Urteil des OLG Celle vom 13.08.2003

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Gericht:
OLG Celle, 15. Familiensenat
Typ, AZ:
Urteil, 15 UF 48/03
Datum:
13.08.2003
Sachgebiet:
Normen:
BGB § 1612 b
Leitsatz:
Das Kindergeld ist in entsprechender Anwendung des § 1612 b Abs. 3 BGB auf den Bedarf des
volljährigen Kindes insgesamt anzurechnen, wenn der Elternteil, in dessen Haushalt das volljährige
Kind lebt, zu Zahlung von Barunterhalt nicht leistungsfähig ist.
Volltext:
Oberlandesgericht Celle
Im Namen des Volkes
Urteil
15 UF 48/03
20 F 2406/02 Amtsgericht Peine Verkündet am
13. August 2003
#######,
Justizhauptsekr.
als Urkundsbeamt.
der Geschäftsstelle
In der Familiensache
#######,
Kläger, Widerbeklagter und Berufungskläger,
- Prozessbevollmächtigte:
Anwaltsbüro #######,
gegen
#######,
Beklagter, Widerkläger und Berufungsbeklagter,
- Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte #######,
hat der 15. Zivilsenat - Senat für Familiensachen - des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom
4. Juli 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ####### sowie die Richter am Oberlandesgericht
####### und ####### für Recht erkannt:
Auf die Berufung des Klägers und unter Zurückweisung seines weiter ge-henden Rechtsmittels wird das am 7.
Februar 2003 verkündete Ur-teil des Amtsgerichts - Familiengericht - Peine geändert und wie folgt neu gefasst:
Auf die Klage und Widerklage wird der gerichtliche Vergleich vom 2. Dezember 1986 - 8 F 153/86 AG ####### - zu
Ziffer 1. dahingehend abgeändert, dass der Kläger zur Zahlung von Kindes-unterhalt an den Beklagten
für Juli 2002 von 288 €,
von August bis Dezember 2002 von monatlich 147 €,
für Januar 2003 von 103 €,
für Februar 2003 von 83,43 €,
für März 2003 von 118 €
von April bis Juni 2003 von monatlich 148 €,
für Juli 2003 von 171 € sowie
ab August 2003 von monatlich 128 €
verpflichtet ist.
Im Übrigen werden die Klage und die Widerklage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen werden gegeneinander aufgehoben.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung des Klägers ist teilweise begründet.
Der Kläger schuldet dem Beklagten Kindesunterhalt gemäß §§ 1601 ff. BGB, der sich nach der Lebensstellung der
barunterhaltspflichtigen Elternteile bemisst (§ 1610 Abs. 1 BGB).
Zwischen den Parteien ist das Einkommen des Klägers mit rund 2.095 € monatlich ebenso unstreitig wie der
Umstand, dass die Mutter des Beklagten zur Zahlung von Kindesunterhalt nicht leistungsfähig ist. Der Bedarf des
Beklagten ergibt sich unstreitig mit 442 € monatlich bis Juni 2003. Auf diesen Bedarf sind die Einkünfte des
Beklagten aus seiner Ausbildungs-vergütung sowie das volle Kindergeld anzu-rechnen.
Für die Zeit ab Au-gust 2002 lässt sich das Einkommen des Beklagten bei Brutto-einkünften von 1.830 € nach
Abzug der Sozialbeiträge mit rund 1.447 € bzw. mo-natlich mit rund 289 € darstellen. Hiervon sind die
berufsbedingten Fahrtkosten entgegen der An-sicht des Klägers mit 148,50 € (30 x 220 x 0,27 : 12) abzusetzen. Der
Beklagte kann auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht verwiesen werden, da er nachgewiesen hat, dass er
mit diesen nicht rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz erscheinen könnte. Allein der Umstand, dass sich die Fahrt-
kosten auf rund 50 % der Ausbildungsvergütung belaufen, rechtfertigt es nicht, diese als un-angemessen hoch
anzusehen und auf pauschalierte 85 € zu reduzie-ren. Damit verbleiben dem Beklagten monatlich rund 141 €.
Der Bedarf des Beklagten wird weiterhin durch das anzurechnende Kindergeld in Höhe von 154 € gedeckt. Eine
ausdrückliche Regelung für den vorliegenden Fall, dass beide Elternteile barun-terhaltspflichtig sind, jedoch der
Elternteil, in dessen Haushalt das volljährige Kind lebt, mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhalts-pflichtig ist,
enthält die gesetzliche Regelung zur Kindergeldverrechnung nicht. § 1612 b Abs. 1 BGB ist auf den Fall
beiderseitiger Barunterhaltspflicht nicht an-wendbar. § 1612 b Abs. 2 greift nicht ein. Zwar wird hier die
Kindergeldverrech-nung für den Fall der Barunterhaltspflicht beider Elternteile geregelt. In diesem Fall erhöht sich der
Unterhaltsanspruch ge-gen den das Kindergeld beziehenden El-ternteil um die Hälfte des Kindergeldes. Anwendung
findet die Regelung jedoch nicht, wenn dieser Elternteil mangels Leistungsfähigkeit nicht zum Barunterhalt
verpflichtet ist (Göppinger/Häußermann, Unterhaltsrecht, 8. Aufl., Rn. 788).
