Urteil des OLG Dresden vom 15.09.2010

OLG Dresden: grobe fahrlässigkeit, zustand, kürzung der versicherungsleistung, grad des verschuldens, eintritt des versicherungsfalls, fahrzeug, strafverfahren, beweislast, blutalkoholkonzentration

Leitsatz:
Die Kürzung der Versicherungsleistung um 100 % kann berech-
tigt
sein,
wenn
der
Versicherungsnehmer
einer
Kfz-
Vollkaskoversicherung das versicherte Kraftfahrzeug grob
fahrlässig im Zustand der durch Alkoholgenuss herbeigeführ-
ten absoluten Fahruntüchtigkeit beschädigt hat.
Oberlandesgericht
Dresden,
7.
Zivilsenat,
Urteil
vom
15.09.2010 - Az.: 7 U 466/10
2
Oberlandesgericht
Dresden
7. Zivilsenat
Aktenzeichen: 7 U 466/10
4 O 1277/09 LG Chemnitz
Verkündet am 15.09.2010
Die Urkundsbeamtin:
T
Justizobersekretärin
IM
NAMEN
URTEIL
In dem Rechtsstreit
F
N
,
O
S,
M
- Kläger und Berufungskläger -
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte W,
gegen
A
AG
,
v.d.d. Vorstandsvorsitzenden M W (Gz.: A. ),
- Beklagte und Berufungsbeklagte -
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte K,
wegen Forderung
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hat der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden auf-
grund der mündlichen Verhandlung vom 28.07.2010 durch
Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Zeh,
Richter am Oberlandesgericht Weidelhofer und
Richter am Oberlandesgericht Köhler
für Recht erkannt:
I.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landge-
richts Chemnitz vom 26.02.2010 wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von
120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht
die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe
von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leis-
tet.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Beschluss:
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 6.422,43 EUR
festgesetzt.
Gründe:
I.
Der Kläger macht Ansprüche aus einer Fahrzeugvollver-
sicherung geltend.
Mit Beginn zum 29.05.2008 hat der Kläger bei der Beklagten
eine Vollkaskoversicherung für seinen Pkw abgeschlossen.
Dieser Pkw war am 13.07.2008 gegen 07:15 Uhr in einen Ver-
kehrsunfall verwickelt. Der Wagen war in einer leichten
Linkskurve nach links von der Fahrbahn abgekommen und gegen
einen Laternenpfahl geprallt.
Eine beim Kläger um 08:40 Uhr entnommene Blutprobe ergab ei-
ne Blutalkoholkonzentration von 2,70 Promille.
Der
Kläger
wandte
für
die
Reparatur
des
Fahrzeugs
6.722,43 EUR
auf.
Der
Versicherungsvertrag
sieht
eine
Selbstbeteiligung von 300,00 EUR vor.
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Der Kläger behauptet, er könne sich nicht mehr an den Vor-
fall erinnern und zweifelt an, dass er der Fahrer gewesen
sei.
Wegen des in erster Instanz gehaltenen weiteren Vortrags der
Parteien sowie der vor dem Landgericht gestellten Anträge
wird auf das landgerichtliche Urteil Bezug genommen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Es bestehe Leis-
tungsfreiheit der Beklagten nach § 81 VVG. Grobe Fahrlässig-
keit liege schon deswegen vor, weil der Kläger gewusst habe,
dass er in einem erheblichen Maße Alkohol zu sich nehmen
werde. Es hätte ihm oblegen, Vorkehrungen dahingehend zu
treffen, die es ihm nicht ermöglichten, im gegebenenfalls
schuldunfähigen Zustand seinen Pkw zu führen. Der Vorwurf
der grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls
entfalle auch nicht dadurch, dass dem Kläger nicht mehr er-
innerlich sei, den Pkw geführt zu haben. Dem Kläger habe es
oblegen, zumindest vorzutragen, durch welchen berechtigten
Fahrer das streitgegenständliche Schadensereignis herbeige-
führt worden sei. Der Kläger könne die Darlegungslast nicht
der Beklagten auferlegen.
Eine Kürzung der Versicherungsansprüche auf Null sei berech-
tigt. Das Fehlverhalten des Klägers im Zusammenhang mit dem
Eintritt des Versicherungsfalls sei derart schwerwiegend,
dass dem Kläger der Versicherungsschutz zu verwehren sei.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Berufung. Es werde
die Unterstellung der Fahrereigenschaft des Klägers ange-
griffen. Das Landgericht habe völlig außer Acht gelassen,
dass dem Kläger der Zeitraum unmittelbar vor dem Unfaller-
eignis nicht mehr in Erinnerung sei. Für die Voraussetzungen
der grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalles
sei die Beklagte vollumfänglich darlegungs- und beweisbelas-
tet. Der Kläger habe auch nicht etwaige mögliche andere Fah-
rer angeben müssen.
