Urteil des OLG Celle vom 08.11.2004

OLG Celle: sachliche zuständigkeit, beweisverfahren, grundsatz der perpetuatio fori, willkür, erlass, rechtshängigkeit, einverständnis, gerichtspraxis, abgabe, kausalität

Gericht:
OLG Celle, 04. Zivilsenat
Typ, AZ:
Beschluss, 4 AR 90/04
Datum:
08.11.2004
Sachgebiet:
Normen:
ZPO § 281, ZPO § 486
Leitsatz:
Die sachliche Zuständigkeit im selbständigen Beweisverfahren richtet sich nach den Angaben, mit
denen der Antragsteller bei Verfahrensbeginn sein Interesse beziffert. Kommt der aufgrund des
Beweisbeschlusses beauftragte Sachverständige zu einer davon abweichenden höheren oder
niedrigeren Kostenschätzung, wird davon jedenfalls nicht mehr die einmal gegebene sachliche
Zuständigkeit des Gerichts berührt; § 506 ZPO ist auf diesen Fall nicht anwendbar.
Volltext:
4 AR 90/04
5 OH 20/04 Landgericht Verden
8 H 10/04 Amtsgericht Rotenburg (Wümme)
B e s c h l u s s
In dem Verfahren
1. A. H., ...
2. S. H., ...
Antragsteller,
Verfahrensbevollmächtigter zu 1, 2:
Rechtsanwalt L., ...
Geschäftszeichen: ...
gegen
E. R., ...
Antragsgegnerin,
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte E. und M.P., ...
Geschäftszeichen: ...
hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht H. sowie
die Richter am Oberlandesgericht S. und P. am
8. November 2004 beschlossen:
Das Amtsgericht Rotenburg (Wümme) ist zuständig.
Diese Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche
Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Die Antragsteller haben von der Antragsgegnerin ein Hausgrundstück gekauft und wollen wegen einer nach Übergabe
festgestellten Schimmelbildung Ansprüche geltend machen. Zur Vorbereitung einer Hauptsacheklage haben sie das
anhängige selbständige Beweisverfahren beim Amtsgericht Rotenburg beantragt und im Antrag ausdrücklich als
vorläufigen Streitwert den Betrag von 3.000 EUR angegeben. Das Amtsgericht hat zunächst die Antragsgegnerin
angehört und dann den Beweisbeschluss vom 16. August 2004 erlassen. Auf dieser Grundlage ist das Gutachten
des Sachverständigen M. eingeholt worden. In dem Gutachten hat der Sachverständige die Sanierungskosten auf
23.484,20 EUR beziffert. Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 6. September 2004 den Wert des
Streitgegenstandes auf bis zu 25.000 EUR festgesetzt und seine vermeintliche Abschlussverfügung getroffen. Die
Antragsgegnerin greift nunmehr das Gutachten an, lehnt den Sachverständigen M. ab und beantragt mit Schriftsatz
vom 23. September 2004 die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen. Darauf hat das Amtsgericht
durch Verfügung vom 28. September 2004 die Parteien auf seine Auffassung hingewiesen, dass wegen des
Antrages der Antragsgegnerin das Beweisverfahren noch nicht abgeschlossen sei, und angefragt, ob im Hinblick auf
den Streitwertbeschluss Abgabeantrag gestellt werde. Das haben beide Parteien getan. Darauf hat das Amtsgericht
das Verfahren mit Beschluss vom 13. Oktober 2004 an das Landgericht „abgegeben“. Dieses hat die Akte formlos
mit dem Bemerken zurückgesandt, dass das Amtsgericht zunächst über den Befangenheitsantrag entscheiden
müsse. Nunmehr hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 25. Oktober 2004 beschlossen, dass es sich bei dem
Abgabebeschluss vom 13. Oktober 2004 um eine Verweisung handele, die auch im selbständigen Beweisverfahren
zulässig sei, sodass die Zuständigkeit des Amtsgerichts ende. Das Landgericht hat sich mit Beschluss vom 4.
November 2004 für unzuständig erklärt und die Akten dem Oberlandesgericht gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO
vorgelegt.
II.
