Urteil des OLG Dresden vom 23.10.2003

OLG Dresden: körperliche integrität, patient, eltern, operation, fraktur, gefahr, einwilligung, eingriff, persönlichkeitsverletzung, rechtsschutz

Leitsatz:
Hat sich eine fehlerhafte Aufklärung nicht ausgewirkt, weil
der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Be-
handlung eingewilligt hätte, ist zwar sein allgemeines Per-
sönlichkeitsrecht verletzt, ein Anspruch auf Geldentschädi-
gung gemäß § 823 BGB in Verbindung mit Art. 1 und 2 GG ist
aber gleichwohl regelmäßig ausgeschlossen (entgegen OLG Jena
VersR 1998, 586).
Vorschriften: § 823 BGB, Art. 1 und 2 GG
Stichworte: Schmerzensgeld, Geldentschädigung, nichtkausale
Aufklärungspflichtverletzung
OLG Dresden, Urteil vom 23.10.2003 - 4 U 980/03 -
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³ ³
³ ³
³ ³ Oberlandesgericht
³ ³
³ ³ Dresden
³ ³
³ ³
Aktenzeichen: 4 U 980/03
1-O-1037/00 LG Zwickau
Verkündet am 23.10.2003
Die Urkundsbeamtin:
Bräunig
Justizobersekretärin
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
In dem Rechtsstreit
Kläger und Berufungskläger
Prozessbevollmächtigter:
gegen
1.
2.
3.
4.
Beklagte und Berufungsbeklagte
Prozessbevollmächtigte
zu 1) bis 4):
wegen Forderung
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hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden auf-
grund der mündlichen Verhandlung vom 02.10.2003 durch
Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Boie,
Richterin am Oberlandesgericht Möhring und
Richter am Landgericht Scheuring
für Recht erkannt:
1.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landge-
richts Zwickau vom 09.05.2003 - 1 O 1037/00 - wird zu-
rückgewiesen.
2.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu
tragen.
3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschluss:
Der Streitwert des Berufungsverfahrens beträgt 8 135,50 EUR
(6 135,50 EUR + 2 000,00 EUR).
Gründe:
I.
Der am 08.07.1980 geborene Kläger verlangt von den Beklagten
- Krankenhausträger und behandelnden Ärzten - Ersatz mate-
riellen und immateriellen Schadens wegen der konservativen
Therapie einer distalen Unterschenkelfraktur rechts in der
Zeit
vom
08.06.
bis
14.06.1996
im
Kreiskrankenhaus
R . Im zweiten Rechtszug wirft er den behandelnden
Ärzten nur noch vor, sie hätten ihn und seine Eltern nicht
hinreichend aufgeklärt. Das Landgericht hat die Klage abge-
wiesen: Weder habe der Kläger einen Behandlungsfehler bewie-
sen, noch hafteten die Beklagten wegen eines Aufklärungsfeh-
lers. Wegen des erstinstanzlichen Vortrags der Parteien, ih-
rer Anträge und der Entscheidungsgründe wird auf das ange-
fochtene Urteil Bezug genommen (Bl. 138-151). Hiergegen
richtet sich die frist- und formgerecht eingelegte und be-
gründete Berufung des Klägers, mit der er dem Landgericht
einen Verfahrensfehler und Rechtsfehler vorwirft (vgl. die
Berufungsbegründungsschrift vom 14.08.2003, Bl. 169-177).
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Er beantragt,
das angefochtene Urteil abzuändern und
1.
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,
an den Kläger einen in das Ermessen des Gerichts
gestellten Schmerzensgeldbetrag, mindestens jedoch
6 135,50 EUR, zuzüglich 5 % Zinsen über dem Basis-
zins seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
2.
festzustellen, dass die Beklagten als Gesamt-
schuldner verpflichtet sind, dem Kläger allen ma-
teriellen und immateriellen Schaden zu ersetzen,
der ihm aus der Verkürzung seines rechten Beins um
zwei Zentimeter noch entstehen wird, soweit der
Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger
oder anderen Dritten übergegangen ist.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil.
II.
Die Berufung ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen
Erfolg.