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Selbst für den Fall, dass der Kläger den Pkw gefahren habe,
sei angesichts der Alkoholisierung davon auszugehen, dass
der Kläger bereits vor Rückkehr zu seinem Pkw als Schlaf-
stätte den Zustand der Schuldunfähigkeit erreicht habe.
Zumindest hätte dem Kläger nach § 81 Abs. 2 VVG eine Quote
zugestanden.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils des Land-
gerichts Chemnitz vom 26.02.2010, Az.: 4 O 1277/09, die
Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 6.422,43 EUR
nebst
außergerichtlicher
Rechtsanwaltskosten
von
627,13 EUR sowie Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten
über dem Basiszinssatz aus 6.439,43 EUR und aus weite-
ren 610,13 EUR seit dem 11.01.2010 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Unstreitig trägt sie in zweiter Instanz vor, dass die Zeugin
S unmittelbar nach dem Verkehrsunfall bemerkte, wie der
Kläger an seinem Pkw mit einer übergezogenen Bettdecke
stand. Im Strafverfahren hat die Zeugin den Kläger dabei als
die Person wiedererkannt, die zum Unfallzeitpunkt bei dem
Fahrzeug stand. Weitere Personen befanden sich nicht in der
Nähe. Der Kläger war zu diesem Zeitpunkt auch im Besitz der
Fahrzeugschlüssel. Die Zeugin hat in ihrer Einvernahme im
Strafverfahren ausgesagt, dass der Kläger sich in das Fahr-
zeug gesetzt habe und versucht habe, den Motor zu starten,
was aber nicht funktioniert habe. Im unmittelbaren zeitli-
chen Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall befand sich kein
Dritter in der Nähe des Fahrzeugs. Der Kläger wurde in un-
mittelbarer Nähe zum Fahrzeug festgestellt.
Die Beklagte ist der Auffassung, dass der Kläger nicht habe
nachweisen können, dass er zum Zeitpunkt des Versicherungs-
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falls schuldunfähig gewesen sei. Insbesondere das Verhalten
des Klägers an der Unfallstelle lasse nicht den Schluss dar-
auf zu, dass der Kläger schuldunfähig gewesen sei. Der vor
dem Amtsgericht im Strafverfahren in der Hauptverhandlung
angehörte Sachverständige Dr. P habe in seiner Aussage
insbesondere darauf hingewiesen, dass das Telefonieren des
Klägers am Unfallort gegen einen Vollrausch spreche.
Der Kläger hält das neue Vorbringen der Beklagten zu den Um-
ständen, die auf seine Fahrereigenschaft hindeuten sollen,
für verspätet.
Der Senat hat die Strafakte der Staatsanwaltschaft Chemnitz,
Az.: 550 Js 25097/08, beigezogen und das darin enthaltene
Sachverständigengutachten
des
Sachverständigen
Dr.
P
(Bl. 61 f. der Strafakte) zum Zwecke der Verwertung zum Ge-
genstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Wegen des In-
halts wird auf das Gutachten Bezug genommen.
Wegen des weiteren Vortrags der Parteien wird auf die ge-
wechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Nieder-
schriften Bezug genommen.
II.
Die Berufung hat keinen Erfolg. Der Kläger hat gegen die Be-
klagte keinen Anspruch auf Ersatz des Fahrzeugschadens, weil
er den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt hat
(§ 81 Abs. 2 VVG).
1.
Der Kläger hat den Unfall selbst herbeigeführt.
Der Senat kann sich insoweit allerdings nicht auf die
entsprechende Feststellung des Landgerichts stützen.
Denn die Auffassung des Landgerichts, der Kläger müsse
zumindest vortragen, durch welchen berechtigten Fahrer
das Fahrzeug geführt wurde, ist unzutreffend. Die Dar-
legungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des
§ 81 VVG liegen bei der Beklagten. Soweit dem Kläger
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tatsächlich jede Erinnerung an den Unfall fehlt, was
ihm nicht zu widerlegen ist, kann er sich auf den Un-
fall hinsichtlich des Unfallhergangs und somit auch der
Frage, wer das Fahrzeug gefahren hat, auf sein Nicht-
wissen berufen.
