Urteil des OLG Dresden vom 18.06.2007

OLG Dresden: eintritt des versicherungsfalles, treu und glauben, zumutbare tätigkeit, kaufmännische ausbildung, berufsunfähigkeit, versicherer, lebensstellung, versicherungsnehmer, begriff

Leitsatz
Für die Frage, ob ein Auszubildender voraussichtlich dauernd
außerstande ist, seinen "Beruf" auszuüben, ist allein auf
das zuletzt bestehende Ausbildungsverhältnis abzustellen.
Auf die Dauer der Ausbildung vor Eintritt des Versicherungs-
falles kommt es nicht an.
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Oberlandesgericht
Dresden
Aktenzeichen: 4 W 0618/07
8 = 0406/07 LG Dresden
Beschluss
des 4. Zivilsenats
vom 18.06.2007
In dem Rechtsstreit
Klägerin und Beschwerdeführerin
Prozessbevollmächtigter:
gegen
Beklagte
Prozessbevollmächtigte:
wegen Versicherungsleistungen
hier: Prozesskostenhilfe
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hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden ohne
mündliche Verhandlung durch
Richter am Oberlandesgericht Schlüter
als Einzelrichter
beschlossen:
1.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Be-
schluss des Landgerichts Dresden vom 27.04.2007 -
8 O 406/07 - abgeändert. Der Antragstellerin wird Pro-
zesskostenhilfe
unter
Beiordnung
von
Rechtsanwalt
H , D für folgenden Klageantrag bewilligt:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin
a)
9.600,00 Euro
nebst
Zinsen
i. H.
von
5 Prozentpunkten
über
dem
Basiszinssatz
seit
Rechtshängigkeit zu zahlen;
b)
an die Antragstellerin ab dem 01.03.2007 bis zum
Ablauf der Versicherung am 30.11.2043 eine BU-
Rente in Höhe von jährlich 4.800,00 Euro, zahlbar
jeweils
in
monatlichen
Raten
von
jeweils
400,00 Euro im voraus ab dem 01.03.2007 zu zahlen
und der Antragstellerin von diesem Zeitpunkt an
Beitragsbefreiung in Höhe der monatlichen Versi-
cherungsbeiträge in Höhe von jeweils 21,44 Euro zu
gewähren.
c)
Die Antragstellerin von Rechtsanwaltskosten in Hö-
he von 586,31 Euro freizustellen.
2.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
3.
Eine Gerichtsgebühr für das Beschwerdeverfahren wird
nicht erhoben.
4
G r ü n d e :
Die nach § 127 Abs. 2 ZPO zulässige Beschwerde hat zum über-
wiegenden Teil Erfolg und führt zur Abänderung des Beschlus-
ses des Landgerichts vom 27.04.2007. Der - unstreitig be-
dürftigen - Antragstellerin ist Prozesskostenhilfe in dem
aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zu bewilligen.
1.
Das Landgericht hat die Bewilligung von Prozesskosten-
hilfe mangels hinreichender Erfolgsaussichten i. S. d.
§ 114 ZPO mit der Begründung abgelehnt, die Antragstel-
lerin sei nicht berufsunfähig im Sinne des § 3 Abs. 1
der Bedingungen der Beklagten (TOP-SBV), weil sie nicht
nachgewiesen habe, in sämtlichen Lehrberufen mit leich-
ter sitzender Tätigkeit unter den im Gutachten der
Dipl. med. R. K (K 7) genannten Einschränkungen
tätig sein und etwa eine kaufmännische Ausbildung im
Innendienst ausüben zu können. Es hat zugleich die An-
tragstellerin für verpflichtet gehalten, substantiiert
vorzutragen, warum es ihr aus gesundheitlichen Gründen
nicht möglich sei, sich auf "irgendeinen Beruf" zu qua-
lifizieren. Diese Auffassung verkennt die Verteilung
der Darlegungs- und Beweislast bei Geltendmachung eines
Anspruches
aus
einer
Berufsunfähigkeitsversicherung.
Zutreffend ist freilich, dass der Versicherungsnehmer
darlegen und beweisen muss, dass er aus den von den Be-
dingungen genannten Gründen seinen bisherigen konkreten
Beruf
nicht
mehr
ausüben
kann
(Beckmann/Matusche-
Beckmann, Versicherungsrechtshandbuch, § 46 Rn 165).