Zu Recht hat das Landgericht entschieden, dass dem Kläger
unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch auf Er-
satz seines materiellen (Schlechterfüllung des Krankenhaus-
vertrages und § 823 BGB) und immateriellen (§§ 823, 847 BGB)
Schadens wegen seiner körperlichen Beeinträchtigungen zu-
steht. Ebenso richtig hat das Landgericht geurteilt, dass
der Kläger auch keinen Anspruch auf Geldentschädigung wegen
einer Persönlichkeitsverletzung hat (§ 823 BGB iVm. Art. 1
und 2 GG).
1.
Wegen seiner Beinverkürzung stehen dem Kläger Schadens-
ersatzansprüche aufgrund von Aufklärungsfehlern nicht
zu.
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a) Ein Aufklärungsfehler liegt nicht vor.
aa) Über die Möglichkeit einer operativen Behandlung
des Bruchs musste nicht aufgeklärt werden. Die operati-
ve Behandlung war nämlich keine echte Behandlungsalter-
native zur konservativen Behandlung.
Die Wahl der Behandlungsmethode ist primär Sache des
Arztes. Er muss dem Patienten daher im Allgemeinen
nicht ungefragt erläutern, welche Behandlungsalternati-
ven theoretisch in Betracht kommen und welche Gründe
für und gegen die eine oder andere Methode sprechen,
solange er eine Therapie wählt, die dem medizinischen
Standard entspricht. Die Aufklärung über Alternativen
ist nur dann erforderlich, wenn gleichermaßen indizier-
te und übliche Behandlungsmethoden mit wesentlich un-
terschiedlichen Risiken und Erfolgschancen eine echte
Wahlmöglichkeit
für
den
Patienten
begründen
(Geiß/Greiner
Arzthaftpflichtrecht
4. Aufl.
Kap. C
Rdn. 21 f.).
Demgegenüber hat der Sachverständige erstinstanzlich
überzeugend ausgeführt: Die konservative Behandlung sei
die übliche Behandlungsmethode gewesen. Die operative
Versorgung von Unterschenkelschaftfrakturen bei Kindern
und Jugendlichen sei nur im Falle instabiler oder offe-
ner Fraktur indiziert, die beim Kläger nicht vorgelegen
habe. Mit der Operation des Bruchs wären die Ärzte vom
medizinischen Standard abgewichen. Die Beinlängendiffe-
renz hätte nicht sicher vermieden werden können, viel-
mehr hätte die Gefahr bestanden, dass eine Beinverlän-
gerung
auftritt.
Es
wäre
zudem
das
weitere
-
gravierende - Risiko einer Knocheninfektion hinzuge-
kommen. Er - der Sachverständige selber - hätte einem
Patienten gerade wegen des im Vergleich zur konservati-
ven Behandlung erhöhten Risikos von einer Operation ab-
geraten, die, wenn nicht fehlerhaft, so jedenfalls
nicht die Behandlung der Wahl gewesen wäre.
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Diesen Ausführungen ist der Kläger mit dem Vortrag ent-
gegengetreten, durch den Fixateur externe wäre es mög-
lich gewesen, den Wachstumsprozess quasi "millimeterge-
nau" zu beeinflussen. Mit dieser Behauptung hat er je-
doch lediglich den anderslautenden und eindeutigen Aus-
führungen des Sachverständigen widersprochen, ohne auch
nur ansatzweise darzutun, aus welchen Gründen das Gut-
achten unzutreffend ist. Auch sonst bestehen keine An-
haltspunkte, die zu Zweifeln an der Richtigkeit des
Gutachtens berechtigen. Dem Antrag auf Einholung eines
weiteren Gutachtens war und ist daher nicht nachzuge-
hen.
bb) Ebenso wenig mussten der Kläger und seine Eltern -
entgegen der Ansicht des Landgerichts und des Klä-
gers - über das Risiko einer Wachstumsstörung und einer
daraus resultierenden Beinverkürzung aufgeklärt werden.
Allerdings hat der Sachverständige ausgeführt, der Klä-
ger und seine Eltern hätten auf die Gefahr der Beinver-
kürzung hingewiesen werden sollen. Dem folgt im Grund-
satz auch der Senat. Dieses Risiko war jedoch Folge der
Fraktur und nicht der Behandlung. Die Selbstbestim-
mungsaufklärung ist geboten, um dem Patienten die sinn-
volle Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts zu ermög-
lichen (Geiß/Greiner aaO. Kap. C Rdn. 5). Der Kläger
aber hatte - auch unter Berücksichtigung einer unver-
nünftigen Entscheidung - keine Alternative zur konser-
vativen Behandlung. Er hätte allein die Möglichkeit ge-
habt, sich nicht behandeln zu lassen, aber auch dann
hätte er aus der Natur der Sache heraus sein Bein ruhig
stellen müssen. Durch die konservative Behandlung der
Fraktur wurde mithin nicht in seine körperliche Integ-
rität eingegriffen, vielmehr handelte es sich um eine
bewahrende und unterstützende Tätigkeit zur natürlichen
Verletzungsheilung (so auch OLG Hamm AHRS 5000, 10; OLG
Koblenz VersR 2000, 230).