Die Fahrereigenschaft des Klägers steht aber fest auf-
grund der Gesamtumstände, die die Beklagte erstmals in
der zweiten Instanz ausdrücklich vorgetragen hat. Der
Vortrag ist auch zu berücksichtigen. § 531 Abs. 2 ZPO
steht dem nicht entgegen. Denn die vorgetragenen Indi-
zien sind unstreitig. Unstreitiges Vorbringen ist in
der Berufungsinstanz aber immer zu berücksichtigen
(Zöller/Heßler, ZPO, 28. Aufl., Rn. 20 m.w.N.).
Dafür, dass der Kläger gefahren ist und auch den Unfall
dabei verursacht hat, spricht, dass er von der Zeugin S
unmittelbar nach dem Unfall bei seinem Fahrzeug gesehen
wurde. Er befand sich auch im Besitz der Fahrzeug-
schlüssel. Weitere Personen sind bei dem Fahrzeug nicht
gesehen worden.
Unter diesen Umständen spricht alles dafür, dass der
Kläger sein Fahrzeug selbst gefahren hat. Zwar liegt
keine absolute Gewissheit vor, dass nicht doch ein
Dritter das Fahrzeug gefahren hat. Allerdings ist abso-
lute Gewissheit auch nicht erforderlich. Ausreichend
ist es, sich mit einer "persönlichen Gewissheit" zu be-
gnügen, welchen den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne
sie völlig auszuschließen (Zöller/Greger, ZPO, 28.
Aufl., § 286 Rn. 19 m.w.N.). Irgendein Anhaltspunkt da-
für, dass ein anderer das Fahrzeug gefahren haben könn-
te, liegt nicht vor. Hingegen war der Kläger unmittel-
bar nach dem Unfall am Fahrzeug gesehen worden und er
hatte auch den Schlüssel bei sich.
2.
Der Kläger hat den Unfall auch grob fahrlässig herbei-
geführt. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die ver-
kehrserforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße
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verletzt wird, schon einfachste, ganz naheliegende
Überlegungen nicht angestellt werden und das nicht be-
achtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten
musste (Palandt/Grüneberg, BGB, 69. Aufl., § 277 Rn. 5
m.w.N. aus der ständigen Rechtsprechung des BGH). Das
Führen eines Kraftfahrzeuges im Zustand absoluter Fahr-
untüchtigkeit ist grundsätzlich grob fahrlässig (BGH,
Urt. v. 22.02.1989, IVa ZR 274/87, juris).
Grob fahrlässiges Handeln des Klägers sieht der Senat -
entgegen dem Landgericht - allerdings nicht darin, dass
der Kläger keine hinreichenden Maßnahmen getroffen hat,
sich selbst eine Fahrt im alkoholisierten Zustand un-
möglich zu machen.
Hierauf kommt es aber im Ergebnis nicht an, denn der
Kläger hat den Unfall nicht, wie vom Landgericht unter-
stellt, im schuldunfähigen Zustand verursacht.
Der Kläger kann nicht nachweisen, dass er schuldunfähig
war. Im Rahmen des § 81 VVG ist die Vorschrift des
§ 827 BGB entsprechend anzuwenden (BGH, Urt. v.
22.02.1989, a.a.O., juris, Rn. 13 für die dem § 81 VVG
n.F. entsprechende Vorschrift des § 61 VVG a.F.). Damit
trifft den Kläger die Beweislast dafür, dass er sich im
Zustand der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie
Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter
Störung der Geistestätigkeit befunden hat. Der Senat
hat insoweit das im Strafverfahren eingeholte mündliche
Sachverständigengutachten des Sachverständigen Dr. P ,
Facharzt für Rechtsmedizin im Institut für Rechtsmedi-
zin L , Außenstelle C , verwertet (§ 411a ZPO). Der
Sachverständige hat zwar festgestellt, dass ein Voll-
rausch des Klägers zum Unfallzeitpunkt nicht ausge-
schlossen werden kann. Sicher feststellen konnte er den
Vollrausch jedoch nicht. Er führte aus, dass insbeson-
dere das Telefonieren am Unfallort gegen einen Voll-
rausch spreche. Als Blutalkoholkonzentration hat er im
Wege der Rückrechnung 3,18 Promille ermittelt. Hierbei
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ist allerdings zu berücksichtigen, dass es sich um eine
Rückrechnung handelt, bei der zu Gunsten des Klägers,
des Angeklagten, ein möglichst hoher Wert errechnet
werden musste. Da der Kläger im vorliegenden Verfahren
die Beweislast dafür trägt, dass er sich in einen einem
die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand be-
funden hat, kann lediglich von den Rückrechnungs-
grundsätzen ausgegangen werden, nach denen eine Min-
destblutalkoholkonzentration errechnet wird. Die Blut-
alkoholkonzentration wäre demnach deutlich niedriger
als 3,18 Promille. Aber selbst bei einer Blutalkohol-
konzentration in dieser Höhe kann nicht automatisch auf
Schuldunfähigkeit geschlossen werden (OLG Köln, Urt.
