Urteil des OLG Celle vom 20.12.2005

OLG Celle: beweis des gegenteils, verkehrsunfall, organisation, gaststätte, veranstaltung, mitverschulden, verfügung, beweisantrag, zustellung, besuch

Gericht:
OLG Celle, 14. Zivilsenat
Typ, AZ:
Urteil, 14 U 138/05
Datum:
20.12.2005
Sachgebiet:
Normen:
SGB VII § 115 Abs 1
Leitsatz:
1. Hatte der Unfallgeschädigte zunächst erklärt, dass sich der Unfall auf einer Geschäftsfahrt ereignet
hatte, ist er dafür beweispflichtig, dass diese Erklärung irrtümlich abgegeben wurde und § 115 Abs. 1
SGB VII nicht eingreift.
2. Selbst wenn anlässlich einer mehrtägigen Besuchsreise (hier: Teilnahme an einer
Gaststätteneröffnung der Tochter) an einem Tag auch eine geschäftliche Unterredung an einem
anderen Ort stattfand, handelt es sich bei der Heimfahrt, die an einem späteren Tag stattfand, nicht
um eine betriebliche Tätigkeit i. S. von § 115 Abs. 1 SGB VII.
Volltext:
Oberlandesgericht Celle
Im Namen des Volkes
Grundurteil
14 U 138/05
19 O 293/04 Landgericht Hannover
Verkündet am
20. Dezember 2005
...,
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In dem Rechtsstreit
A. F., ...,
Kläger und Berufungskläger,
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte ...,
gegen
... Versicherung AG, ...,
Beklagte und Berufungsbeklagte,
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte ...,
hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 29. November 2005 durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und die Richter am Oberlandesgericht ... und ... für Recht
erkannt:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der Einzelrichterin der 19. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom
28. April 2005 aufgehoben.
Die Klage ist dem Grund nach gerechtfertigt.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung über ein etwaiges Mitverschulden des Klägers sowie die Höhe
des Anspruchs an das Landgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt - auch hinsichtlich der Kosten des Berufungsverfahrens - dem Schlussurteil
vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Streitwert des Berufungsverfahrens: 17.500 EUR
Gründe (abgekürzt gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO):
I.
Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird Bezug genommen auf das angefochtene Urteil (Bl. 69 d. A.). Das
Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil der Verkehrsunfall vom 4. Oktober 2003 auf einer Geschäftsfahrt und
damit während einer von der Haftungsbeschränkung des § 105 Abs. 1 SGB VII erfassten innerbetrieblichen Tätigkeit
- nicht vorsätzlich und nicht auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 - 4 SGB VII versicherten Weg - verursacht worden sei.
Dagegen wendet sich die Berufung des Klägers, der sein ursprüngliches Klageziel weiterverfolgt; die Beklagte
verteidigt demgegenüber das angefochtene Urteil (jeweils mit Anträgen wie im Protokoll Bl. 162 d. A.). Wegen der
weiteren Einzelheiten des Sach und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Der Senat hat über den Anlass der Autofahrt mit Beschluss vom 18. Oktober 2005 (Bl. 141 d. A.) Beweis erhoben
durch Vernehmung der Zeuginnen R. H. und C. K. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das
Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 29. November 2005 (Bl. 162 d. A.) und den Vermerk des
Berichterstatters vom 8. Dezember 2005 (Bl. 173 d. A.) Bezug genommen.
II.
Die Berufung ist zulässig und begründet. Die Klage ist dem Grund nach gerechtfertigt. Dies war daher festzustellen
und der Rechtsstreit gem. § 538 Abs. 2 Nr. 1 u. 4 ZPO auf den hilfsweise gestellten Antrag des Klägers unter
Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Landgericht zurückzuverweisen, weil der Streit über den Betrag
des Anspruchs noch nicht zur Entscheidung reif ist und in diesem Rahmen eine umfangreiche und aufwendige
Beweisaufnahme erforderlich sein wird.