Bei einer in der Berufsausbildung zur Versicherungs-
kauffrau befindlichen Versicherten ist der "zuletzt
ausgeübte Beruf" im Sinne der Bedingungen allerdings
nicht ihr Status als Auszubildende, sondern die konkre-
te zuletzt ausgeübte Tätigkeit. Diese hat die Antrag-
stellerin im Schriftsatz vom 09.02.2007 in einer den
Anforderungen
der
Rechtsprechung
(vgl.
hierzu
BGH
NVersZ 2000, 127; Beckmann/Matusche-Beckmann, aaO) ge-
nügenden Weise beschrieben, indem sie nachvollziehbar
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dargelegt hat, wie ihr Arbeitsumfeld beschaffen war und
welche Anforderungen es an Art, Umfang und Häufigkeit
an sie gestellt hat. Insbesondere hat sie aufgezeigt,
dass mit dieser Tätigkeit häufige Kundenkontakte ein-
hergehen und die Notwendigkeit besteht, diese regelmä-
ßig mit dem PKW aufzusuchen. Unter Verweis auf das Gut-
achten der Dipl. med. R. K vom 27.02.2006 hat sie
zugleich vorgetragen, diesen Tätigkeiten infolge der
von ihr behaupteten und in diesem Gutachten auch von
Frau Dipl. med. K zugrunde gelegten Gehirnblutung
sowie ihres dadurch ausgelösten "Paniksyndroms" dauer-
haft zu mehr als 50 % nicht mehr gewachsen zu sein.
Dies reicht im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens
aus. Die vom Landgericht zugrunde gelegte Auffassung,
die freilich auch in der zitierten Entscheidung des OLG
Koblenz vom 17.12.1993 (RuS 1994, 195) so nicht vertre-
ten wird, verkennt, dass aus der Sicht eines Auszubil-
denden, der eine Berufsunfähigkeit abschließt, der Ver-
sicherer typischerweise nicht nur Schutz gegen den
vollständigen Wegfall jeder Möglichkeit der Berufstä-
tigkeit verspricht, sondern gerade auch Schutz gegen
den Wegfall der Möglichkeit, den mit der begonnenen
Ausbildung beschrittenen beruflichen Lebensweg fortfüh-
ren zu können (OLG Koblenz, aaO). Anderenfalls wäre
nämlich der Versicherungsschutz eines Auszubildenden
auf eine bloße Erwerbsunfähigkeitsversicherung redu-
ziert, ohne dass dies aus den Bedingungen in hinrei-
chend klarer Weise (§ 305 c BGB) ersichtlich wäre. Gibt
ein Auszubildender daher im Antrag eine bestimmte Tä-
tigkeit an und schließt der Versicherer auf dieser
Grundlage ab, dann ist die angegebene Tätigkeit ein Be-
ruf im Sinne der Bedingungen, auch wenn dies nach dem
Sprachgebrauch zweifelhaft ist (Voith, Berufsunfähi-
geitsversicherung III Rn 247; Prölss/Martin, VVG, BUZ §
2 Rn 11). Vorliegend war dies die Tätigkeit einer
"AZUBI Versicherungskauffrau" entsprechend dem Antrag
vom 08.07.2004. Hierin liegt eine - zumindest still-
schweigende - Ausdehnung des Berufsbegriffs im Sinne
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der Versicherungsbedingungen (vgl. hierzu OLG Zweibrü-
cken, RuS 1999, 390).
Dies schließt es allerdings nicht aus, einen Auszubil-
denden nach Maßgabe der jeweiligen Versicherungsbedin-
gungen auch auf einen anderen Lehrberuf zu verweisen.
Zwar muss eine Verweisungstätigkeit im Grundsatz darauf
angelegt sein, einen dauerhaften Erwerb zu ermöglichen,
denn nur dann kann der Versicherte seine bisherige Le-
bensstellung aufrechterhalten. War aber die "Berufs"-
Tätigkeit, die der Versicherte vor Eintritt der Berufs-
unfähigkeit ausgeübt hat, schon ihrerseits nicht auf
die unmittelbare Erzielung von Einkünften ausgerichtet,
dann wurde seine Lebensstellung nicht von solchen Ein-
künften geprägt, und dann ist seine Verweisung auf eine
Tätigkeit, mit der er ebenfalls unmittelbar keine Ein-
künfte erzielen kann, nicht ausgeschlossen (Voith, aaO,
Rn 247; in diesem Sinne auch OLG Köln RuS 1988, 310).