§ 1612 b Abs. 3 BGB trifft eine Regelung für den Fall, dass nur ein Elternteil An-spruch auf Kindergeld hat (§ 64 Abs.
1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 EStG) , dieses je-doch nicht an ihn ausgezahlt wird (zum Anwendungsbereich Göppin-
ger/Häußer-mann, Unterhaltsrecht, 8. Aufl., Rn. 790). Für die Verrechnung des Kin-dergeldes zwischen beiden
barunterhaltspflichtigen Elternteilen, von denen einer nicht leis-tungsfähig ist, gilt die Vorschrift nicht (Scholz in:
Wendl/Staudigl, Das Unterhalts-recht in der familiengerichtlichen Praxis, 5. Aufl., Rn. 505 zu § 2; Luthin/Schu-
macher, Handbuch des Unterhaltsrechts, 9. Aufl., Rn. 3251).
Die Regelung des § 1612 b Abs. 3 BGB ist jedoch auf den Fall der beiderseitigen Barunterhaltspflicht, die von einem
Elternteil mangels Leistungsfähigkeit nicht er-füllt werden kann, analog anzuwenden (OLG Braunschweig, FamRZ
2000, 1246; OLG Naumburg, FamRZ 2002, 1589; Becker, FamRZ 1999, 66; Luthin/Schu-macher, Handbuch des
Unterhaltsrechts, 9. Aufl. Rn. 3251 a.E.; Du-derstadt, FamRZ 2003, 1058 f.). Ist ein Elternteil gegenüber einem
volljährigen Kind nicht leistungsfähig, muss der andere Elternteil nach seinem Einkommen den Unterhalt des
volljährigen Kindes allein aufbringen. Insoweit kann auf Naturalleis-tungen des nicht leistungsfähigen El-ternteils, der
dem unterhaltsberechtigten Kind Wohnung und Verpflegung gewährt (vgl. OLG Celle, FamRZ 2001, 47; OLG Bran-
denburg, FamRZ 2002, 1216; Palandt/Diederichsen, 62. Auflage, Rn. 6 zu § 1612 b BGB; Scholz in: Wendl/Staudigl,
Das Unterhaltsrecht in der familienge-richtlichen Praxis, 5. Aufl., Rn. 515 zu § 2), nicht abgestellt werden. Dies
würde darauf hinauslaufen, das volljährige, im Haushalt eines Elternteiles lebende Kind mit einem minderjäh-rigen
Kindern gleichzustellen. Rechtlich wird von dem nicht leistungsfähigen El-ternteil weder ein Bar- noch ein
Naturalunterhalt geschuldet. Vielmehr hätte der nicht leistungsfähige Elternteil in diesem Fall einen Anspruch gegen
das Kind auf Zah-lung eines angemessenen Anteils aus dessen Einkünften für die tatsächlich erbrachten
Leistungen. Lebt das unterhaltsbe-rechtigte Kind im Haushalt des nicht leistungsfähigen Elternteils, wird eine (still-
schweigende) Ver-rechnung des An-spruchs auf Auskehrung des Kindergeldanteils mit Gegenan-sprüchen auf Miete
und Kostgeld als zulässig, üblich und lebensnah angesehen (Göppinger/Häußer-mann, Unterhaltsrecht, 8. Aufl., Rn.
788, Duder-stadt, FamRz 2003, 1058, 1059).
Die analoge Anwendung des § 1612 b Abs. 3 BGB mit der Folge der vollen An-rechnung des Kindergeldes auf den
Unterhaltsanspruch des Kindes wird durch die steuerrechtliche Regelung in § 74 Abs. 1 EStG bestätigt. Hiernach
kann das Kin-dergeld an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte ihm ge-genüber seiner
gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Nach § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG gilt dies auch, wenn der
Kindergeldberechtigte mangels Leis-tungsfä-higkeit nicht unterhaltspflichtig ist. Daraus ergibt sich, dass der
Kindergeld-berech-tigte auch im Fall mangelnder Leistungsfähigkeit seinen Kindergeldanteil für Un-terhaltszwecke
zur Verfügung stellen muss (Göppinger/Häußermann, Unter-halts-recht, 8. Aufl., Rn. 802).
