Urteil des OLG Celle vom 26.10.2011

OLG Celle: unterbrechung des vollzuges, strafaufschub, ärztliche behandlung, lebensgefahr, diagnose, zustand, strafanstalt, strafvollstreckung, ermessensfehler, überprüfung

Gericht:
OLG Celle, 01. Strafsenat
Typ, AZ:
Beschluss, 1 Ws 424/11
Datum:
26.10.2011
Sachgebiet:
Normen:
StPO § 455 Abs 3, StPO § 455 Abs 4
Leitsatz:
Zwischen Strafaufschub und Strafunterbrechung besteht ein wesentlicher Unterschied, der es
ausschließt, die Vorschriften über das eine auf das andere entsprechend anzuwenden. Deshalb kann
die Ablehnung eines Strafaufschubs nach § 455 Abs. 3 StPO wegen krankheitsbedingter
Vollzugsuntauglichkeit nicht darauf gestützt werden, dass der Verurteilte zum Strafantritt in ein
Anstaltskrankenhaus geladen worden sei, wo er medizinisch betreut werden könne. denn damit wird
die Ablehnung des Strafaufschubs auf einen Grund gestützt, den das Gesetz nur für die Ablehnung
einer Strafunterbrechung nach § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO vorsieht.
Volltext:
Oberlandesgericht Celle
1 Ws 424/11
24 KLs 5423 Js 52888/00 LG Hildesheim
5423 Js 52888/00 StA Hannover
B e s c h l u s s
In der Strafvollstreckungssache
gegen G. R. L.R.,
geboren am xxxxxxxxxx 1946 in S.,
wohnhaft H.straße, G. ST L.,
Verteidiger: Rechtsanwalt Dr. V. W., S.
wegen Betruges
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den
Beschluss der 5. großen Wirtschaftstrafkammer des Landgerichts Hildesheim vom 6. Oktober 2011 nach Anhörung
der Generalstaatsanwaltschaft durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxxxxxxxxx, den Richter am
Oberlandesgericht xxxxxxxxxxxxxxx und den Richter am Oberlandesgericht xxxxxxxxxx am 26. Oktober 2011
beschlossen:
1. Der angefochtene Beschluss und die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Hannover vom 9. September 2011
werden aufgehoben.
2. Die Sache wird zu erneuter Entscheidung über den Antrag des Verurteilten auf Strafaufschub an die
Staatsanwaltschaft Hannover zurückgegeben.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Verurteilten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen
trägt die Landeskasse.
G r ü n d e :
I.
Am 8. September 2011 beantragte der Verurteilte, dem bis zum 31. März 2011 Strafaufschub wegen einer
Knieoperation gewährt worden war, erneut die Gewährung von Strafaufschub, weil bei ihm erstmals am 17. März
2011 eine Herzrhythmusstörung bei AVBlock II. Grades Typ Mobitz mit Verdacht auf intermittierendes
Vorhofflimmern mit absoluter Arrhythmie diagnostiziert und die Indikation einer Herzschrittmacherimplantation
festgestellt worden war. Die Diagnose und Indikation wurden am 4. April 2011 und zuletzt nach einem stationären
Aufenthalt des Verurteilten im Herz und Diabeteszentrum NRW in B. O. in der Zeit vom 11. bis 13. Juli 2011
bestätigt.
Mit Entscheidung vom 9. September 2011 lehnte die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Strafaufschub ab. Zur
Begründung führte sie aus, dass eine lebensbedrohliche Erkrankung und damit eine nahe Lebensgefahr im Sinne
von § 455 Abs. 2 StPO den vorgelegten Attesten nicht zu entnehmen sei. Es liege auch kein Grund für einen
Aufschub nach § 455 Abs. 3 StPO vor. Zwar sei im Hinblick auf die ärztlichen Berichte sicherlich anzuerkennen,
dass eine ernste Erkrankung vorliege. Dem sei jedoch dadurch Rechnung getragen worden, dass der Verurteilte zum
Strafantritt in das Justizvollzugskrankenhaus L. geladen worden sei, wo er angemessen medizinisch betreut werden
könne.
Die Einwendungen des Verurteilten gegen die vorgenannte Entscheidung hat das Landgericht Hildesheim mit dem
angefochtenen Beschluss nach Einholung einer Stellungnahme des Leitenden Arztes des
Justizvollzugskrankenhauses L., Dr. med. N., zurückgewiesen. Eine nahe Lebensgefahr des Verurteilten sei nicht zu
besorgen. Eine Unverträglichkeit der sofortigen Vollstreckung mit der Einrichtung der Strafanstalt liege ebenfalls
nicht vor. Denn die anstehende Schrittmacherimplantation könne ohne Unterbrechung des Vollzuges in einem
externen Krankenhaus in L. und die anschließende Nachbehandlung im dortigen Justizvollzugskrankenhaus
durchgeführt werden.
Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde vom 12. Oktober 2011.
II.
Die gemäß § 462 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und auch sonst zulässig erhobene sofortige Beschwerde ist
begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und der staatsanwaltlichen Entscheidung vom
9. September 2011 sowie zur Rückgabe der Sache an die Staatsanwaltschaft zu erneuter Entscheidung über den
Antrag des Verurteilten auf Strafaufschub.
