in an-
derer Sache zu entscheiden. Ihren den Bewährungswiderruf
ablehnenden Beschluss hat sie wie folgt begründet
(Az.: II StVK 655/08):
"Die Kammer hat hier jedoch unter Beachtung und Prü-
fung des Einzelfalles von einem Widerruf der Straf-
aussetzung zur Bewährung abgesehen. Dabei musste Be-
achtung finden, dass die Tat, die zu dem Urteil des
Amtsgerichts Annaberg vom 11. 03.2008 geführt hat,
über 2 Jahre zurückliegt und die ursprüngliche Bewäh-
rungszeit nunmehr seit dem 11.06.2008 abgelaufen ist,
wobei die Kammer selbstredend nicht verkennt, dass
ein Widerruf der Strafaussetzung auch nach Ablauf der
Bewährungszeit möglich wäre. Die Kammer hält es je-
doch für ausreichend, aber auch erforderlich, die Be-
währungszeit um ein Jahr zu verlängern (§ 56 f Abs. 2
StGB). Dies gilt insbesondere deswegen, da der Verur-
teilte, der sich seit 02.04.2008 im Maßregelvollzug
befindet, sich dort auch von Anfang an therapiemoti-
viert gezeigt hat. Ausweislich der fachärztlichen
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Stellungnahme
der
Maßregelvollzugseinrichtung
vom
28.07.2008 will er auch verstärkt an seiner Sucht-
problematik arbeiten. Die Sachverständigen weisen
darauf hin, dass der Verurteilte in der Vergangenheit
bereits mehrere Jahre abstinent gelebt und dabei die
Erfahrung gemacht habe, dass ihm ein strukturierter
Tagesablauf und der regelmäßige Kontakt zu Suchtgrup-
pen hilfreich sei. Im weiteren Therapieverlauf werde
der Untergebrachte neben seiner Suchtproblematik auch
mit seiner Anlassstraftat konfrontiert. Es sei ein
erfolgreicher Therapieabschluss zu erwarten. Insoweit
erscheint es der Kammer sachgerecht. dass der Verur-
teilte die begonnene Therapie in der Maßregelvoll-
zugseinrichtung auch ohne Unterbrechung fortsetzt, um
zu gewährleisten, das er in Zukunft zumindest auf-
grund seiner Sucht keine vorsätzlichen rechtswidrigen
Taten mehr begehen werde."
Diese Ausführungen treffen weiterhin uneingeschränkt zu.
Sie sind auch in vorliegender Sache beachtlich, zumal
weitere Straftaten des Verurteilten in der nachfolgenden
Zeit nicht bekannt sind und die Maßregelvollzugsanstalt
mit Stellungnahme vom 09. April 2009 gegenüber der
Verteidigerin mitgeteilt hat:
"(Der Untergebrachte) hat Zusammenhänge zwischen der
Suchterkrankung und der Delinquenz erkannt. Die
Straftatbearbeitung spielt insbesondere im Antiag-
gressivitätstraining eine Rolle. Der Patient lässt
sich auf das therapeutische Anliegen ein, distanziert
sich vom früheren dissozialen Millieu und formuliert
positive soziale Ziele für seine Zukunft....Eine Un-
terbrechung der Therapie würde den bisherigen Thera-
pieerfolg in Frage stellen und die geplante soziale
Rehabilitation des Patienten behindern..."
Die Maßregelvollzugsanstalt geht von einem positiven
Verlauf der Therapie aus und erwartet weitere therapeu-
tische Fortschritte.
Die Ausführungen der Strafvollstreckungskammer in ihrem
hier angefochtenen Beschluss messen diesem Aspekt zu we-
nig Gewicht bei; sie lassen sogar befürchten, dass sich
die Kammer maßgeblich von dem Gedanken der Ahndung von
Bewährungsversagen hat leiten lassen, anstatt eine Kri-
minalprognose für den Beschwerdeführer aus heutiger
Sicht zu treffen. Nachdem nunmehr im Rahmen des Maßre-
gelvollzugs in anderer Sache die Ursachen der Delinquenz
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erstmals gezielt und nachhaltig angegangen werden, gibt
es für eine gegenüber der Ablehnungsbegründung vom
07. Oktober 2008 abweichende Entscheidung keinen Raum.
III.
Angesichts der vorliegenden Stellungnahmen der Maßre-
geleinrichtung scheint die gegenwärtige Therapie auch
geeignet und - ohne Widerruf in vorliegender Sache -
auch ausreichend, den Verurteilten künftig von weiteren
alkoholbedingten Straftaten abzuhalten. In Ermangelung
eines Widerrufsgrundes im Sinne von § 56 f Abs. 1 StGB
ist damit aber auch für die Anwendung des Absatzes 2
dieser Vorschrift kein Raum.
IV.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt in Ermangelung
eines anderen Kostenschuldners die Staatskasse. Die Aus-
lagenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung
des § 467 Abs. 1 StPO.
(Drath)
(Schüddekopf)
(Gorial)
Drath Schüddekopf Gorial
Vorsitzender Richter Richter am Richter am
am Oberlandesgericht Oberlandesgericht Oberlandesgericht