Die Vorlage ist zulässig. § 36 Abs. 1 ZPO ist auch bei Zuständigkeitsfragen im selbständigen Beweisverfahren
anwendbar (OLGR Celle - erkennender Senat - 2001, 97). Das Amtsgericht Rotenburg (Wümme) war als zuständiges
Gericht zu bestimmen, weil es ungeachtet der nach Eingang des Gutachtens eingetretenen Erhöhung des
Streitwerts weiterhin zuständig ist und im selbständigen Beweisverfahren eine Verweisung nach § 281 ZPO nicht in
Betracht kommt, sodass sich die Frage einer etwaigen Bindung des Landgerichts an einen sachlich unrichtigen
Verweisungsbeschluss nicht stellt. Im Übrigen wäre aber auch im vorliegenden Fall selbst bei Anwendung des § 281
ZPO die Verweisung wegen (mindestens) objektiver Willkür nicht bindend.
1. Ungeachtet aller Zweifel an der Zweckmäßigkeit des § 486 ZPO im Grenzbereich von Streitwerten um die
Streitwertgrenze zwischen amts und landgerichtlicher Zuständigkeit ist für die Zuständigkeit des Gerichts im
selbständigen Beweisverfahren der Streitwert bei Antragstellung maßgeblich (OLG Celle NJWRR 2004, 234;
Zöller/Herget, ZPO, 24. Aufl., § 486, Rdnr. 4; Fischer MDR 2001, 608, 609). Deshalb muss der Antragsteller sein
Interesse nachvollziehbar beziffern und das Gericht schon vor Erlass eines Beweisbeschlusses und Beauftragung
des Sachverständigen den Wert und demgemäß seine Zuständigkeit sorgfältig ermitteln (OLGR München 1993,
166). Wie auch sonst ist für die Bewertung des zu sichernden Anspruchs grundsätzlich auf die
Tatsachenbehauptungen des Antragstellers bei der Einleitung des selbständigen Beweisverfahrens abzustellen;
allenfalls offensichtliche Unter oder Überbewertungen der Schätzung des Antragstellers zu Verfahrensbeginn können
eine Korrektur rechtfertigen (OLG Celle NJWRR 2004, 234). Spätere Veränderungen in der Einschätzung des Werts,
insbesondere der durchaus häufige Fall, dass bei Einholung eines Sachverständigengutachtens sich deutlich höhere
oder niedrigere Bewertungen ergeben, führen nicht zum Wechsel des Zuständigkeitsstreitwerts; ob für den
Kostenstreitwert spätere Erkenntnisse im Lichte des eingeholten Gutachtens zu berücksichtigen sind (vgl. dazu
Zöller/Herget, a.a.O., § 3, Rdnr. 16, „selbständiges Beweisverfahren“ m. w. N. ; s. auch OLGR Celle 2003, 116 -
erkennender Senat ), ist im vorliegenden Zuständigkeitskonflikt ohne Bedeutung. Der Senat lässt diese Frage offen,
zumal keine Partei eine Streitwertbeschwerde eingelegt hat.
Dementsprechend haben die Antragsteller den Wert und damit ihr Interesse an einer Hauptsacheklage mit
voraussichtlich 3.000 EUR angegeben und die vor Erlass des Beweisbeschlusses angehörte Antragsgegnerin hat
jedenfalls nicht der Wertangabe widersprochen. Das Amtsgericht ist auch nicht etwa aufgrund einer „dringenden
Gefahr“ im Sinne von § 486 Abs. 3 ZPO angerufen worden, sondern aufgrund seiner sachlichen Zuständigkeit
entsprechend der Bewertung des Sicherungsinteresses der Antragsteller. Das Amtsgericht hat sich auf dieser
Grundlage zutreffend in der Annahme eines Streitwerts von 3.000 EUR für zuständig erachtet und demgemäss den
Beweisbeschluss erlassen.