1. Nicht zu beanstanden sind die Entscheidungen des Landgerichts und der Staatsanwaltschaft allerdings, soweit
sie einen Fall des gebundenen Strafaufschubs nach § 455 Abs. 2 StPO verneinen. Anhaltspunkte dafür, dass von
der Vollstreckung eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten zu besorgen ist, liegen - jedenfalls mit dem hierfür
nötigen höheren Grad an Wahrscheinlichkeit (vgl. Senatsbeschluss vom 31. August 2010 - 1 Ws 437/10) - nicht vor.
Dies ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass der Verurteilte trotz Kenntnis der Diagnose seit dem 17. März 2011 immer
noch nicht die indizierte Herzschrittmacherimplantation hat vornehmen lassen. Nach dem Bericht des Herz und
Diabeteszentrums NRW in B. O. vom 13. Juli 2011 konnte zudem eine koronare Herzerkrankung ausgeschlossen
werden.
2. Indes halten die staatsanwaltliche Entscheidung über die Ablehnung eines fakultativen Strafaufschubs nach § 455
Abs. 3 StPO und ihre Bestätigung durch das Landgericht rechtlicher Überprüfung nicht Stand.
Danach kann die Vollstreckung auch dann aufgeschoben werden, wenn sich der Verurteilte in einem körperlichen
Zustand befindet, bei dem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung der Strafanstalt unverträglich ist. Da
diese Entscheidung im pflichtgemäßen Ermessen der Staatsanwaltschaft steht, kann sie von den Gerichten nur auf
Ermessensfehler überprüft werden (vgl. KG NStZ 1994, 255. LRGraalmannScheerer, StPO 26. Aufl. § 455 Rn. 32),
also darauf, ob sie von einem rechtlich zutreffenden Begriff des Versagungsgrundes ausgeht und auf einer
nachvollziehbaren Abwägung aller entscheidungserheblichen Umstände beruht. Das ist hier nicht der Fall.
Indem die Staatsanwaltschaft nämlich darauf abgestellt hat, dass der Verurteilte zum Strafantritt in das
Justizvollzugskrankenhaus L. geladen worden sei und dass er dort angemessen medizinisch betreut werden könne,
hat sie ihre Entscheidung auf einen Versagungsgrund gestützt, den das Gesetz nur für die Ablehnung einer
Strafunterbrechung nach § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO vorsieht und der nicht für die Ablehnung von Strafaufschub
nach § 455 Abs. 3 StPO herangezogen werden kann (vgl. OLG Koblenz StraFo 2003, 434). Zwischen
Strafunterbrechung und Strafaufschub besteht ein wesentlicher Unterschied, der es ausschließt, die Vorschriften
über das eine auf das andere entsprechend anzuwenden (vgl. LRGraalmannScheerer aaO Rn. 17). Der Gesetzgeber
hat bewusst zwischen beiden unterschieden, um zu gewährleisten, dass eine einmal begonnene Strafvollstreckung -
auch im Interesse des Verurteilten - konsequent zu Ende geführt wird und nicht in jedem Fall von
Vollzugsuntauglichkeit unterbrochen werden muss (vgl. OLG München NStZ 1988, 294. OLG Karlsruhe NStZ 1991,
54). aus diesem Grunde sieht § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO als Regelfall vor, dass eine einmal begonnene
Vollstreckung auch bei schwereren Erkrankungen nicht unterbrochen wird, solange eine Behandlung im
Vollzugskrankenhaus möglich ist. Demgegenüber dient § 455 Abs. 3 StPO einem ganz anderen Zweck. Diese
Regelung soll in erster Linie den Justizvollzugsanstalten Schwierigkeiten ersparen, die eine geordnete Durchführung
des Vollzuges unmöglich machen, und außerdem auch die Verurteilten davor schützen, dass im Vollzug nicht auf
ihren körperlichen Zustand Rücksicht genommen werden kann, weil der Anstalt die notwendigen Mittel dafür fehlen
(LRGraalmannScheerer aaO Rn. 11). Dementsprechend kommt ein Strafaufschub nach § 455 Abs. 3 StPO bereits
dann in Betracht, wenn die nötige ärztliche Behandlung in der Justizvollzugsanstalt nicht möglich ist und auch durch
Aufnahme in einer geeigneten Justizvollzugsanstalt unter Abweichung vom Vollstreckungsplan nicht erreicht werden
kann (BGHSt 19, 148. LRGraalmannScheerer aaO Rn. 13). Die Abwendung eines an sich gebotenen Strafaufschubs
durch Ladung zum Strafantritt in einem Vollzugskrankenhaus sieht das Gesetz hingegen nicht vor (OLG Koblenz
aaO).
Daher ist im Rahmen des § 455 Abs. 3 StPO zu prüfen, welche konkreten Maßnahmen und Rücksichtnahmen im
Vollzug aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Verurteilten unerlässlich sind, ob diese in der für den
Verurteilten vorgesehenen oder einer anderen Vollzugsanstalt gewährleistet werden können und ob die hiermit
verbundenen Belastungen für alle Beteiligten in Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer alsbaldigen
Strafvollstreckung zumutbar sind (vgl. OLG Koblenz aaO. KKAppl, StPO 6. Aufl. § 455 Rn. 8).
Dem wird die Entscheidung der Staatsanwaltschaft bislang nicht gerecht.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.
xxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxx