Urteil des OLG Dresden vom 13.03.2017
OLG Dresden: einwilligung, unerlaubte handlung, körperliche unversehrtheit, operation, schmerzensgeld, eingriff, schadenersatz, begriff, gefahr, rechtshängigkeit
Leitsatz:
1. Die Aufklärung als Grundlage des Selbstbestimmungsrechts
soll dem Patienten aufzeigen, was der Eingriff für seine
persönliche Situation bedeuten kann. Er soll Art und Schwere
des Eingriffs erkennen und ein allgemeines Bild von Schwere
und Richtung des konkreten Risikospektrums gewinnen können.
Risiken dürfen nicht dramatisiert, aber auch nicht verharm-
lost werden. Erforderlich ist eine klare, den konkreten Fall
vollständig erfassende Risikobeschreibung. 2. Der Patient
ist vor einer Distraktion vom Zahnarzt über die Möglichkeit
eines Kieferbruchs aufzuklären. 3. Mit der erstmals in der
Berufungsinstanz erhobenen Behauptung, der Patient hätte
auch bei gehöriger Aufklärung eingewilligt (sog. hypotheti-
sche Einwilligung), kann der Arzt nicht mehr gehört werden
(§ 531 Abs. 2 ZPO). 4. Nach der höchstrichterlichen Recht-
sprechung ist davon auszugehen, dass das "Berufen auf hypo-
thetische Einwilligung" nicht das bloße Äußern einer
Rechtsauffassung ist, sondern die ausdrückliche Behauptung
einer "inneren Tatsache", nämlich der Einwilligung bei einem
gedachten Geschehensablauf. Deswegen ist dieser Einwand nur
zu berücksichtigen, wenn der Arzt diesen Einwand mit ent-
sprechendem Vortrag erhebt.
OLG Dresden, 4. Zivilsenat, Az.: 4 U 1744/08, Urteil vom
24.09.2009
2
Oberlandesgericht
Dresden
4. Zivilsenat
Aktenzeichen: 4 U 1744/08
6-O-3780/06 LG Dresden
Verkündet am 24.09.2009
Die Urkundsbeamtin:
Tanneberger
Justizobersekretärin
IM
NAMEN
GRUND- UND TEILURTEIL
In dem Rechtsstreit
xxx
Klägerin und Berufungsklägerin
Prozessbevollmächtigte: xxx
gegen
xxx
Beklagter und Berufungsbeklagter
Prozessbevollmächtigte: xxx
wegen Forderung
3
hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden auf-
grund der mündlichen Verhandlung vom 26.08.2009 durch
Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Boie,
Richter am Oberlandesgericht Denk und
Richter am Oberlandesgericht Hörner
für Recht erkannt:
I.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Land-
gerichts Dresden vom 26.09.2008, Az.: 6 O 3780/06,
teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1.
Die Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld wird dem
Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.
2.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin
1.100,00 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten
über dem Basiszinssatz seit dem 05.01.2007 zu zah-
len. Im Übrigen wird der Antrag zu 2) unter
gleichzeitiger teilweiser Zurückweisung der Beru-
fung abgewiesen.
3.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflich-
tet ist, der Klägerin sämtliche materiellen Schä-
den, die aus der fehlerhaften Behandlung resultie-
ren, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf
Sozialversicherungs- bzw. Krankenversicherungsträ-
ger oder sonstige Träger übergehen. Im Übrigen
wird der Antrag zu 3) unter gleichzeitiger teil-
weiser Zurückweisung der Berufung abgewiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbe-
halten.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte
kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheits-
leistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrages ab-
wenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung
4
Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages
leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e :
I.
Die
Klägerin
verlangt
Schmerzensgeld
(mindestens
50.000,00 EUR), Schadenersatz und die Feststellung der Er-
satzpflicht für zukünftige materielle und immaterielle Schä-
den wegen behaupteter fehlerhafter zahnärztlicher Behandlung
durch den Beklagten. Sie macht ferner geltend, über das ein-
getretene Risiko nicht aufgeklärt worden zu sein.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf das Urteil
wird, auch zur näheren Darstellung des Sachverhalts, Bezug
genommen. Das Landgericht hat zur Begründung ausgeführt, die
Klägerin habe in die Behandlung wirksam eingewilligt, weil
der Beklagte die Aufklärung über die Möglichkeit eines Kie-
ferbruches zwar nicht bewiesen habe, sich aber auf eine
hypothetische Einwilligung der Klägerin berufen könne. Wei-
tere Aufklärungspflichtverletzungen bestünden nicht. Die
Distraktionsbehandlung sei ohne Fehler durchgeführt worden.
