Urteil des OLG Brandenburg vom 23.03.2007

OLG Brandenburg: einkünfte, selbstbehalt, arbeitskraft, haushalt, trennung, firma, heimat, kosovo, wohnkosten, scheidungsverfahren

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 2.
Senat für
Familiensachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
10 UF 88/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 1603 Abs 2 BGB, § 1610a BGB,
§ 1613 Abs 1 BGB, § 1629 Abs 3
BGB
Kindesunterhalt: Zurechnung eines fiktiven Einkommens
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Fürstenwalde vom 23.
März 2007 abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin für die minderjährige Tochter Sa. Z. ab
August 2006 monatlichen Unterhalt von 80 €, den zukünftigen Unterhalt jeweils
monatlich im Voraus zum 1. eines jeden Monats, zu zahlen.
Die weitergehende Klage und die weitergehende Berufung werden zurückgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 2/3, der Beklagte 1/3 zu zahlen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Berufungswert wird auf 3.420 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Klägerin verlangt vom Beklagten für die gemeinsame, am ... 1999 geborene Tochter
Sa. monatlichen Unterhalt in Höhe von 228 € für die Zeit ab Februar 2006.
Die Parteien sind seit dem 7.5.1999 verheiratet, das Scheidungsverfahren ist eingeleitet.
Die Tochter Sa. lebt im Haushalt der Klägerin. Diese ist blind und erhält
Rentenleistungen.
Der Beklagte stammt aus dem Kosovo und lebt seit 1997 in Deutschland. Während der
Ehe hat er den gemeinsamen Haushalt, in dem noch drei weitere Kinder der Klägerin
lebten, versorgt. Nach der Trennung bezog der Beklagte Leistungen nach SGB II, von
Oktober 2006 bis zum 8.4.2007 hatte er eine Stelle bei der T. GmbH, seither arbeitet er
im Umfang von 100 Std./Monat bei der Firma P. in B..
Auf die Aufforderung der Klägerin vom 28.2.2006 teilte der Beklagte durch Schreiben
vom 7.3.2006 mit, keinen Unterhalt zahlen zu können. Die Klägerin hat mit der daraufhin
erhobenen Klage monatlichen Unterhalt von 228 € verlangt. Der Beklagte hat sich auf
Leistungsunfähigkeit berufen und die Ansicht vertreten, dass die Klägerin im Hinblick auf
die Höhe ihrer Rente als andere leistungsfähige Verwandte zur Zahlung des
Barunterhalts heranzuziehen sei.
Durch das am 23.3.2007 verkündete Urteil hat das Amtsgericht die Klage abgewiesen.
Wegen der tatsächlichen Feststellungen wird gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf
das angefochtene Urteil Bezug genommen.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung. Sie hält den Beklagten für
leistungsfähig und meint, dass der Selbstbehalt des Beklagten im Hinblick darauf, dass
er nur geringe Wohnkosten habe, zu kürzen sei.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an sie für die Tochter Sa. Unterhalt für 2-4/06 von
insgesamt 684 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 28.2.2006, sowie
ab 1.5.2006 Unterhalt in Höhe des Mindestregelbetrags von 228 € monatlich zum 1.
eines jeden Monats zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt Klageabweisung und behauptet, er könne kein den Selbstbehalt
übersteigendes Einkommen erzielen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den vorgetragenen Inhalt der
gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Der Senat hat die Parteien angehört.
Die Klägerin hat erklärt:
Ich bin fast blind, ich kann nur noch hell und dunkel unterscheiden. Ich bin deshalb auf
die Hilfe von Begleitpersonen angewiesen und brauche umfangreiche Unterstützung im
Alltag, wodurch der größte Teil meiner Einkünfte aufgezehrt wird. Diese setzen sich aus
Erwerbsunfähigkeitsrente, Blindengeld und Opferentschädigung zusammen, letztere
erhalte ich, weil ich aufgrund einer Straftat erblindet bin. Im Hinblick darauf hat der
Beklagte auch die gegen mich erhobene Klage auf Zahlung von Trennungsunterhalt
zurückgenommen.
In meinem Haushalt leben noch meine drei weiteren Kinder, sie sind 18, 16 und 12 Jahre
alt. Die Älteste bekommt eine Halbwaisenrente, sie befindet sich in der Ausbildung zur
Sozialassistentin. Abgesehen von einem Betrag von 84 € erhalte ich für meine Kinder
keinen Unterhalt.