b) Ein etwaiger Aufklärungsfehler hätte sich jedenfalls
nicht ausgewirkt. Die Eltern, die der Senat informato-
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risch zur Frage der hypothetischen Einwilligung ange-
hört hat, haben zwar die fehlende Aufklärung im Kreis-
krankenhaus R beklagt, haben aber anderer-
seits eingeräumt, dass sie sich auf einen ärztlichen
Rat verlassen hätten. Mithin haben sie zugegeben, sich
nach entsprechender Beratung über die mögliche Wachs-
tumsstörung und die Möglichkeit einer Operation für die
konservative Behandlung ihres Sohnes, des damals 15-
jährigen Klägers, entschieden zu haben.
Darüber hinaus hat der Kläger einen Entscheidungskon-
flikt - sei es ein eigener, sei es einer seiner El-
tern - nicht plausibel dargetan, worauf bereits das
Landgericht hingewiesen hat. Da die Operation nach dem
Sachverständigengutachten ebenfalls das Risiko einer
Beinlängendifferenz und zusätzlich - im Hinblick auf
die Gefahr einer Knocheninfektion - ein erhöhtes und
gewichtigeres Risiko in sich getragen hätte, ist es
nicht vorstellbar, dass die Eltern bei entsprechender
Aufklärung ihren fünfzehnjährigen Sohn den Belastungen
einer Operation und eines Fixateur externe ausgesetzt
oder gar ganz von einer Behandlung der Fraktur abgese-
hen hätten bzw. sie in einem entsprechenden Entschei-
dungskonflikt gewesen wären.
2.
Ebenso wenig besteht ein Anspruch wegen Persönlich-
keitsverletzung aus § 823 BGB iVm. Art. 1 und 2 GG. Der
Anspruch scheitert schon daran, dass eine Aufklärungs-
pflichtverletzung nicht besteht und mithin schon deswe-
gen keine Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Klä-
gers gegeben ist.
Aber auch wenn mit dem Landgericht eine Verletzung der
Aufklärungspflicht angenommen würde, stünde dem Kläger
entgegen der von ihm zitierten Entscheidung des OLG Je-
na ein Anspruch auf Geldentschädigung nicht zu (vgl. zu
der Entscheidung Geiß/Greiner aaO. Kap. C Rdn. 150).
Der Kläger verkennt schon im Ansatz, dass der Anspruch
von vornherein nicht dahin gehen könnte, seine körper-
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lichen Beeinträchtigungen auszugleichen. Vielmehr würde
er sich nur darauf richten, die Persönlichkeitsverlet-
zung als solche zu kompensieren. Deswegen hat das Ober-
landesgericht Jena auch nur die heftige Wirkung der
Mitteilung über die gravierenden Folgen des Eingriffs
zum Maßstab für die Höhe der Entschädigung gemacht, ei-
ne Wirkung, die abgemildert worden wäre, wenn sich die
Patientin aufgrund ordnungsgemäßer Aufklärung auf das
bevorstehende
Risiko
hätte
einstellen
können
(VersR 1997, 586).
Die Ausführungen des Klägers weisen jedoch in die rich-
tige Richtung: Das Selbstbestimmungsrecht bezieht sich,
worauf in der Literatur zu Recht hingewiesen wird, im-
mer auf die körperliche Integrität des Patienten. Die
Verletzung
des
Selbstbestimmungsrechts
manifestiert
sich nämlich im Wesentlichen nur in dem medizinischen
Eingriff. Es erscheint daher gerechtfertigt, den Sank-
tionsgedanken auch in Bezug auf die Verletzung des
Selbstbestimmungsrechts selbst aufzugeben, wenn festge-
stellt werden kann, dass der Patient bei ordnungsgemä-
ßer Aufklärung in den Eingriff eingewilligt hätte (so
Trebille VersR 1999, 235).
