Urteil des OLG Celle vom 29.07.2008

OLG Celle: sexueller missbrauch, pflichtverteidiger, wahlverteidiger, schuldfähigkeit, berufsverbot, glaubwürdigkeit, vertretung, vergewaltigung, unterbringung, datum

Gericht:
OLG Celle, 01. Strafsenat
Typ, AZ:
Beschluss, 1 Ws 339/08
Datum:
29.07.2008
Sachgebiet:
Normen:
StPO § 304 Abs 1, StPO § 305 Abs 1, StPO § 141
Leitsatz:
Zumindest die außerhalb der Hauptverhandlung beschlossene Beiordnung eines Verteidigers ist mit
der Beschwerde anfechtbar. Der Senat neigt dazu, die Zulässigkeit einer Beschwerde gegen
Entscheidungen über die Beiordnung unabhängig vom Verfahrensstand für zulässig zu erachten.
Volltext:
Oberlandesgericht Celle
1 Ws 339/08
34a 21/08 LG H.
6041 Js 500/08 StA H.
B e s c h l u s s
In der Strafsache
gegen A. S.,
geboren am 2. Juli 1962 in H.,
zurzeit JVA R.,
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft durch den
Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht #######, den Richter am Oberlandesgericht ####### und den Richter
am Oberlandesgericht ####### am 29. Juli 2008 beschlossen:
Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss der Vorsitzenden der 2. großen Jugendkammer des
Landgerichts H. vom 20. Juni 2008 wird verworfen.
Die Landeskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der insoweit entstanden notwendigen
Auslagen des Angeklagten.
Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).
G r ü n d e :
I.
Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Angeklagten wegen verschiedener Sexual und Betäubungsmitteldelikte am 5.
Mai 2008 Anklage zur Jugendkammer erhoben. Seit dem 3. Juli 2008 findet die Hauptverhandlung statt. Für den
Angeklagten tritt als Wahlverteidiger Rechtsanwalt R. auf. Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Vorsitzende
der Jugendkammer dem Angeklagten zudem Rechtsanwälte Dr. H. und A. wegen der Schwierigkeit der Sache und
des Umfangs des Verfahrens zur Sicherung der Hauptverhandlung beigeordnet. Hiergegen richtet sich die
Beschwerde der Staatsanwaltschaft, der die Vorsitzende nicht abgeholfen hat.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.
1. Die außerhalb der Hauptverhandlung beschlossene Beiordnung von zwei Pflichtverteidigern durch die
Kammervorsitzende ist nach § 304 Abs. 1 StPO mit der Beschwerde anfechtbar. Ihrer Zulässigkeit steht die
Vorschrift des § 305 Satz 1 StPO nicht entgegen. Denn nach Wortlaut und Zweck dieser Norm sind nur solche
Entscheidungen gemeint, die ausschließlich der Urteilsfällung vorausgehen und keine darüber hinausgehenden
Wirkungen erzeugen. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers reicht aber in ihrer prozessualen Wirkung über den
Zeitpunkt der Verkündung des Urteils hinaus (so auch die allg. M. für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers
zumindest vor Beginn der Hauptverhandlung. vgl. OLG Celle, StV 1985, 184. OLG Celle, NStZ 1985, 519. OLG
Koblenz, NStZRR 1996, 206. OLG Karlsruhe NStZ 1988, 287. OLG Hamm, NStZ 1990, 143. OLG Hamm BeckRS
2004 30340029 unter Aufgabe der entgegenstehenden Ansicht aus MDR 1985, 518. OLG Köln BeckRS 2007 04866
unter Aufgabe der entgegenstehenden Ansicht aus NJW 1981, 1523. OLG Hamburg StraFo 2000, 383 unter Aufgabe
der entgegenstehenden Rechtsprechung in NStZ 1985, 88. OLG Frankfurt NStZRR 2007, 244. OLG Stuttgart
NStZRR 1996, 207. OLG München NJW 1981, 2208. KKLaufhütte, § 141 Rn. 13. MeyerGoßner, § 141 StPO Rn. 9.
LRLüderssen/Jahn, § 141 StPO Rn. 48). Dass der Senat die Zulässigkeit einer Beschwerde gegen die Beiordnung
eines zweiten Pflichtverteidigers in NStZ 1998, 637 unter Verweis auf § 305 Satz 1 StPO abgelehnt hat, steht hierzu
nicht im Widerspruch. Im dort zu entscheidenden Sachverhalt war die Entscheidung des Vorsitzenden während der
Hauptverhandlung ergangen. Ob der Beginn der Hauptverhandlung insoweit eine für die Zulässigkeit einer
Beschwerde relevante Zäsur darstellt, war vorliegend somit ohne Bedeutung. Der Senat neigt allerdings dazu, diese
Auffassung aufzugeben und die Zulässigkeit einer Beschwerde gegen Entscheidungen über die Beiordnung
unabhängig vom Verfahrensstand zu bejahen.
2. Die Beschwerde hatte in der Sache indes keinen Erfolg. Die vom Senat vorzunehmende Überprüfung beschränkte
sich dabei darauf, ob die Vorsitzende die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums eingehalten hatte und die von ihr
getroffene Auswahl ermessensfehlerfrei erfolgt ist. Das Beschwerdegericht ist hingegen nicht zu einer eigenen
Ermessensausübung befugt (vgl. KKLaufhütte a. a. O.. MeyerGoßner a. a. O.). Dies zugrunde gelegt, ist die
Entscheidung der Vorsitzenden, zur Sicherung der Hauptverhandlung neben dem Wahlverteidiger zwei
Pflichtverteidiger beizuordnen, rechts und ermessensfehlerfrei. Zwar erfordert allein der Umstand, dass auf der
Anklageseite zwei Staatsanwälte auftreten, nicht die Bestellung zweier Pflichtverteidiger (vgl. OLG Frankfurt a. a.
O.). Vorliegend sind aber so viele das Verfahren in Umfang und Schwierigkeit als erheblich erscheinen lassende
Umstände gegeben, dass die Annahme eines unabweisbaren Bedürfnisses für die Beiordnung mehrerer
Pflichtverteidiger vertretbar ist. Die 120 Seiten umfassende Anklage wirft dem Angeklagten zehn Taten
unterschiedlichster Delikttypen (sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Vergewaltigung, unerlaubtes
Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, Strafvereitelung, Geheimnisverrat, Geldwäsche) vor,
die auch zu einem Berufsverbot führen könnten. Daneben stehen Fragen zur Schuldfähigkeit und einer möglichen
Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie zur Verwertbarkeit und Glaubwürdigkeit
des Hauptbelastungszeugen W. im Raum, die eine längere Dauer der Hauptverhandlung erwarten lassen. Dass der
Angeklagte bereits einen Wahlverteidiger hat, stand der Beiordnung zweier Pflichtverteidiger schließlich nicht
entgegen, nachdem dieser ausweislich eines Vermerks der Vorsitzenden vom 20. Juni 2008 mitgeteilt hat, die
Verteidigung nicht federführend zu betreiben und nicht in der Lage zu sein, eine Vertretung in der Hauptverhandlung
sicherzustellen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 StPO entsprechend. Hinsichtlich der im Beschwerdeverfahren dem
Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen war ein besonderer Ausspruch darüber, dass diese Kosten bei ihm
verbleiben, nicht erforderlich (vgl. MeyerGoßner, § 472 StPO Rn. 2).
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