Der Beklagte hat erklärt:
Die Klage auf Trennungsunterhalt habe ich zurückgenommen, weil ich mich mit der
Klägerin nicht weiter streiten wollte.
Ich habe in meiner Heimat, dem Kosovo, in der Landwirtschaft und als
Gemüsetransporteur gearbeitet, eine Maurerlehre habe ich nicht gemacht.
Ich lebe in der von uns gepachteten Gartenlaube, sie ist klein und schwer zu heizen. Die
Ausstattung ist sehr einfach.
II.
Die zulässige Berufung ist nur zum Teil begründet. Die Klägerin kann für die Tochter Sa.
Unterhalt nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang verlangen.
Nachdem die Mutter der minderjährigen Sa. nun an deren Stelle als Klägerin in den
Prozess eingetreten ist, bestehen an der Prozessführungsbefugnis und damit der
Zulässigkeit der Klage keine Bedenken mehr. Der Parteiwechsel auf der Klägerseite war
jedoch erforderlich, weil das Scheidungsverfahren bisher nicht abgeschlossen ist, sodass
die Mutter den Unterhaltsanspruch der Tochter gegen den Vater, den Beklagten, nur im
eigenen Namen geltend machen kann, § 1626 Abs. 3 Satz 1 BGB.
Der Unterhaltsanspruch beruht auf §§ 1601 ff. BGB. Die Klägerin kann für die sechs Jahre
alte Tochter Sa. allerdings nur monatlichen Unterhalt in Höhe von 80 € verlangen. Denn
der Beklagte ist nur insoweit leistungsfähig.
Der Beklagte kann aufgrund seiner tatsächlichen Einkünfte zwar überhaupt keinen
Unterhalt zahlen. Denn sie liegen durchweg unter dem notwendigen Selbstbehalt von
710 € bzw. 820 € (Nr. 21.2 der Unterhaltsleitlinien des Brandenburgischen
Oberlandesgerichts, Stand 1.7.2005 bzw. 1.7.2007). Bis 8.10.2006 hat der Beklagte
Leistungen nach SGB II von monatlich 412 € bzw. 426 €, danach Arbeitseinkünfte bei der
T. GmbH von 715 € netto erhalten, seit April 2007 erzielt er bei der Firma P. aufgrund
einer Teilzeitbeschäftigung monatlich 551 €. Der Beklagte muss sich aber fiktives
Einkommen von rund 900 € zurechnen lassen.
Die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners wird nämlich nicht nur durch tatsächlich
vorhandenes Einkommen, sondern auch durch seine Erwerbsfähigkeit und seine
Erwerbsmöglichkeiten bestimmt. Verfügt er über keine Einkünfte oder reicht
vorhandenes Einkommen zur Erfüllung der Unterhaltspflichten nicht aus, trifft ihn
unterhaltsrechtlich die Obliegenheit, die ihm zumutbaren Einkünfte zu erzielen,
insbesondere seine Arbeitskraft so gut wie möglich einzusetzen und eine einträgliche
Erwerbstätigkeit auszuüben. Insbesondere legt ihm die besondere Unterhaltspflicht
gegenüber minderjährigen Kindern eine erhöhte Arbeitspflicht unter gesteigerter
Ausnutzung seiner Arbeitskraft auf. Kommt er dieser Erwerbsobliegenheit nicht nach,
muss er sich so behandeln lassen, als ob er ein Einkommen, das er bei gutem Willen
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muss er sich so behandeln lassen, als ob er ein Einkommen, das er bei gutem Willen
erzielen könnte, auch tatsächlich hätte (vgl. BGH, FamRZ 1996, 345; FamRZ 1994, 373
ff, 375; Wendl/Scholz, Unterhaltsrecht, 6. Aufl., § 2, Rz. 145).
Daher muss sich der Beklagte ein Einkommen anrechnen lassen, das er bei gehöriger
Ausnutzung seiner Arbeitskraft aufgrund vollschichtiger Arbeit erzielen könnte. Bei der
Bemessung der fiktiven Einkünfte ist einerseits zu beachten, dass der Beklagte
gesundheitlich nicht beeinträchtigt ist. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der
Beklagte ungeachtet der Frage, ob er in seiner Heimat eine Berufsausbildung
abgeschlossen hat, während des ehelichen Zusammenlebens rund acht Jahre lang nicht
am Erwerbsleben teilgenommen hat und von ihm schon im Hinblick darauf nur eine
Hilfstätigkeit erwartet werden kann. Hinzu kommt, dass der Beklagte bereits 40 Jahre alt
ist und vor der Trennung der Parteien noch nicht in Deutschland gearbeitet hat.