Allerdings ist es nicht Sache des Gerichts, eine Ver-
gleichstätigkeit ausfindig zu machen. Es darf den Ver-
sicherten daher nicht auf eine Tätigkeit verweisen, zu
der nichts vorgetragen ist (BGH VersR 1990, 885; VersR
1988, 234; VersR 1986, 278; OLG Hamm, RuS 1990, 356;
Prölss/Martin, aaO, BUZ § 2 Rn 58). Auch der Versicher-
te selbst ist nicht gehalten, zu allen möglichen Ver-
weisungsberufen vorzutragen. Verneint er - wie hier -
die Möglichkeit, einen Verweisungsberuf auszuüben, ist
es vielmehr Sache des Versicherers, die nach seiner
Auffassung bestehenden Vergleichsberufe aufzuzeigen und
so dem Versicherten die ihn dann treffende Last aufzu-
bürden, im Einzelnen zu widerlegen, dass eine derartige
Tätigkeit für ihn in Betracht kommt (BGH aaO; Beck-
mann/Matusche-Beckmann, aaO, § 46 Rn 175). Auf der
Grundlage der Versicherungsbedingungen der Beklagten
kommt eine Verweisung aber nicht in Betracht, weil die-
se Bedingungen allein auf den zuletzt ausgeübten Beruf
in seiner konkreten Ausgestaltung abstellen und eine
Verweisung solange ausschließen, wie der Versicherte
einen seiner wirtschaftlichen und sozialen Lebensstel-
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lung entsprechende Tätigkeit tatsächlich nicht ausübt
(§ 3 Abs. 4 TOP-SBV). Der Senat verkennt nicht, dass
bei Auszubildenden, die wegen dieses Ausschlusses nicht
auf ein anderes Ausbildungsverhältnis verwiesen werden
können, die Feststellung der Berufsunfähigkeit dazu
führt, dass dauerhaft ein Leistungsanspruch entsteht,
wenn der Versicherte nicht von sich aus ein neues Aus-
bildungsverhältnis anstrebt oder eine ihm zumutbare Tä-
tigkeit aufnimmt, ohne dass jemals eine "echte" Berufs-
tätigkeit vorgelegen hätte. Dies ist jedoch Folge der
von der Beklagten verwandten Bedingungen und rechtfer-
tigt es nicht, bei Auszubildenden den Begriff des "zu-
letzt verwandten Berufes" auf alle Ausbildungsberufe zu
erweitern, wie es das Landgericht in dem angegriffenen
Beschluss getan hat.
Die Einschätzung des Landgerichts, die Antragstellerin
sei nicht berufsunfähig, stellt aber auch unabhängig
davon eine die Grenzen zulässiger Beweisantezipation im
Prozesskostenhilfeverfahren überschreitende Vorwegnahme
des Ergebnisses einer eventuellen Beweisaufnahme dar.
Zutreffend ist zwar, dass hier eine Beweisantizipation
dann erlaubt ist, wenn die Gesamtwürdigung aller schon
feststehenden Umstände und Indizien eine positive Be-
weiswürdigung zugunsten des Hilfsbedürftigen als ausge-
schlossen erscheinen lässt und wenn eine vernünftig und
wirtschaftlich denkende Partei, die die Kosten selbst
bezahlen müsste, wegen des absehbaren Misserfolgs der
Beweisaufnahme von einer Prozessführung absehen würde
(Zöller-Philippi, ZPO, 26. Aufl., § 114 Rn.26 m.w.N;
OLG Bamberg OLGR 2006, 539). Kommt jedoch eine Beweis-
aufnahme ernsthaft in Betracht und liegen keine konkre-
ten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass
sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Be-
schwerdeführers ausgehen würde, läuft es dem Gebot der
Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem weniger Bemittelten
wegen fehlender Erfolgsaussichten seines Rechtsschutz-
begehrens
Prozesskostenhilfe
zu
verweigern
(vgl.