1. Die Beklagte hat dem Grund nach für den vom Kläger geltend gemachten Schadensersatzanspruch einzustehen
gem. § 3 Nr. 1 PflVG. Sie kann sich nicht auf eine Haftungsprivilegierung nach § 105 SGB VII berufen. Denn der
Verkehrsunfall hat sich nicht während einer betrieblichen Tätigkeit ereignet. Das folgt aus der vom Senat
durchgeführten Beweisaufnahme.
a) Grundsätzlich wäre die Beklagte dafür beweispflichtig, dass die zum Unfall führende Fahrt Teil eines
innerbetrieblichen Vorgangs war, weil es sich insoweit um ein sie begünstigendes Tatbestandsmerkmal (des § 105
SGB VII) handelt. Wegen der schriftlichen Erklärungen des Klägers vom 3. März 2004 (Bl. 12 d. A.) sowie seiner
Prozessbevollmächtigten vom 5. März 2004 (Bl. 36 d. A.) spricht allerdings der Anschein dafür, dass der Unfall im
Zusammenhang mit einer betrieblichen Tätigkeit auf einer „Geschäftsreise“ passiert ist. Dem Kläger ist jedoch der
Beweis des Gegenteils gelungen, dass die Fahrt nicht mehr zum Teil der betrieblichen Organisation gehörte und ihre
Durchführung davon nicht geprägt war:
Die Zeuginnen H. und K. haben übereinstimmend und glaubhaft bekundet, der Kläger habe zusammen mit der
Zeugin H. am 3. Oktober 2003 vom späten Vormittag bis in den Abend an der Eröffnungsfeier der zum damaligen
Zeitpunkt von der Zeugin K. geführten Gaststätte „...“ in D. teilgenommen. Von da seien sie zur Tochter der Zeugin
H. nach R. gefahren, wo sie übernachtet hätten. Die Rückfahrt nach N. - auf der es zum streitbefangenen
Verkehrsunfall gekommen ist - sei dann am nächsten Tag, dem 4. Oktober 2003, von R. aus erfolgt. Anlass der
Reise sei insgesamt die Geschäftseröffnung der Zeugin K. gewesen (vgl. im Einzelnen Bl. 173 f. d. A.).
b) Die Fahrt vom 4. Oktober 2003 kann damit nicht als innerbetrieblicher Vorgang angesehen werden. Sie war weder
Teil einer betrieblichen Tätigkeit noch in ihrer Durchführung davon geprägt (vgl. dazu Senat, Beschl. v. 4. Juli 2005,
14 W 18/05, OLGR 2005, 604 = SchadenPraxis 2005, 337 m. w. N.). Im Gegensatz zur Ansicht des Landgerichts
war der Kläger mit der Zeugin H. am 4. Oktober 2003 nicht „von einem Geschäftstermin kommend unterwegs“ (LGU
8). Selbst wenn er noch am frühen Vormittag des 3. Oktober 2003 geschäftliche Gespräche in O. geführt hätte -
wofür allerdings nichts ersichtlich ist , bildete die anschließende ganztägige Teilnahme an einer mit dem Betrieb in
keinem Zusammenhang stehenden Gaststätteneröffnung eine derart deutliche Zäsur, dass die am darauffolgenden
Tag stattfindende Rückfahrt nach N. nicht mehr Teil der betrieblichen Organisation und von dieser geprägt war.
Anders wäre das nur gewesen, wenn der Kläger noch am 4. Oktober 2003 unmittelbar vor dem Unfall eine
geschäftliche Besprechung wahrgenommen hätte. Das wird aber nicht behauptet. Die Erklärung des Klägers vom 3.
März 2003 (Bl. 12 d. A.) scheint zwar zunächst dafür zu sprechen. Angesichts der klaren und eindeutigen
Bekundungen der Zeuginnen kommt ihr aber nicht mehr die vom Landgericht angenommene (LGU 6/7) Bedeutung
zu.