Selbst wenn im Hinblick auf das Ergebnis des Gutachtens der Kostenstreitwert nunmehr auf bis zu 25.000 EUR
festgesetzt werden konnte und sich die Antragsteller die Schätzung des Sachverständigen zu eigen machen, ändert
dies nichts an der einmal gegebenen Zuständigkeit des Amtsgerichts. Dies folgt aus
§ 261 Abs. 3 ZPO und dem darin verankerten Grundsatz der „perpetuatio fori“, der zwar wegen fehlender
Rechtshängigkeit nicht unmittelbar, gleichwohl nach soweit ersichtlich unbestrittener Auffassung aber jedenfalls
analog anwendbar ist. Der Ausnahmefall des § 506 ZPO, dass bei Erhebung einer Widerklage oder durch eine
Klageerweiterung in einem beim Amtsgericht rechtshängigen Verfahren ein Anspruch erhoben wird, der zur
Zuständigkeit des Landgerichts gehört, betrifft nicht das selbständige Beweisverfahren, auch wenn sich - ohne
Änderung von Anträgen - aufgrund späterer Erkenntnisse die die Zuständigkeit begründende Schätzung des
Antragstellers als zu niedrig oder zu hoch erweist (OLG Frankfurt NJWRR 1998, 1610; OLGR Bamberg 1998, 282;
Fischer MDR 2001, 610). § 506 ZPO ist eine Ausnahmevorschrift von dem Grundsatz der von § 261 Abs. 3 ZPO
gewollten „perpetuatio fori“ und deshalb durch enge Auslegung auf die beiden in der Vorschrift geregelten
Tatbestände zu beschränken (BGH NJWRR 1996, 891). Dazu gehören geänderte Schätzungen des Werts im
selbständigen Beweisverfahren - weder noch oben noch nach unten - nicht. Andernfalls käme man zu dem wenig
sinnvollen Ergebnis, dass etwa dann, wenn sich in einem beim Landgericht anhängigen Beweisverfahren aufgrund
des Gutachtens heraus stellt, dass die vom Antragsteller behauptete Kausalität nicht gegeben ist und damit der
geltend gemachte Anspruch schon dem Grunde nach nicht besteht, der Wert „0 EUR“ wäre und das Landgericht für
folgende Streitfragen die Sache an das Amtsgericht verweisen müsste.
Nach alledem ändert sich an der Zuständigkeit des Amtsgerichts auch dann nichts, wenn die Festsetzung des
Kostenstreitwerts auf bis zu 25.000 EUR für richtig wäre.
2. Auch über § 281 Abs. 2 ZPO - bindende Verweisung - ergibt sich keine Zuständigkeit des Landgerichts. Denn
nach h. M. ist eine „Verweisung“ im selbständigen Beweisverfahren nicht möglich, weil es an der Voraussetzung
einer Verweisung, nämlich der Rechtshängigkeit, fehlt (OLG Zweibrücken BauR 1997, 885; Zöller/Herget, a. a. O., §
486, Rdnr. 2; a. A. Fischer MDR 2001, 608, 611). Vielmehr ist bei Einverständnis des Antragstellers etwa bei
Zweifeln des angerufenen Gerichts an dessen Angaben zum Streitwert bei Antragstellung und vor einer
Entscheidung des Gerichts über den Antrag selbst eine Abgabe möglich. Für eine bindende Verweisungsmöglichkeit
im selbständigen Beweisverfahren und damit eine analoge Anwendung des § 281 Abs. 2 ZPO gibt es auch keine
zwingenden Gründe. Denn da nach § 486 Abs. 2 ZPO im nachfolgenden Streitverfahren allenfalls der Antragsteller,
nicht aber der Antragsgegner gehindert wäre, sich auf die Unzuständigkeit des Gerichts zu berufen, geht das Gesetz
selbst davon aus, dass im selbständigen Beweisverfahren keine endgültige Bindung für das Gericht des
Hauptsacheverfahrens geschaffen werden soll. Insofern konnte eine - an sich nicht gegebene - Zuständigkeit des
Landgerichts auch nicht über eine sog. bindende Verweisung eintreten.
3. Letztlich kann aber auch diese Frage offen bleiben. Denn wenn man mit der Auffassung von Fischer MDR 2001,
608, 611 eine Anwendung von § 281 Abs. 2 ZPO auf das selbständige Beweisverfahren befürworten würde (so wird
z.B. im PKHVerfahren auch ohne die Bedingung der Rechtshängigkeit § 281 Abs. 3 ZPO für anwendbar gehalten,
vgl. Zöller/Greger, a.a.O., § 281, Rdnr. 2 m. w. N.), wäre der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts wegen
objektiver Willkür nicht bindend (vgl. Zöller/Greger, a. a. O., § 281, Rdnr. 17 m. w. N.). Objektive Willkür fehlt
regelmäßig dann, wenn sich das verweisende Gericht für seine möglicherweise auch unrichtige Auffassung auf
jedenfalls „vertretbare“ Argumente berufen kann (BGH NJWRR 2002, 1498). Für seine Auffassung, durch die höhere
Einschätzung des Werts im Hinblick auf das Ergebnis des Gutachtens und die damit einhergehende - mindestens
vertretbare - Festsetzung des Kostenstreitwerts auf 25.000 EUR ende seine sachliche Zuständigkeit für das
selbständige Beweisverfahren, kann sich das Amtsgericht auf - soweit ersichtlich - keine in Rechtsprechung und
Literatur vertretenen Argumente berufen; die von ihm im Anschluss an die Kommentierung bei Zöller/Greger, ZPO,
a.a.O., § 281, Rdnr. 15 zitierte BGHEntscheidung NJWRR 1993, 700 betrifft nur die allgemeine Wirkung einer
bindenden Verweisung, besagt aber nichts für die sachliche Zuständigkeit im selbständigen Beweisverfahren. Das
Amtsgericht setzt sich auch nicht mit der nahe liegenden Frage auseinander, weshalb es sich - zutreffend - selbst
ursprünglich für zuständig angesehen, den in der Sache beantragten Beweisbeschluss erlassen, auch in Kenntnis
des Ergebnisses des Gutachtens den Kostenstreitwert auf 25.000 EUR festgesetzt und ohne Zweifel an seiner
Zuständigkeit die das Verfahren abschließende Verfügung („Gutachten an Parteien, Kosten, weglegen“) getroffen und
solche Zweifel erst bekommen hat, als sich im Hinblick auf die Stellungnahme der Antragsgegnerin zum Gutachten
Probleme ergaben, die sich nicht über die üblicherweise formularmäßigen gerichtlichen Entscheidungen im
selbständigen Beweisverfahren lösen lassen.
