Urteil des OLG Dresden vom 24.04.2002
OLG Dresden: gesetzliche vermutung, grundstück, verschulden, abbiegen, tachometer, fahrzeug, abrede, sorgfalt, unfall, initiative
Aktenzeichen: 11 U 2948/01
Leitsatz:
Wenn ein Autofahrer in ein Grundstück abbiegt und dabei ein
nachfolgender
Autofahrer
auffährt,
gelten
keine
Anscheinsbeweise mehr.
Vorschriften: § 9 Abs. 5 StVO
Suchbegriffe: Anscheinsbeweis
Auffahrunfall
Abbiegen in ein Grundstück
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Oberlandesgericht
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Dresden
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Aktenzeichen: 11 U 2948/01
3 O 0072/01 LG Bautzen
Verkündet am 24.04.2002
Die Urkundsbeamtin:
Justizsekretärin z.A.
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
In dem Rechtsstreit
Y.
,
,
01920 Oßling
- Klägerin u. Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt
,
gegen
1.
M.
,
,
02977 Hoyerswerda
2.
G.
Versicherungs AG,
vertr. d. d. Vorstand,
,
80333 München
- Beklagte u. Berufungsbeklagte -
Prozessbevollmächtigte zu 1) 2): Rechtsanwälte
& Partner GbR,
wegen Schadensersatzes
3
hat
der
11.
Zivilsenat
des
Oberlandesgerichts
Dresden
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10.04.2002 durch
Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht
,
Richter am Oberlandesgericht
und
Richter am Amtsgericht
für Recht erkannt:
I.
Die
Berufung
der
Klägerin
gegen
das
Urteil
der
3.
Zivilkammer des Landgerichts Bautzen vom 25.10.2001 -
Az.: 3 O 72/01 - wird zurückgewiesen.
II.
Die Kosten des Berufungsverfahrens fallen der Klägerin
zur Last.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschluss:
Der
Streitwert
für
das
Berufungsverfahren
wird
auf
9.203,25 EUR (18.000,00 DM) festgesetzt.
T a t b e s t a n d :
entfällt gemäß § 543 Abs. 1 ZPO a.F.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
Die
Klägerin
hat
gegen
die
Beklagten
keinen
Schmerzensgeldanspruch gemäß §§ 823, 847 BGB, 3 Nr. 1 PflVG,
weil sie nicht bewiesen hat, dass der Erstbeklagte die von
ihr behaupteten Verletzungen schuldhaft herbeigeführt hat.
Bei dem vorliegend zu beurteilenden Unfall handelt es sich
um einen Auffahrunfall. In einem solchen Fall spricht ein
Anscheinsbeweis
dafür,
dass
der
Auffahrende
-
hier
die
Klägerin
-
unaufmerksam
war
oder
den
Sicherheitsabstand
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nicht
eingehalten
hat
(Jagusch/Hentschel,
Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., § 4 StVO Rdn. 18 m.w.N.).
Andererseits war der umstrittene Unfall aber auch dadurch
gekennzeichnet,
dass
der
vorausfahrende
Erstbeklagte
mit
seinem
Fahrzeug
nach
links
in
das
Grundstück
eines
Autohändlers abbiegen wollte, so dass er gemäß § 9 Abs. 5
StVO zu äußerster Sorgfalt verpflichtet war. Kommt es in
einer solchen Situation zu einer Kollision mit einem anderen
geradeaus
(weiter)
fahrenden
Fahrzeug,
besteht
ein
Anscheinsbeweis
für
die
Alleinverursachung
zu
Lasten
des
Abbiegenden (Jagusch/Hentschel, a.a.O., § 9 Rdn. 44 m.w.N.).
Spricht danach vorliegend gegen beide Unfallbeteiligte ein
Anscheinsbeweis, heben sich diese tatsächlichen Vermutungen
gegenseitig auf und die damit verbundene Beweiserleichterung
entfällt. Das hat zur Folge, dass gegen die Klägerin zwar
vorliegend kein Anscheinsbeweis spricht. Sie musste aber den
vollen
Beweis
der
Tatsachen
erbringen,
aus
denen
sich
ergibt, dass der Erstbeklagte die behaupteten Verletzungen
schuldhaft
herbeigeführt
hat.
Anders
als
bei
der
Gefährdungshaftung nach dem Straßenverkehrsgesetz (§ 7 Abs.
1
StVG)
wird
bei
der
verschuldensabhängigen
Haftung
auf
Schmerzensgeld (§§ 823, 847 BGB) die Unfallverursachung bzw.
das Verschulden der Beteiligten nicht gleichsam vermutet,
mit der Folge, dass einen Entlastungsbeweis führen muss, wer
diese Vermutung nicht gegen sich gelten lassen will (§ 7
Abs.
2
StVG).
Folglich
gibt
es
für
ein
Verschulden
des
Erstbeklagten
vorliegend
nicht
nur
keinerlei
gesetzliche
Vermutung. Auch über den Mitverschuldenseinwand, § 254 BGB,
muss sich der Erstbeklagte nicht entlasten, solange nicht
die
Klägerin
dessen
Verschulden
bewiesen
hat.