Der Senat hat keine Veranlassung, insbesondere an der Glaubhaftigkeit der Aussage der (am Unfall unbeteiligten)
Zeugin K. zu zweifeln. Dass die Gaststätteneröffnung am 3. Oktober 2003 stattgefunden hat, hat der Kläger durch
Vorlage eines gedruckten Plakats (vgl. Bl. 164 a d. A.) untermauert; auf diesem Plakat ist die Zeugin K. zu
erkennen. Es liegt zudem nahe, dass der Kläger als Vater der Zeugin an dieser Veranstaltung hat teilnehmen wollen.
Wenn er dies aber getan hat, können seine vorgerichtlichen Erklärungen vom 3. und 5. März 2003 hinsichtlich der
hier entscheidenden Frage nicht ausschlaggebend sein. Das gilt umso mehr, als sich der Unfall - entgegen der
Erklärung vom 5. März 2003 (Bl. 36 d. A.) - unstreitig nicht „während einer Fahrt zu einer geschäftlichen
Besprechung nach O. zur Firma Gebrüder F. ereignet hat“, sondern auf der BAB 2 Hannover in Richtung Berlin. Das
lässt sich nur mit der Hergangsschilderung der Zeuginnen und entsprechend der des Klägers überein bringen.
Zudem ist die Erklärung des Klägers vom 3. März 2003 auch nicht so eindeutig, wie sie das Landgericht hat
verstehen wollen. Unstreitig - und von der Zeugin H. bestätigt - hat der Kläger im Rahmen der gesamten Reise von
N. nach R., O. und D. eine geschäftliche Besprechung gehabt; diese hat allerdings nach Bekundung der Zeugin H.
am 1. Oktober 2003 stattgefunden. Es kann nicht ohne weiteres angenommen werden, dass sich der Kläger bei
seiner Erklärung zum Anlass der Reise ausreichend Gedanken über die nicht unbedingt offensichtlichen
Abgrenzungskriterien zwischen (dem Ende) einer Betriebsfahrt und (dem Beginn) einer Privatfahrt gemacht hat, auch
weil die Bedeutung der Antwort für etwaige haftungsrechtliche Auswirkungen aus dem Anschreiben der
Prozessbevollmächtigten vom 3. März 2003 nicht erkennbar war. Jedenfalls kann bei einem „juristischen Laien“ nicht
unterstellt werden, dass er die hierzu erforderliche Unterscheidung mit hinreichender Klarheit vorgenommen hat.
Unter diesem Blickwinkel waren demnach die Auskünfte des Klägers vom 3. und 5. März 2003 nicht falsch; denn
tatsächlich war er im Rahmen der gesamten Fahrt auch auf einer geschäftlichen Besprechung in O. Es liegt nahe,
dass er deshalb verkannt hat, worauf es im Hinblick auf § 105 SGB VII maßgeblich ankam, nämlich nicht darauf, ob
die allein maßgebliche Fahrt vom 4. Oktober 2003 - z. B. hinsichtlich einer evtl. steuerlichen Absetzbarkeit - private
oder „dienstliche“ Bezüge aufwies, sondern ob sie unmittelbar mit dem Zweck der betrieblichen Beschäftigung
zusammenhing und dem Betrieb dienlich war (vgl. Geigel/Kolb, Der Haftpflichtprozess, 23. Aufl., Kap. 31, Rn. 104).
Dann aber ist die Auskunft vom 3. März 2003 in Bezug auf die hier entscheidende Rechtsfrage ohne Belang. Unter
den gegebenen Umständen geht es allein noch um eine rechtliche Bewertung des - unstreitigen oder
nachgewiesenen - Geschehens. Danach befand sich der Kläger auf der Rückfahrt von einer privaten Veranstaltung
ohne Geschäftsbezug. Da der Begriff der betrieblichen Tätigkeit objektiv zu bestimmen ist (vgl. Geigel/Kolb a. a. O.)
und nicht nach der Einschätzung der Beteiligten, scheidet eine Betriebsfahrt aus.
2. Das Landgericht hätte Anlass gehabt, die Zeugin K. selbst zu vernehmen. Sie ist bereits erstinstanzlich zum
Beweis der Tatsache, dass der Kläger und die Zeugin H. am 3. Oktober 2003 nach D. zur Eröffnung der Gaststätte
„....“ und von da nach R. gefahren seien und es sich insoweit um einen „rein privaten Besuch“ gehandelt habe,
benannt worden (Schriftsatz vom 11. Februar 2005, Bl. 45 d. A.). Der Beweisantrag ist ohne Angaben von Gründen
übergangen worden. Auch wenn der Antrag erst nach Zustellung der prozessleitenden Verfügung vom 1. Februar
2005 (Bl. 38 d. A.) gestellt worden ist, hätte bis zum Termin am 21. März 2005 noch ausreichend Gelegenheit
bestanden, die Zeugin K. zu laden. Dass dies nicht geschehen ist, hat sich zum Nachteil des Klägers ausgewirkt,
weil das Landgericht der Zeugin R. H. allein nicht hat Glauben wollen (LGU 6/7) und letztlich deshalb die Klage
abgewiesen hat. Der Aussage der am Unfallgeschehen unbeteiligten Zeugin K. wäre also besonderes Gewicht
zugekommen.
3. Die Klage ist dem Grund nach gerechtfertigt. Bedenken gegen die Zulässigkeit der Feststellungsanträge (wie sie
die Beklagte andeutet, Bl. 35, 139 d. A.) hat der Senat angesichts der geltend gemachten Verletzungen und
(möglichen) Dauerschäden nicht. Die Beklagte bestreitet nicht den Unfall an sich und dass der Kläger dadurch
verletzt wurde (vgl. Bl. 30/31 d. A.). Sie nimmt jedoch ein Mitverschulden des Klägers von mindestens 50 % an, weil
er im Unfallzeitpunkt nicht angeschnallt gewesen sein soll (Bl. 34, 138 d. A.). Allerdings entfällt auch nach Ansicht
der Beklagten ihre Haftung damit nicht insgesamt. Der Kläger persönlich hat hierzu vor dem Senat erklärt, er sei
angeschnallt gewesen (Bl. 163 d. A.). Die nähere Klärung dieser Frage bleibt dem Landgericht vorbehalten.
Auch im Übrigen kann ohne eine weitere aufwendige Beweisaufnahme eine Entscheidung über die Höhe des
Anspruchs nicht getroffen werden: Die Beklagte bestreitet den Verletzungsumfang und zum Teil auch den
Zusammenhang mit dem vorliegenden Unfallereignis sowie die Darstellung des Klägers über fortbestehende
Beschwerden und Beeinträchtigungen nebst etwaigen Zukunftsschäden ebenso wie die (Dauer der)
Arbeitsunfähigkeit des Klägers; das begehrte Schmerzensgeld sei zu hoch, die Feststellungsanträge seien
unbegründet (vgl. im Einzelnen Schriftsatz der Beklagten vom 7. Januar 2005, Bl. 32 ff., sowie Bl. 138 f.). Beide
Parteien berufen sich zum Beweis ihrer Behauptungen auf Sachverständigengutachten (Bl. 34 und 66 d. A.). All
diese Punkte werden ebenfalls vor dem Landgericht zu klären sein.
4. Der Senat weist darauf hin, dass das Näheverhältnis zwischen dem Kläger und der Fahrerin - entgegen der
Ansicht der Beklagten (Bl. 35 d. A.) - nicht schmerzensgeldmindernd zu berücksichtigen ist (vgl. OLG München,
VersR 1989, 1056; OLG Hamm, NJWRR 1998, 1179 m. w. N.).
5. Über Kosten und vorläufige Vollstreckbarkeit war keine Entscheidung zu treffen (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 25.
Aufl., § 304, Rn. 18 a. E., 26; § 538, Rn. 58).
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne von § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens war im Hinblick auf den später vorzunehmenden Kostenausgleich gemäß der
Kostenentscheidung im Schlussurteil nach dem Wert der (abgewiesenen) Anträge erster Instanz zu bemessen (vgl.
Beschluss vom 10. November 2004, Bl. 17 d. A.).
... ... ...