von 07.06.1994, 9 U 70/94, juris; OLG Hamm, Urt. vom
22.11.1991, 20 U 141/91, juris). Der Annahme der
Schuldunfähigkeit entgegenstehende Anhaltspunkte hat
der Sachverständige aber gerade festgestellt.
Grobe Fahrlässigkeit erfordert darüber hinaus auch in
subjektiver Hinsicht ein gesteigertes Verschulden. Die
entsprechende Anwendung des § 827 BGB im Rahmen des
§ 81 VVG bedeutet nicht, dass der Versicherer damit
auch der ihm obliegenden Beweislast für die subjektiven
Voraussetzungen grober Fahrlässigkeit enthoben wäre.
Eine erheblich verminderte Einsichts- und Hemmungsfä-
higkeit kann bei der Feststellung grober Fahrlässigkeit
nicht außer Betracht bleiben. Sie schließt indessen die
Annahme des für grobe Fahrlässigkeit erforderlichen ge-
steigerten Verschuldens nicht von vornherein aus. Grobe
Fahrlässigkeit kann trotz erheblich eingeschränkter
Einsichts- und Hemmungsfähigkeit zu bejahen sein, wenn
ganz elementare Verhaltensregeln verletzt werden, deren
Einhaltung auch in diesem Zustand unbedingt erwartet
werden muss. So verhält es sich in der Regel bei der
Trunkenheitsfahrt (BGH, Urt. v. 22.02.1989, a.a.O., ju-
ris, Rn. 13, 14). Im vorliegenden Fall bestehen keine
Anhaltspunkte, dass der Kläger in seiner Einsichts- und
Hemmungsfähigkeit so erheblich eingeschränkt war, dass
die Einhaltung einer der elementarsten Verkehrsregeln
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überhaupt, nämlich des Verbots des Führens von Kraft-
fahrzeugen im fahruntüchtigen Zustand, von ihm nicht
mehr hätte erwartet werden können.
Dass die Alkoholisierung des Klägers ursächlich für den
Unfall war, steht bereits nach dem Beweis des ersten
Anscheins fest. Die von dem Kläger zu meisternde Fahr-
situation war denkbar einfach. Die von ihm zu fahrende
Kurve war lediglich eine leichte Linkskurve, in der der
Kläger nach links herausgetragen wurde.
3.
Da der Kläger den Versicherungsfall somit grob fahrläs-
sig herbeigeführt hat, ist die Beklagte gemäß § 81
Abs. 2 VVG berechtigt, ihre Leistungen in einem der
Schwere des Verschuldens des Klägers entsprechenden
Verhältnis zu kürzen.
Diese Vorschrift ist mit der Neufassung des Versiche-
rungsvertragsgesetzes zum 01.01.2008 neu eingeführt
worden. Nach der davor geltenden gesetzlichen Regelung
war der Versicherer im Falle der grob fahrlässigen Her-
beiführung des Versicherungsfalles frei (sogenanntes
Alles-oder-Nichts-Prinzip). Der Gesetzgeber wollte die-
ses Prinzip durch eine Quotelung ersetzen, um im Ein-
zelfall Entscheidungen zu ermöglichen, die den jeweili-
gen Schutzinteressen des Versicherungsnehmers Rechnung
tragen. Der Umfang der Leistungspflicht soll sich daher
nach dem Grad des Verschuldens bestimmen. Für das Aus-
maß der Leistungsfreiheit des Versicherers soll nach
der Gesetzesbegründung entscheidend sein, ob die grobe
Fahrlässigkeit im konkreten Fall nahe beim bedingten
Vorsatz oder aber eher im Grenzbereich zur einfachen
Fahrlässigkeit liegt (Begründung des Gesetzentwurfes,
Bundestagsdrucksache 16/3945, Seite 80).
Eine Kürzung um 100 %, also ein vollständiger Leis-
tungsentfall, ist damit nach nahezu einhelliger Auffas-
sung in der Literatur und der bisher ergangenen Recht-
sprechung nicht ausgeschlossen (LG Tübingen, Urt. v.