Darüber hinaus erkennt die Rechtsprechung einen An-
spruch auf Geldentschädigung wegen Verletzung des all-
gemeinen Persönlichkeitsrechts nur an, wenn der allge-
meine Rechtsschutz für die Persönlichkeit sich als un-
zureichend erweist oder ganz versagt. Ergänzender de-
liktischer Rechtsschutz wird nur bei einem schwerwie-
genden Eingriff in Betracht gezogen (vgl. OLG Karlsruhe
OLGR 1999, 83 unter 3.; OLG Stuttgart VersR 1990,
432;BAG NJW 1990, 67). Die erforderliche Schwere des
Eingriffs ist regelmäßig nicht erreicht, wenn der Pati-
ent bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Behandlung
eingewilligt hätte. Im Allgemeinen ist der nicht aufge-
klärte Patient im Falle der Verwirklichung des Risikos
nicht erheblich stärker belastet, wie wenn er vor der
Behandlung bereits über die Gefahr unterrichtet worden
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wäre. Im Übrigen zeigt die Praxis nicht selten, dass
auch der informierte Patient darauf vertraut, bei ihm
werde sich das statistische Risiko nicht verwirklichen,
so dass die Betroffenheit trotz Aufklärung groß ist,
wenn sich das Risiko dann doch realisiert (so auch Tre-
bille aaO.).
Der Sanktionsgedanke erfordert in diesen Fällen keine
Geldentschädigung. Der Arzt muss bei mangelnder Aufklä-
rung regelmäßig damit rechnen, auf vollen Schadenersatz
in Anspruch genommen zu werden. Denn er haftet, worauf
der Kläger im Schriftsatz vom 17.10.2003 hingewiesen
hat, bei fehlerhafter Aufklärung grundsätzlich in vol-
lem Umfang, auch wenn die Behandlung fehlerfrei und
ggf. gar zwingend erforderlich war. Die Rechtsprechung
akzeptiert die Entlastung des Arztes mit dem Einwand
des rechtmäßigen Alternativverhaltens (hypothetische
Einwilligung) - gerade zum Schutz des Selbstbestim-
mungsrechts des Patienten - nur in Ausnahmefällen. Der
Patient muss nicht darlegen, wie er sich entschieden
hätte, sondern er muss allein plausibel machen, dass er
sich in einem Entscheidungskonflikt befunden hätte, wo-
bei es nicht auf den "verständigen" Patienten ankommt
(BGH NJW 1991, 2344, 2345). Auch sind an den Nachweis
der hypothetischen Einwilligung strenge Anforderungen
zu stellen (BGHZ 90, 103, 111). Ein weitergehender
Schutz des Selbstbestimmungsrechts des Patienten er-
scheint unter diesen Umständen nicht gerechtfertigt.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Ent-
scheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf den §§ 708
Nr. 10, 711, 713, 543, 544 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO.
Die Revision ist - entgegen der Anregung des Klägers - nicht
zugelassen. Die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO sind
nicht gegeben: Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Be-
deutung, noch dient sie der Fortbildung des Rechts, noch er-
10
fordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ei-
ne Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Das liegt schon dar-
an, dass der Senat (in Übereinstimmung mit der obergericht-
lichen Rechtsprechung) einen Aufklärungsmangel verneint hat.
Aber auch im Übrigen befindet sich der Senat in Übereinstim-
mung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs; denn
dieser hat die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage bereits
indirekt im Sinne des Senats entschieden, verlangt er doch
in ständiger Rechtsprechung, dass sich der Aufklärungsmangel
ausgewirkt hat; denn sonst wären seine Ausführungen zu den
Anforderungen an den Entscheidungskonflikt überflüssig, zu-
mindest ergänzungsbedürftig.
Im Übrigen gewährt auch das OLG Jena nicht in jedem Fall des
Aufklärungsmangels eine Geldentschädigung, wenn der Patient
einen Entscheidungskonflikt nicht hinreichend dargetan hat.
Vielmehr beschränkt es einen Anspruch auf die Fälle, in de-
nen der Patient neben der Verletzung seiner körperlichen In-
tegrität durch den Behandlungseingriff aufgrund der unter-
lassenen Aufklärung weiteres Leid hat erdulden müssen, was
der Kläger nicht dargetan hat. Mithin widerspricht die Ent-
scheidung des Senats im Ergebnis nicht der Entscheidung des
OLG Jena.
Boie
Möhring
Scheuring