Die operativ-konservative Frakturversorgung sei eine mögli-
che Behandlungsmethode gewesen. Eine rein operative Behand-
lung hätte nicht zu einem besseren Ergebnis geführt.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin. Sie wendet
ein, der Beklagte habe sich erstinstanzlich auf eine hypo-
thetische Einwilligung nicht berufen. Die Befragung des
Landgerichts über einen Entscheidungskonflikt der Klägerin
sei unzulässig gewesen. Dieser habe ohnehin bestanden, weil
bei Bekanntheit des Risikos eines Kieferbruchs auf die ge-
plante Distraktion verzichtet worden wäre. Das Landgericht
habe zu Unrecht einen Behandlungsfehler bei der Frakturver-
sorgung verneint. Die gewählte Methode sei nicht die erste
5
Wahl gewesen. Die Klägerin sei auch nicht über mögliche Be-
handlungsalternativen nach der Erstversorgung aufgeklärt
worden.
Die Klägerin stellt folgende Anträge:
1.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein ange-
messenes Schmerzensgeld, dessen Höhe ausdrücklich in
das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 5 % Zin-
sen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu
zahlen, wobei das Schmerzensgeld mindestens eine Höhe
von 50.000,00 EUR haben sollte.
2.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin Schaden-
ersatz i.H.v. 3.100,00 EUR nebst 5 % Zinsen über dem
Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
3.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet
ist, der Klägerin sämtliche materiellen und weiteren
immateriellen Schäden, die aus der fehlerhaften Behand-
lung resultieren, zu ersetzen, soweit die Ansprüche
nicht auf Sozialversicherungs- bzw. Krankenversiche-
rungsträger oder sonstige Träger übergehen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt die angefochtene Entscheidung unter Wiederho-
lung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens. Er
führt ergänzend aus, die Klägerin habe einen Entscheidungs-
konflikt nicht plausibel dargestellt. Sie hätte daher bei
Aufklärung über die Möglichkeit eines Kieferbruchs der Be-
handlung in gleicher Weise zugestimmt. Eine wirksame hypo-
thetische Einwilligung sei keine Einrede, die nur und erst
zu berücksichtigen sei, wenn sich der Behandler hierauf be-
ruft. Es handele sich um einen Einwand, der von gerichtswe-
gen zu berücksichtigen sei, wenn die Tatsachen hierfür vor-
getragen, d. h. unstreitig oder bewiesen sind. Die Fraktur-
6
versorgung sei anfänglich und auch am Folgetag korrekt er-
folgt. Die Klägerin sei über bestehende alternative Möglich-
keiten aufgeklärt worden.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Anhörung des Sachverstän-
digen Prof. xxxx. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme
wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom
26.08.2009, wegen der weiteren Einzelheiten des Verfahrens
und des wechselseitigen Parteivorbringens auf den Aktenin-
halt Bezug genommen.
II.
Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristge-
recht eingelegt und begründet worden. Das Rechtsmittel hat
teilweise Erfolg, weil die Klage auf Zahlung von Schmerzens-
geld dem Grunde nach gerechtfertigt ist und ein Anspruch auf
Zahlung von Schadenersatz i.H.v. 1.100,00 EUR sowie auf
Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz zukünftiger mate-
rieller Schäden besteht. Im Übrigen ist die Berufung unbe-
gründet.
1.
Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit stellen
sich rechtlich als unerlaubte Handlung und zugleich als
Vertragsverletzung dar, wenn sie nicht von einer wirk-
samen Patienteneinwilligung gedeckt sind. Dies setzt
eine ordnungsgemäße Aufklärung über die mit der Behand-
lung verbundenen Risiken voraus. Daran hat es vorlie-
gend gefehlt. Ob dem Beklagten darüber hinaus auch
schadensursächliche Fehler unterlaufen sind, kann da-
hinstehen.
2.
Die Aufklärung als Grundlage des Selbstbestimmungs-
rechts soll dem Patienten aufzeigen, was der Eingriff
für seine persönliche Situation bedeuten kann. Er soll
Art und Schwere des Eingriffs erkennen und ein allge-
meines Bild von Schwere und Richtung des konkreten Ri-
sikospektrums gewinnen können. Risiken dürfen nicht
dramatisiert, aber auch nicht verharmlost werden. Er-
7
forderlich ist eine klare, den konkreten Fall vollstän-
dig erfassende Risikobeschreibung. Dem wird die Aufklä-
rung im Streitfall nicht gerecht, weil der Beklagte die
Klägerin vor dem Eingriff über die Möglichkeit eines
Kieferbruchs hätte aufklären müssen und er eine solche
Aufklärung nicht nachgewiesen hat.
Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom
17.01.2008 ausgeführt, es existierten bisher nur wenige
Untersuchungen mit kleinen Patientenkollektiven zu auf-
tretenden Komplikationsraten bei der Distraktion. Eine
Komplikation stelle der Kieferbruch dar. Wissenschaft-
liche Veröffentlichungen existierten aus den Jah-
ren 2005 und 2007, für die eine Faktur bei zwei von
insgesamt 37 untersuchten Patienten beschrieben und ei-
ne Rate von 2 % unmittelbar operationsbezogener Fraktu-
ren
angegeben
worden
sei.
Im
Kammertermin
vom
29.08.2009 hat der Sachverständige ergänzt, es gebe
zwar keine Leitlinien, die eine Aufklärung in Abhängig-
keit von dem vorhandenen Restknochenangebot vorsehen.
Er hat aber betont, man müsse bei einer Distraktion
per se davon ausgehen, dass man schon ein reduziertes
Knochenangebot vorfindet. Bei einem bleibenden Basisbe-
reich von 5 mm bis 7 mm müsse eine Aufklärung, dass ein
Knochenbruch auftreten könne, vorgenommen werden. Der
Kieferbruch stelle immer ein Restrisiko der Operation
dar. Der zutreffenden Feststellung des Landgerichts, es
liege eine Verletzung der Aufklärungspflicht vor, ist
der Beklagte im Berufungsverfahren auch nicht entgegen-
getreten.
3.
Entgegen der Auffassung des Landgerichts beruft sich
der Beklagte ohne Erfolg darauf, die Klägerin hätte
auch in Kenntnis des erhöhten Risikos in die Operation
eingewilligt.
3.1 Mit der erstmals in der Berufungsinstanz erhobenen Be-
hauptung, die Klägerin hätte auch bei gehöriger Aufklä-
rung eingewilligt (sog. hypothetische Einwilligung),
8
kann
der
Beklagte
nicht
mehr
gehört
werden
(§ 531 Abs. 2 ZPO).
3.2 Unter Verteidigungsmittel sind jegliche zur Verteidi-
gung gegen den Sachantrag aufgestellte tatsächliche und
rechtliche Behauptungen zu verstehen (Zöller/Greger,
ZPO, 27. Aufl., § 282 Rdn. 2). Nach der höchstrichter-
lichen Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass das
"Berufen auf hypothetische Einwilligung" nicht das blo-
ße Äußern einer Rechtsauffassung ist, sondern die aus-
drückliche Behauptung einer "inneren Tatsache", nämlich
der Einwilligung bei einem gedachten Geschehensablauf.
Ob sich diese Tatsache rechtlich als Behauptung eines
alternativen Kausalverlaufs darstellt oder als Einwand
rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Patienten, oder
ob schlicht gesagt wird, auch eine hypothetische Ein-
willigung sei - wie die tatsächliche - unmittelbar als
Rechtfertigungsgrund anzusehen, ist ohne Bedeutung. Re-
levant ist allein, dass insoweit eine klare Vortrags-
last auf Seiten des beklagten Arztes besteht. Es muss
mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck kommen,
dass er die Einwilligung im Falle ordnungsgemäßer Auf-
klärung geltend machen will; er muss sie "behaupten".
Dann und nur dann hat der Kläger Anlass, seinerseits zu
erwidern, indem er einen Entscheidungskonflikt darlegt
(BGH NJW 1994, 799; BGH NJW 2005, 1718; BGH NJW 2009,
1209). Auch wenn der technische Begriff "hypothetische
Einwilligung" nicht ausdrücklich fallen muss, so muss
doch eindeutig sein, dass es ein "Berufen" im Sinne ei-
nes ziel- und zweckgerichteten Sachvortrags hierauf ge-
ben soll. Nicht ausreichend ist aber, dass sich aus dem
Parteivortrag Anhaltspunkte ergeben, die für sich ge-
nommen mehr oder minder zwingend den Schluss auf eine
möglicherweise zu begründende hypothetische Einwilli-
gung rechtfertigen würden. Im Streitfall wurde dieser
Einwand erst im zweiten Rechtszug erhoben. Einen ziel-
gerichteten Vortrag des Beklagten in erster Instanz,
der auf eine hypothetische Einwilligung deuten könnte,
existiert nicht. Das Landgericht hat vielmehr gegen den
9
Grundsatz verstoßen, dass eine hypothetische Einwilli-
gung nicht von Amts wegen erörtert werden darf (BGH
NJW 1994, 2414). Der Beklagte seinerseits hat sich
erstinstanzlich weder vor noch in dem Kammertermin vom
29.08.2008 noch auch nur danach darauf berufen, die
Klägerin hätte auch nach ordnungsgemäßer Aufklärung in
die Operation eingewilligt. Im Falle der Berufung auf
die Grundsätze rechtmäßigen Alternativverhaltens hat
der Schädiger geltend zu machen, dass der Schaden auch
bei normgerechtem Verhalten eingetreten wäre. Dem Be-
klagtenvortrag muss daher zu entnehmen sein, dass er
sich nicht nur auf die behauptete ordnungsgemäße Auf-
klärung, sondern auch - wenngleich nur hilfweise - auf
eine
fiktive
Einwilligungssituation
bezieht
(BGH
NJW 2009, 1209).
3.3 Der Beklagte hatte Anlass, sich schon in erster Instanz
auf eine hypothetische Einwilligung zu berufen. Denn
eine Partei muss schon im ersten Rechtszug die An-
griffs- und Verteidigungsmittel vorbringen, deren Rele-
vanz für den Rechtsstreit ihr bekannt ist oder bei Auf-
wendung der gebotenen Sorgfalt hätte bekannt sein müs-
sen und zu deren Geltendmachung sie dort im Stande ist
(Musielak/Ball, ZPO, 6. Aufl., § 531 Rdn. 19; BGH
NJW 2009, 1209). Der Beklagte hätte nach dem Ergebnis
der erstinstanzlichen Beweisaufnahme erwägen müssen,
dass das Landgericht seinem Sachvortrag zu einer ord-
nungsgemäßen Aufklärung nicht folgen würde und es gebo-
ten war, sich zumindest hilfsweise mit rechtsmäßigem
Alternativverhalten zu verteidigen. Dies war nicht ent-
behrlich, weil das Landgericht von Amts wegen und damit
zu Unrecht mit der Klägerin die Frage einer hypotheti-
schen Einwilligung erörtert hat.
3.4 Bei dieser Sachlage ist das neue Verteidigungsmittel
des Beklagten nach der zwingenden Vorschrift des
§ 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO nicht zuzulassen. Denn die der
hypothetischen Einwilligung zugrunde liegenden Tatsa-
chen sind zwischen den Parteien streitig. Die Klägerin
10
behauptet weiterhin, dass sie auf die geplante Distrak-
tion verzichtet und sie niemals in die Operation einge-
willigt hätte, wenn man sie über das Risiko eines Kie-
ferbruchs aufgeklärt hätte (BGH NJW 2009, 1209).
Unabhängig hiervon ist dem Landgericht auf der Grundla-
ge der protokollierten Angaben der Klägerin nicht in
der Ansicht beizupflichten, sie habe einen Entschei-
dungskonflikt nicht plausibel gemacht. Die Klägerin hat
sich dahin geäußert, sie hätte, zumal sie beruflich
aufs Sprechen angewiesen gewesen sei, bei Kenntnis von
der Gefahr eines Kieferbruchs, der ihr von Fahrradstür-
zen her ein Begriff gewesen sei, keine Einwilligung er-
teilt und auch den Aufklärungsbogen nicht unterschrie-
ben. Das ist nach Ansicht des Senats auch unter Berück-
sichtigung der Tatsache, dass sie eine Nervschädigung
und allgemein ein "Fehlschlagen" in Kauf genommen hat,
nicht
unplausibel.
Auch
die
Entschlossenheit
zur
Distraktion nach dem Scheitern des Behandlungsversuchs
von Dr. xxxx steht der Plausibilität nicht entgegen.
Zur Gefahr des Nervschadens hat sie ausgeführt, sie ha-
be darauf vertraut, dass sie sich nicht verwirklichen
werde, weil man ihr versichert habe, man würde den Nerv
sehen und aufpassen, dass nichts passiert. Im Übrigen
ist es gerade angesichts der Fragilität des vorhandenen
Knochenmaterials der Klägerin durchaus nachvollziehbar
und verständlich, wenn ein möglicher Bruch eher Be-
fürchtungen weckt als ein Nervschaden, weil jener wegen
der Prädestination als naheliegender empfunden wird.
Unter einem nicht näher beschriebenen Fehlschlag als
solchem musste sich die Klägerin nicht unbedingt eine
Verletzung vorstellen; vielmehr ist eher an eine bloße
Erfolglosigkeit zu denken in dem Sinne, dass die
Distraktion die erhoffte Initialzündung für den Kno-
chenaufbau nicht auslöst. Dass der Beklagte der Kläge-
rin diesen Hinweis im Aufklärungsbogen auch nur in die-
sem Sinne verdeutlicht hat, geht aus seinen eigenen An-
gaben zum Aufklärungsgespräch hervor. Er hat angegeben,
11
er habe die Methode, wenngleich ohne Gewähr für Besse-
rung, als "sicher" beschrieben.
