Urteil des OLG Brandenburg vom 15.03.2017

OLG Brandenburg: entlassung aus der haft, einstellung des verfahrens, widerruf, nötigung, bewährung, körperverletzung, inhaftierung, integration, strafvollzug, haftentlassung

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 1.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 Ws 198/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 56a StGB, § 56f Abs 1 S 1 Nr 1
StGB, § 56f Abs 2 S 1 Nr 2 StGB,
§ 56f Abs 2 S 2 StGB, § 453 Abs
1 StPO
Bewährungswiderruf: Verzögerte Widerrufsentscheidung nach
Entlassung des Verurteilten aus der Strafhaft in anderer Sache
Leitsatz
Eine erneute Inhaftierung eines Verurteilten durch Bewährungswiderruf nach zwischenzeitlich
erfolgter Entlassung aus dem Strafvollzug in anderer Sache ist grundsätzlich nicht sinnvoll,
wenn dadurch der Beginn der sozialen Integration des Verurteilten wieder gefährdet würde .
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Landgerichts
Potsdam - Strafvollstreckungskammer - vom 22. August 2008 über den Widerruf der
Strafaussetzung aufgehoben.
Die mit Beschuss des Landgerichts Potsdam - Strafvollstreckungskammer - vom 27.
Dezember 2004 (20 StVK 301/04, rechtskräftig seit dem 6. Januar 2005) auf drei Jahre
festgesetzte, zunächst bis 5. Januar 2008 laufende Bewährungszeit wird um zwei Jahre
verlängert.
Der Verurteilte wird für die weitere Dauer der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung
eines für seinen Wohnsitz zuständigen Bewährungshelfers unterstellt.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens und die dem Verurteilten darin entstandenen
notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
I.
Das Landgericht Potsdam verhängte gegen den Verurteilten am 23. Mai 2001 wegen
Beihilfe zum Mord eine Freiheitsstrafe von vier Jahren. Mit Beschuss vom 27. Dezember
2004 (rechtskräftig seit 6. Januar 2005) setzte die auswärtige
Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Potsdam bei dem Amtsgericht
Brandenburg an der Havel die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus diesem Urteil
nach Verbüßung von zwei Dritteln zur Bewährung aus. Die Dauer der Bewährungszeit
wurde auf drei Jahre festgesetzt. Für die Dauer von zwei Jahren wurde der Verurteilte der
Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt. Die Unterstellung unter die
Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers wurde mit Beschuss vom 5. Februar 2007
bis zum Ende der Bewährungszeit verlängert.
Mit Urteil vom 28. März 2007 verhängte das Amtsgericht Tiergarten wegen vorsätzlicher
Körperverletzung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit gemeinschaftlicher
Nötigung, (Tatzeitpunkt der Tatbegehung: 6. Juli 2006) eine Gesamtfreiheitsstrafe von
sechs Monaten. Das Landgericht Berlin erkannte im Berufungsverfahren - nach
Einstellung des Verfahrens hinsichtlich einer der Taten gemäß § 154 Abs. 2 StPO - wegen
vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung auf eine Freiheitsstrafe von
fünf Monaten.
Das Urteil des Landgerichts vom 20. Juni 2007 ist seit dem 7. Dezember 2007
rechtskräftig. Die darin verhängte Strafe verbüßte der Verurteilte bis zu seiner
Entlassung am 21. August 2008 voll.
Mit Beschluss vom 22. August 2008 widerrief die Strafvollstreckungskammer des
Landgerichts Potsdam die mit Beschluss vom 27. Dezember 2004 angeordnete
Aussetzung der Bewährung. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des
Verurteilten.
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II.
Das entsprechend § 453 Abs. 2 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige,
insbesondere fristgerecht gemäß § 311 Abs. 2 StPO eingelegte Rechtsmittel des
Verurteilten hat Erfolg. Ein Widerruf der Strafaussetzung gemäß § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB
ist im vorliegenden Fall nicht mehr gerechtfertigt, weil im Hinblick auf die zwischenzeitlich
erfolgte Haftverbüßung eine Verlängerung der Bewährungszeit zur Einwirkung auf den
Verurteilten ausreicht (§ 56 f Abs. 2 Nr. 2 StGB).
Der Verurteilte hat zwar während der Bewährungszeit eine vorsätzliche Körperverletzung
in Tateinheit mit Nötigung begangen und dadurch gezeigt, dass die Erwartung, die der
Strafaussetzung zu Grunde lag, sich nicht erfüllt hat. Nach § 56 f Abs. 2 StGB hat das
Gericht jedoch von dem Widerruf abzusehen, wenn andere Maßnahmen, insbesondere
die Verlängerung der Bewährungszeit, ausreichen. Dies ist hier der Fall.