Unter Berücksichtigung all dessen kann erwartet werden, dass der Beklagte eine
vollschichtige Hilfstätigkeit, etwa auf dem Bau, ausübt. Damit kann er ein monatliches
Nettoeinkommen von 900 € erzielen (s. dazu auch OLG Hamm, FamRZ 2007, 1480;
Eschenbruch/Mittendorf, Der Unterhaltsprozess, 4. Aufl., Rz. 6347;
Kalthoener/Büttner/Niepmann, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 9. Aufl., Rz.
633), was sich im Übrigen auf der Grundlage eines Stundenlohns von 7 €, den der
Beklagte aufgrund seiner derzeitigen Tätigkeit auch tatsächlich erhält, ergibt. Davon
können fiktive Fahrtkosten nicht abgezogen werden.
Mit einem anrechenbaren Einkommen von 900 € kann der Beklagte unter
Berücksichtigung des notwendigen Selbstbehalts von 820 € (Nr. 21.2. der
Unterhaltsleitlinien des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, Stand 1.7.2005 bzw.
1.7.2007) monatlichen Unterhalt von 80 € zahlen.
Der Selbstbehalt ist entgegen der Ansicht der Klägerin im Hinblick darauf, dass der
Beklagte nur geringere Wohnkosten hat, als nach den genannten Unterhaltsleitlinien im
Selbstbehalt berücksichtigt, nicht zu kürzen. Denn es ist grundsätzlich Sache des
Unterhaltspflichtigen, wie er die ihm verbliebenen Mittel nutzt (vgl. dazu BGH, FamRZ
2004, 186, 189; FamRZ 2004, 370, 373, Kalthoener/Büttner/Niepmann, a.a.O., Rz. 970
a.E.). Es kommt ihm daher zu Gute, wenn er sich, wie hier, mit bescheidenen
Wohnverhältnissen zufrieden gibt
Der Ansatz eines fiktiven Einkommens auf Seiten des Beklagten kommt allerdings nicht
bereits mit Beginn des Unterhaltszeitraums, also ab März 2006, in Betracht. Zwar hat
der Beklagte auf die Aufforderung vom 28.2.2006, die ihm frühestens im März 2006
zugegangen sein kann (der 28.2. ist der letzte Tag des Monats), durch Schreiben vom
7.3.2006 mitgeteilt, dass er keinen Unterhalt zahle, sodass er sich von da an in Verzug
befand (vgl. dazu Palandt/Heinrichs, BGB, 66. Aufl., § 286, Rz. 24) und die
Voraussetzungen des § 1613 Abs. 1 BGB ab März 2006 vorlagen. Dem Beklagten ist
aber eine angemessene Übergangszeit zuzubilligen (vgl. OLG Hamm, FamRZ 2003, 177;
Eschenbruch/Mittendorf, a.a.O., Rz. 6337).
Nach der Trennung der Parteien ist der Beklagte erstmals durch das genannte
Schreiben zur Zahlung von Kindesunterhalt aufgefordert worden. Daher musste er sich
erst seit dem Zugang dieses Schreibens im März 2006 auf die Zahlungsverpflichtung
einrichten und, da er keine Arbeit hatte, eine Stelle suchen. Selbst wenn man gehörige
Arbeitsplatzbemühungen ab März 2006 unterstellt, wird man annehmen müssen, dass
eine Stelle nicht vor August 2006 hätte angetreten werden können. Daher ist dem
Beklagten fiktives Erwerbseinkommen von 900 € erst ab August 2008 zuzurechnen. Für
die Zeit davor ist von Leistungsunfähigkeit des Beklagten auszugehen.
Da die Einkünfte der Klägerin, wie sich dem vom Beklagten vorgelegten Kontoauszug
vom 31.10.2004 entnehmen lässt, zum weit überwiegenden Teil (gut ¾) aus einer
Opferentschädigungsrente bestehen, von der gemäß § 1610 a BGB zu vermuten ist,
dass sie für den mit der Behinderung verbundenen Mehraufwand benötigt wird (vgl. dazu
Wendl/Dose, a.a.O., § 1, Rz. 443 ff.), kann die Mutter nicht als andere unterhaltspflichtige
Verwandte gemäß § 1603 Abs. 2 Satz 3 BGB für den Unterhalt der Tochter Sa.
herangezogen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
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