Man kann zweifeln, ob hier sogar subjektive Willkür vorlag (warum wurde der „Abgabebeschluss“ vom 13. Oktober
2004 nachträglich als „Verweisungsbeschluss“ deklariert, als sich für das Amtsgericht abzeichnete, dass das
Landgericht die Sache nicht einfach übernehmen würde?). Es genügt jedoch objektive Willkür, die dann gegeben ist,
wenn ein zuständiges Gericht die Sache verweist, ohne dass es sich auf wenigstens vertretbare Zweifel an seiner
Zuständigkeit berufen könnte. Solche zumindest vertretbaren Zweifel an der weiteren Zuständigkeit des
Amtsgerichts gibt es aus den obigen Gründen nicht und das Amtsgericht nennt solche beachtlichen Gründe auch
nicht. Es widerspräche auch der üblichen Gerichtspraxis im selbständigen Beweisverfahren, wenn z.B. nach
Durchführung des bereits von dem angerufenen Gericht erlassenen Beweisbeschlusses - dessen Erlass ja die
Bejahung seiner Zuständigkeit durch das erlassende Gericht voraussetzt - das Verfahren vom Landgericht ans
Amtsgericht oder vom Amtsgericht an Landgericht abgegeben würde, je nachdem, ob der Sachverständige die vom
Antragsteller zunächst gemachten Angaben zur Höhe seines Interesses für überhöht oder zu niedrig erachtet. Es
gibt also auch keine übliche Gerichtspraxis, auf die sich das Amtsgericht für seine Auffassung berufen könnte, wenn
es denn schon keine Argumente dafür angibt.
Der Annahme mindestens objektiver Willkür steht auch nicht entgegen, dass beide Parteien die Abgabe an das
Landgericht beantragt haben. Zwar vertritt der erkennende Senat in Übereinstimmung mit der herrschenden
Rechtsprechung zur Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen nach § 281 Abs. 2 ZPO die Auffassung, dass -
in den Grenzen der „Gerichtsstandserschleichung“ - es an objektiver Willkür einer Verweisung in der Regel fehlt,
wenn das verweisende Gericht den übereinstimmenden Anträgen der Parteien folgt (OLGR Celle 2000, 224;
Tombrink NJW 2003, 2364, 2366). Das gilt aber nicht bei einer sogenannten „provozierten Verweisung“. Weist ein
Gericht von sich aus auf eine nach der Rechtslage aber nicht gegebene Verweisungsmöglichkeit hin, so sind auch
der daraufhin vom Kläger/Antragsteller gestellte Verweisungsantrag und das Einverständnis des Gegners nicht
geeignet, der rechtswidrigen Verweisung den Willkürcharakter zu nehmen (BGH NJW 2002, 3634). So liegt es hier:
Wie oben schon dargelegt hat das Amtsgericht von sich aus - noch nicht einmal im Zusammenhang mit dem Erlass
des Streitwertbeschlusses vom 6. September 2004 - den unzutreffenden Hinweis auf die sachliche Zuständigkeit
des Landgerichts für die Fortsetzung des Beweisverfahrens gegeben und so die Abgabeanträge der Parteien
ausgelöst.
H. S. P.