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26.04.2010, 4 O 326/09, juris, Rn. 15; Looschelders in
Langheid/Wendt, VVG, § 81, Rn. 125; Karczewski in Rüf-
fer/Halbach/Schimikowski,
VVG,
§
81
Rn. 99,
Kloth/Neuhaus, in Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskom-
mentar zum Versicherungsvertragsrecht, § 81 Rn. 62,
Oberpriller in Halm/Engelbrecht/Krahe, Handbuch des
Fachanwalts Versicherungsrecht, 3. Aufl., § 81 Rn. 107;
Unberath, NZV 2008, 537, 540; a.A. Marlow, VersR 2007,
43, II.2 b) a.E.)
Dem schließt sich der Senat an. Der Gesetzeswortlaut
spricht lediglich davon, dass die Leistung in einem der
Schwere des Verschuldens entsprechenden Verhältnis ge-
kürzt werden darf. Unter Kürzung kann auch eine Kürzung
auf Null verstanden werden. Die weit überwiegend ver-
tretene Auffassung ist daher mit dem Wortlaut verein-
bar. Dieses Verständnis der Norm wird auch dem Zweck
des Gesetzes gerecht. Ziel des Gesetzgebers war es,
dass eine möglichst dem Einzelfall gerecht werdende
Kürzung vorgenommen werden kann. Die Kürzungsquote soll
sich am individuellen Verschulden orientieren. Da je-
denfalls Fälle denkbar sind, in denen die grobe Fahr-
lässigkeit fast so schwer wiegt wie vorsätzliches Han-
deln, ist auch eine Kürzungsquote von 100 % nicht von
vornherein ausgeschlossen. Ob auch Fälle denkbar sind,
in denen die grobe Fahrlässigkeit so nah an der einfa-
chen Fahrlässigkeit liegt, dass keine Kürzung gerecht-
fertigt ist, kann offen bleiben. Jedenfalls kann dar-
aus, dass das Gesetz bei vorsätzlichem Handeln einen
vollständigen Leistungswegfall zwingend vorsieht, ent-
gegen der Auffassung von Marlow (a.a.O.) nicht ge-
schlossen werden, dass bei grob fahrlässiger Verursa-
chung nur eine teilweise Leistungskürzung in Betracht
kommt. Dies würde die vom Gesetzgeber gerade gewollte
Einzelfallbetrachtung von vornherein einschränken. Bei
einer besonders schwerwiegenden groben Fahrlässigkeit
kommt daher auch eine Kürzung um 100 % in Betracht.
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Der Senat ist der Auffassung, dass beim Führen eines
Kraftfahrzeugs im absolut fahruntüchtigen Zustand eine
Kürzung um 100 % gerechtfertigt ist. Ein solcher Ver-
kehrsverstoß gehört nach der ständigen Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs zu den schwersten Verkehrsver-
stößen überhaupt (BGH, Urt. v. 22.02.1989, a.a.O.,
Rn. 15). Es handelt sich um ein besonders gefahrträch-
tiges Verhalten, und zwar sowohl für Dritte wie auch
für den Fahrer und - worauf es im Rahmen der Vollkasko-
versicherung ankommt - das von ihm geführte Fahrzeug
selbst. Nach Auffassung des Senats erscheint daher eine
Kürzung um 100 % jedenfalls beim Führen des Kraftfahr-
zeugs im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit berech-
tigt. Es liegt auf der Hand, dass in diesem Zustand,
zumal wie im vorliegenden Fall bei einer Alkoholisie-
rung, die ganz besonders hoch ist, Unfälle selbst ohne
Hinzukommen irgendwelcher weiterer Einflüsse verursacht
werden können. Die grobe Fahrlässigkeit beim Führen ei-
nes Kraftfahrzeugs im Bereich der absoluten Fahruntüch-
tigkeit liegt in Bezug auf den dadurch verursachten Un-
fall sehr nahe beim bedingten Vorsatz. Dies rechtfer-
tigt den vollständigen Leistungsentfall (ebenso LG Tü-
bingen, a.a.O.; Oberpriller, a.a.O.; Looschelders,
a.a.O., Rn. 132; Karczewski, a.a.O., Rn. 105 [70 % bis
100 % Kürzung]; Kloth/Neuhaus, a.a.O., Rn. 62).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Ent-
scheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus
§§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision ist zuzulassen, weil die Frage, ob § 81 Abs. 2
VVG auch einen vollständigen Leistungsentfall rechtfertigen
kann, grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) hat.
Zeh
Weidelhofer
Köhler