BVerfG, NJW-RR 2002, S. 1069; NJW 2003, S. 2976; NJW-RR
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2005, 140). Vorliegend kann nicht von vornherein unter-
stellt werden, dass eine Beweisaufnahme in jedem Fall
zu Ungunsten der Antragstellerin ausginge. Auch wenn
auf der Grundlage des nervenärztlichen Gutachtens der
Frau Dr. S vom 10.11.2005 (K 11), die ledig-
lich eine bis zur panischen Angst reichende psychische
Verunsicherung sowie eine kleine Gefäß-Malformation
rechts fronto-temporal festgestellt hat, der sozialme-
dizinischen
Leistungsbeurteilung
der
BfA
vom
09.11.2005, die im neurologischen Bereich keine Aus-
fallsymptomatik ergab, des arbeitsmedizinischen Gutach-
tens der D . U und R vom 09.01.2006 (KE
4), die eine Verdeutlichungstendenz konstatierten und
aus arbeitsmedizinischer Sicht "keinen Hinderungsgrund
für eine vollschichtige Tätigkeit sowohl im erlernten
auch im angestrebten Berufsbild" sahen und des Schrei-
bens von Prof. K vom 15.04.2006 (KE 3), der allein
eine venöse Anomalie ohne wesentliche Blutungsgefahr
diagnostizierte, einiges gegen eine Berufsunfähigkeit
der Antragstellerin in dem maßgeblichen "Beruf" einer
Auszubildenden zur Versicherungskauffrau spricht, ist
doch das von ihr vorgelegte Gutachten der Dipl. med.
K vom 27.02.2006 (K 7) in Verbindung mit der gu-
tachterlichen Äußerung vom 27.09.2005 (K 5) nicht von
der Hand zu weisen. Aus diesem ergibt sich zum einen
eine Gehirnblutung als Ursache der fortbestehenden Be-
einträchtigungen und zum anderen, dass die Antragstel-
lerin nicht mehr in der Lage ist, zu mindestens 50 %
den von ihr zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben. Die Be-
weiserhebung zu dieser Frage bleibt dem Hauptsachver-
fahren vorbehalten.
Der Anspruch scheitert schließlich auch nicht an § 12
Abs. 3 VVG. Die Beklagte kann sich auf den Ablauf der
Ausschlussfrist nach Treu und Glauben nicht berufen,
weil sie der Antragstellerin mit Schreiben vom 23.01.
und 10.05.2006 ihre Bereitschaft zu einer erneuten Prü-
fung mitteilte und sich anschließend auf ein Verfahren
vor dem Ombudsmann für Versicherungen einließ, das erst
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am 12.12.2006 endete. Wenn der Versicherer dem Versi-
cherungsnehmer im Anschluss an die gebotene Rechtsfol-
genbelehrung mitteilt, er sei bei Vorlage bestimmter
Unterlagen zu einer erneuten Prüfung seiner Leistungs-
pflicht bereit, ist er hieran gebunden (allg. Auffas-
sung, vgl. nur BGH NJW-RR 2005, 1341; OLG Jena VersR
2001, 358; Römer in: Römer/Langheid, VVG, 2. Aufl., §
12 Rn. 87).
2.
Der Antragstellerin war Prozesskostenhilfe nach Maßgabe
der mit Schriftsatz vom 30.03.2007 geänderten Anträge
zu 1. 3 und 4 in unveränderter Höhe zu bewilligen, der
Antrag zu 2. ist vom Antrag zu 3. umfasst. Für den An-
trag zu 5. war Prozesskostenhilfe nur in der aus dem
Tenor ersichtlichen Höhe zu bewilligen. Der nicht auf
die Verfahrensgebühr anrechenbare Teil der Geschäftsge-
bühr kann auf der Grundlage eines materiell-rechtlichen
Kostenerstattungsanspruchs Gegenstand einer unter dem
Gesichtspunkt des Rechtsschutzbedürfnisses zulässigen
Klage auf Erstattung dieser Kosten sein (st. Rechtspre-
chung, vgl. zuletzt BGH FamRZ 2007, 808). Vorliegend
errechnet er sich allerdings nicht aus dem von der An-
tragstellerin zugrunde gelegten, sondern aus einem
Streitwert
von
lediglich
27.300,00 Euro
(4.800,00 Euro + 257,28 Euro) x 3,5 zzgl. rückständiger
Beträge in Höhe von 9.600,00 Euor, § 9 ZPO). Damit be-
trägt der nicht anrechenbare Teil der Geschäftsgebühr
586,31 Euro.
II.
Wegen des überwiegenden Obsiegens ist eine Gebühr für das
Beschwerdeverfahren nicht zu erheben (Anlage I Nr. 1811,
GKG). Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet (§ 127
Abs. 4 ZPO). Die Voraussetzungen für die Zulassung der
Rechtsbeschwerde sind nicht gegeben.
Schlüter