Der Verurteilte hat die gegen ihn aufgrund der Taten, die Anlass für die Prüfung eines
Widerrufs der Bewährung sind, festgesetzte Freiheitsstrafe von fünf Monaten
zwischenzeitlich vollständig verbüßt, ohne dass vor seiner Entlassung aus der Haft über
die Frage eines Widerrufs der Strafaussetzung entschieden worden ist. Nach der
zutreffenden obergerichtlichen Rechtsprechung ist jedoch eine erneute Inhaftierung
eines Verurteilten durch Bewährungswiderruf nach zwischenzeitlich erfolgter Entlassung
aus dem Strafvollzug in anderer Sache grundsätzlich nicht sinnvoll, wenn dadurch der
Beginn der sozialen Integration des Verurteilten wieder gefährdet würde (vgl. OLG
Düsseldorf StV 1991, 29, 30; 1994, 200; Senatsbeschlüsse vom 21. November 2005 - 1
Ws 171/05 sowie vom 20. Februar 2006 - 1 Ws 209/05). So liegt der Fall hier.
Der Verurteilte, der - anders als zum Zeitpunkt der in der Bewährungszeit begangenen
Straftat - in Zerbst auf dem Hof seiner betagten Mutter lebt und diese bei der
Bewältigung ihrer Aufgaben unterstützt sowie sich nach seinen Angaben im
Beschwerdeverfahren durch Gespräche mit der Kommune für Arbeit vor Ort um eine
Arbeitsstelle bemüht, verfügt über eine hinreichend aussichtsreiche Sozialprognose.
Seine diesbezüglichen Aussichten wären durch eine - erneute - Inhaftierung nachhaltig
beeinträchtigt. Dass über die Frage des Widerrufs der Strafaussetzung erst nach
vollständiger Verbüßung der Haftstrafe entschieden worden ist, beruht auf Umständen,
auf die der Verurteilte keinen Einfluss hatte. Die nach § 453 Abs. 1 StPO zu treffenden
Nachtragsentscheidungen müssen nach ihrem Sinn und Zweck und dem Ziel der
Strafvollstreckung im Fall der Verbüßung einer Freiheitsstrafe in anderer Sache so
rechtzeitig ergehen, dass eine nahtlose Anschlussvollstreckung gewährleistet ist.
Diesem Grundsatz ist im Einzelfall dadurch Rechnung zu tragen, dass ohne
Verzögerungen frühzeitig entschieden wird (vgl. OLG Düsseldorf, StV 1991, 29 f). Dass -
wie im vorliegenden Fall - erst nach der Haftentlassung eine Entscheidung über den
Widerruf getroffen wurde, darf sich deshalb nicht zum Nachteil des Verurteilten
auswirken und darf zwischenzeitlich begonnene Bemühungen um eine soziale
Integration nicht beeinträchtigen.
Das Widerrufsverfahren ist den danach geltenden Anforderungen nicht gerecht
geworden. Der Strafvollstreckungskammer ist bereits am 30. Mai 2007 durch Mitteilung
des Landgerichts Berlin mitgeteilt geworden, dass der Angeklagte seine Berufung auf
das Strafmaß beschränkt habe. Die Mitteilung, dass seine Revision vom Kammergericht
verworfen wurde und die Verbüßung der fünfmonatigen Freiheitsstrafe bevorstand, ist
der Strafvollstreckungskammer bereits am 4. Januar 2008 bekannt geworden. Die auf
seine Anhörung zu dem von der Staatsanwaltschaft beantragten Widerruf der
Strafaussetzung abgegebene Stellungnahme des Verurteilten lag der
Strafvollstreckungskammer am 22. Mai 2008 vor. Dass gleichwohl erst am 22. August
2008 und damit einen Tag nach Haftentlassung über die Frage des Widerrufs der
Strafaussetzung entschieden wurde, hat der Verurteilte nicht zu vertreten.
Die Verlängerung der Bewährungszeit von ursprünglich drei Jahren auf insgesamt fünf
Jahre ist rechtlich zulässig. Zwar darf die Bewährungszeit gemäß § 56 f Abs. 2 Satz 2
StGB grundsätzlich nicht um mehr als die Hälfte der zunächst bestimmten
Bewährungszeit verlängert werden, wenn das Gericht gemäß § 56 f Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
StGB von dem Widerruf absieht, weil es ausreicht, die Bewährungs- oder
Unterstellungszeit zu verlängern.
Diese Beschränkung gilt jedoch nur, wenn die Bewährungszeit über das in § 56 a Abs. 1
StGB bestimmte Höchstmaß von fünf Jahren hinaus verlängert werden soll. Bei einer
Verlängerung der Bewährungszeit bis zu fünf Jahren gilt die Fristbegrenzung des § 56 f
Abs. 2 Satz 2 StGB, die erkennbar keine Einschränkung gegenüber § 56 a Abs. 2 Satz 2
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Abs. 2 Satz 2 StGB, die erkennbar keine Einschränkung gegenüber § 56 a Abs. 2 Satz 2
StGB bewirken soll, dagegen nicht (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht,
Beschluss vom 26. Januar 2005 - 1 Ws 194/04; vom 23. März 2006 - 1 Ws 71/06; vom 3.
Juli 2008 - 2 Ws 107/08; OLG Stuttgart, NStZ 2000, 478, 479).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1
StPO.
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