Der analogen Anwendung von § 1612 b Abs. 3 BGB steht auch nicht der Sinn und Zweck des Kindergeldes
entgegen. Steuerrechtlich dient das Kindergeld nach § 31 Satz 1 EStG der Freistellung eines Einkommens in Höhe
des Existenzmini-mums eines Kindes. Nur soweit es hierfür nicht erforderlich ist, dient es der Förde-rung der Familie
(Satz 2) und stellt daher eine sozialstaatliche Leis-tung dar (vgl. Schwonberg, JAmt, 2001, 310, 311). Der mangels
Leistungsfähig-keit nicht barun-terhaltspflichtige Elternteil kann sich jedoch ohne Unterhaltsleis-tungen nicht darauf
berufen, dass seine Einkünfte in Höhe des hälftigen Kinder-geldes steuerrechtlich freizustellen sind. Da er rechtlich
zu Unterhaltsleistungen nicht verpflichtet ist, ist es gerechtfertigt, den grundsätzlich ihm zustehenden Kin-
dergeldanteil für den Kin-desunterhalt zu verwenden, in dem der nach dem Ein-kommen des allein barun-
terhaltspflichtigen Elternteils ermittelte Bedarf in Höhe des vollen Kindergeldes gedeckt ist. Für den umgekehrten
Fall des nicht in Höhe von 135 % des Regelbe-trages leistungsfähigen Unterhaltsschuldners enthält § 1612 b Abs. 5
BGB eine entsprechende Regelung, als dort der Kindergeldanteil ebenfalls zur Sicherung des Unterhaltsanspruchs
einzusetzen ist.
Schließlich weist auch § 6 SGB I darauf hin, dass nur derjenige ein Recht auf Min-derung der entstehenden
wirtschaftlichen Belastungen hat, der Kindern Unterhalt zu leisten hat oder leistet.
Für Juli 2002 ergibt sich bei einem Bedarf von 442 € und dem anzurechnenden Kindergeld von 154 € ein
Unterhaltsanspruch von 288 €. Für die Zeit von August bis Dezember 2002 ist darüber hinaus das Einkommen des
Beklagten mit 141 € abzusetzen, sodass ein ungedeckter Bedarf von 147 € verbleibt.
Im Januar 2003 erhielt der Beklagte eine Ausbildungsvergütung von rd. 177 € so-wie eine Krankengeldzahlung von
rd. 82 €, sodass insgesamt 259 € zur Verfü-gung standen. Die anteiligen Fahrtkosten von 74 € mindern sein
Einkommen auf rd. 185 €, sodass ein offener Bedarf von 103 € verbleibt.
Im Februar 2003 erhielt der Beklagte lediglich Krankengeldzahlungen von 224 €, sodass Fahrtkosten nicht in Abzug
zu bringen sind. Unter Berücksichtigung des Kindergeldes bleibt ein ungedeckter Bedarf, sodass der mit der
Berufung ver-folgte Betrag von 83,43 € vom Kläger zu zahlen ist.
Im März 2003 erhielt der Beklagte ein Nettoeinkommen von 139 € und Kranken-geld von 105 €, sodass er insgesamt
über 244 € verfügte. Bei Fahrtkosten von rd. 74 € verblieben ihm 170 €. Unter Berücksichtigung des Kindergeldes
verbleibt ein ungedeckter Bedarf von 118 €.
Von April bis Juni 2003 ist bei einem Bruttomonatsbetrag von 366 € ein Nettobe-trag von 288 € zu berücksichtigen.
Fahrtkosten von 148 € mindern sein Einkom-men auf rd. 140 €, sodass ein ungedeckter Bedarf von 148 € besteht.
Im Juli 2003 erhöht sich der Bedarf des Beklagten durch die geänderte Düssel-dorfer Tabelle auf 465 €, sodass bei
Einkünf-ten von rd. 140 € und dem Kindergeld von 154 € ein ungedeckter Bedarf von 171 € verbleibt.
Ab August 2003 erhöht sich das Bruttoentgelt des Beklagten auf rd. 420 €, sodass sich unter Berücksichtigung der
erhöhten Sozialabgaben ein monatlicher Netto-betrag von rd. 331 € darstellen lässt. Bei Fahrtkosten von 148 €
verbleiben dem Beklagten monatlich 183 €, sodass neben dem Kindergeld von 154 € ein monat-licher
Unterhaltsanspruch von 128 € begründet ist.
Eine weiter gehende Berechnung der künftigen Einkommensverhältnisse des Be-klagten ist dem Senat im Hinblick
auf die nicht feststehenden Einkommenserhö-hungen einerseits und Veränderungen der Sozialabgaben andererseits
nicht mög-lich.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92, 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt
sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
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