Die Entschlossenheit, mit der sich die Klägerin (in Un-
kenntnis des Risikos eines Kieferbruchs) auf die
Distraktion eingelassen hat, steht einem wirklichen
Entscheidungskonflikt ebenso wenig entgegen wie das
vorherige Scheitern des Versuchs von Dr. xxxx. Denn die
Distraktion durch einen niedergelassenen Kieferchirur-
gen war auch für festsitzenden Zahnersatz nicht ohne
Alternative, und sei es nur, dass die Klägerin die -
später durchgeführte - Transplantation von Beckenkno-
chen in Erwägung gezogen hätte. Hierzu befragt, hat die
Klägerin im Kammertermin angegeben, sie könne im Nach-
hinein nicht einschätzen, ob sie sich dafür entschieden
hätte. Diese Angaben genügen, um einen wirklichen Kon-
flikt darzustellen.
4.
Wenn der Arzt den Patienten nicht ausreichend über die
Risiken einer geplanten Operation aufgeklärt hat, ist
er für die nicht durch wirksame Einwilligung gedeckte
Körperverletzung bei der Operation verantwortlich und
haftet für den Eingriff als solchen wie für sämtliche
Folgeschäden materieller und immaterieller Art, die in
adäquat kausalem Zusammenhang mit dem Eingriff stehen
(§§ 253, 823 BGB).
4.1 Der Umfang der gesundheitlichen Beeinträchtigungen ist
noch nicht abschließend geklärt, weshalb die Höhe eines
angemessenen Schmerzensgeldes noch nicht bestimmt wer-
den kann. Die von der Klägerin eingereichte Stellung-
nahme des Universitätsklinikums xxxx weicht teilweise
von den Ausführungen des Sachverständigen im Senatster-
min vom 26.08.2009 ab und weckt daher Zweifel an deren
Richtigkeit. Insoweit konnte nur ein Grundurteil erlas-
sen werden.
4.2 Von den geltend gemachten materiellen Schäden hat der
Beklagte im Senatstermin die Fahrtkosten von Leipzig
nach Dresden i.H.v. 660,00 EUR und die Stornogebühren
12
für eine geplante Urlaubsreise i.H.v. 440,00 EUR un-
streitig gestellt. Den darüber hinausgehenden Schaden-
ersatz hat die Klägerin nur pauschal und unsubstanti-
iert geltend gemacht. Dies betrifft angebliche Mehrauf-
wendungen während des stationären Aufenthalts, Fahrt-
kosten im Zusammenhang mit den ambulanten Behandlungen
und Mehrkosten für notwendige Medikamente. Das Vorbrin-
gen der Klägerin zu diesen Schadenspositionen ist nicht
geeignet, eine Schätzung gemäß § 287 ZPO vorzunehmen.
Auch wenn die Annahme, der Klägerin seien zusätzliche
Kosten entstanden, naheliegt, fehlt es doch an der Dar-
stellung jeglicher Anknüpfungstatsachen, die eine ge-
richtliche Schätzung erst ermöglichen. Hinzu kommt,
dass ein Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen für zu-
sätzliche Verpflegung für die Zeit des Krankenhausauf-
enthalts nicht besteht, weil die Verpflegung im Kran-
kenhaus den Bedürfnissen eines Kranken voll Rechnung
trägt (OLG Nürnberg ZfS 1983, 132). Der Schadenersatz-
anspruch ist damit nur i.H.v. 1.100,00 EUR begründet.
4.3 Der Anspruch auf Feststellung der Ersatzpflicht des Be-
klagten besteht nur für künftige materielle Schäden.
Die Klage auf Feststellung der Ersatzpflicht für künf-
tige immaterielle Schäden ist abzuweisen, weil die -
noch zu bestimmende - Schmerzensgeldentschädigung die
vorauszusehende Entwicklung insgesamt abdeckt. Dass
sich eine nicht vorherzusehende Wende zum Negativen er-
geben könnte, ist nicht ersichtlich oder dargetan.
5.
Der Zinsanspruch ergibt sich aus den §§ 291, 288 BGB.
III.
Die Kostenentscheidung war dem Schlussurteil vorzubehalten.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 708 Nr. 10, 711,
543 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache kei-
ne grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des
13
Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordert.
Der
Streitwert
des
Berufungsverfahrens
beträgt
63.100,00 EUR.
Boie
Denk
Hörner