All
diese
Gesichtspunkte hat der Senat in der mündlichen Verhandlung
vom
10.04.2002
mit
den
Parteien
erörtert
und
darauf
hingewiesen, dass er ein Verschulden des Erstbeklagten an
den Verletzungen der Klägerin für nicht erwiesen erachtet,
und zwar aus folgenden Gründen:
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Als
Verkehrsverstöße
des
Erstbeklagten
kommen
Zuwiderhandlungen gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO und gegen § 9
Abs. 5 StVO in Frage. Der Beklagte muss also entweder ohne
zwingenden Grund überraschend stark gebremst haben oder er
hat die beim Abbiegen in ein Grundstück geforderte erhöhte
Sorgfalt außer Acht gelassen. Beides ist nicht anzunehmen:
1. Fraglich ist bereits, ob überhaupt eine starke Bremsung
stattgefunden hat. Relevante Bremsspuren gab es nicht,
wie sich aus den Lichtbildern in der Bußgeldakte ergibt.
Darüber
hinaus
hat
der
Zeuge
W.
bei
seiner
Zeugenvernehmung in erster Instanz eine Vollbremsung in
Abrede gestellt; ebenso der Zeuge R.
. Dass dieser
zuvor bei seiner Vernehmung durch die Polizei noch andere
Angaben gemacht hat, reicht nicht aus, um die Behauptung
der Klägerin (starke Bremsung) als bewiesen anzusehen.
Darüber hinaus müsste eine etwa erfolgte starke Bremsung
für die Klägerin überraschend gewesen sein. Auch das hat
sie
nicht
bewiesen,
insbesondere
nicht,
dass
der
Erstbeklagte den beabsichtigten Abbiegevorgang nach links
in die Grundstückseinfahrt des Autohändlers nicht oder zu
spät
angezeigt
hat.
Vielmehr
hat
der
Zeuge
W.
ausgesagt, der Beklagte habe rechtzeitig links geblinkt,
was
er
insbesondere
an
der
grünen
Kontrollleuchte
im
Tachometer erkannt habe. Ob das stimmt, erscheint zwar
zweifelhaft,
weil
ein
Beifahrer
wohl
eher
selten
das
Tachometer
des
Fahrers
gerade
im
später
relevanten
Augenblick
beobachtet
haben
wird.
Andererseits
war
vorliegend die Initiative vom Zeugen ausgegangen, nach
links
in
die
Grundstückseinfahrt
des
Autohändlers
abzubiegen. Daher ist es schon vorstellbar, dass er den
Abbiegevorgang
verfolgt
hat.
Der
Aussage
des
Zeugen
R.
muss man - anders als den Angaben des Zeugen
W.
-
entnehmen,
dass
der
Erstbeklagte
nicht
ordnungsgemäß geblinkt habe. Was der Zeuge angegeben hat,
ist
aber
erstens
sehr
vage
(Aussage
im
Protokoll
vom
27.09.2001, S. 3: "wahrscheinlich zu spät geblinkt") und
im
Übrigen
widersprüchlich.
Im
Protokoll
der
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polizeilichen
Vernehmung
heißt
es
noch,
dass
der
Erstbeklagte überhaupt nicht geblinkt habe, während der
Zeuge vor dem Landgericht davon gesprochen hat, dass der
Blinker von jenem zu spät betätigt worden sei. Aus den
genannten Gründen konnten die Angaben des Zeugen R.
den Senat nicht überzeugen. Der Zeuge war an dem ganzen
Geschehen zwar unbeteiligt, was für seine Glaubwürdigkeit
spricht.
Andererseits
wird
ein
solch
unbeteiligter
Passant regelmäßig nicht darauf achten, ob ein aus seiner
Sicht
ganz
gewöhnlicher
Kraftfahrer
seinen
Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig betätigt hat, so dass
Angaben zu einer solchen Frage entsprechend kritisch zu
würdigen
sind.
Nach
alldem
ist
eine
überraschende
Bremsung durch den Erstbeklagten auch der Aussage des
Zeugen R.
nicht zu entnehmen.
Nachdem der Zeuge W.
weiter kategorisch in Abrede
gestellt hat, dass der Erstbeklagte zum Unfallzeitpunkt
mit einem Handy telefoniert habe, kann sich die Klägerin
auch in diesem Punkt nicht auf ein Fehlverhalten berufen.
2. Aus all den vorstehenden Erwägungen folgt zugleich, dass
dem Erstbeklagten auch im Hinblick auf seine erhöhten
Sorgfaltspflichten aufgrund des beabsichtigten Abbiegens
in eine Grundstückseinfahrt kein Vorwurf gemacht werden
kann.
Eine
starke
und
zudem
für
die
Klägerin
überraschende
Bremsung
ist
nicht
bewiesen.
Ebenfalls
nicht
hinreichend
sicher
ist,
dass
der
Erstbeklagte
überhaupt
nicht
oder
zu
spät
seinen
Fahrtrichtungsanzeiger
betätigt
hat.
Dass
er
zum
Unfallzeitpunkt
telefoniert
habe,
hat
sich
nicht
bestätigt
und
weitere
Fehler
im
Zusammenhang
mit
dem
Abbiegevorgang
sind
nicht
geltend
gemacht
oder
sonst
ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre
Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO.
Für die Zulassung der Revision bestand kein Anlass, weil die
Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind.