Urteil des OLG Brandenburg vom 22.06.2005

OLG Brandenburg: kürzung der versicherungsleistung, unfallversicherung, depression, vollstreckung, rechtswidrigkeit, zustand, anzeigepflicht, verminderung, sicherheitsleistung, rüge

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 4.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
4 U 139/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts
Frankfurt (Oder) vom 22. Juni 2005 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung gegen
Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren
Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe
von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I. Der Kläger begehrt aus einer bei der Beklagten abgeschlossenen Unfallversicherung
im Wege der Teilklage Zahlung einer Invaliditätsleistung in Höhe von 50.000,00 € mit der
Begründung, er habe sich am 27. Januar 2003 bei einem Sturz auf der Außentreppe
seines Hauses eine Bandscheibenprotrusion links L3/L4 mit Spinalkanalstenose
zugezogen.
Die Beklagte bestritt die Unfallursächlichkeit der Spinalkanalstenose, den behaupteten
Invaliditätsgrad von 50 % und machte eine Kürzung der Versicherungsleistung gemäß §
8 AUB 88 geltend. Ferner berief sie sich auf Leistungsfreiheit wegen einer
Obliegenheitsverletzung durch den Kläger, weil dieser die Frage 29 - insoweit unstreitig -
und die Frage 30 in der Unfallanzeige objektiv falsch beantwortet habe.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die tatsächlichen
Feststellungen in dem angefochtenen Urteil Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 ZPO).
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die
Beklagte sei gemäß den §§ 6 Abs. 3 VVG, 10 AUB 88 von ihrer Leistungspflicht frei
geworden, weil dem Kläger bei Abgabe seiner Unfallanzeige eine vorsätzliche
Obliegenheitsverletzung zur Last falle. Objektiv sei nicht nur die Frage 29, sondern auch
die Frage 30 der Unfallanzeige - ebenso wie die erste Frage aus dem Schreiben der
Klägerin vom 17. Dezember 2003 - falsch beantwortet worden, denn der Kläger sei
unmittelbar vor dem Unfallereignis an den durch den Unfall betroffenen Körperteilen,
nämlich wegen im Lendenbereich auftretenden Rückenschmerzen, in ärztlicher
Behandlung gewesen. Er selbst habe als die durch den Unfall eingetretenen
Verletzungen (Frage 15) „Schmerzen im Rücken und in beiden Beinen“ angegeben.
Die Vermutung zumindest bedingt vorsätzlichen Verhaltens des Versicherungsnehmers
bei Vorliegen einer objektiven Obliegenheitsverletzung habe der Kläger nicht entkräftet.
Sein Einwand, er habe die Fragen 29 und 30 als solche nach einschlägigen Erkrankungen
- nämlich der Bandscheibe - verstanden, greife nicht durch, denn die Fragen seien
eindeutig formuliert und nicht mißzuverstehen. Zudem lasse sich diese Erklärung nicht
mit den Angaben zu Frage 15 nach den unfallbedingten Verletzungen in Einklang
bringen, die er mit "Schmerzen im Rücken und in beiden Beinen" angegeben habe. Dem
Kläger, der als Lehrer über einen mehr als nur durchschnittlichen Bildungsgrad verfüge,
müsse auch klar gewesen sein, dass mit „den jetzt betroffenen Körperteilen“ der Rücken
gemeint sei. Soweit er vorträgt, der Zeitraum der Krankschreibung vom 13. bis 24.
Januar 2003 und der Unfall seien für ihn zeitlich nicht voneinander zu trennen gewesen,
stünde dies in Widerspruch zu seinem Vorbringen, die Beschwerden, wegen derer er
krankgeschrieben gewesen sei, seien am 27. Januar 2003 vollständig abgeklungen
gewesen. Schließlich könne er sich nicht mit Erfolg auf die Einnahme von
Schmerzmitteln und Antidepressiva, die die Steuerungs- und Beurteilungsfähigkeit
beeinflussen könnten, berufen. Der Beweisantritt im Schriftsatz vom 13. Mai 2005 sei
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beeinflussen könnten, berufen. Der Beweisantritt im Schriftsatz vom 13. Mai 2005 sei
unzulässig, weil ein Zeugenbeweis gemäß § 373 ZPO durch namentliche Benennung des
Zeugen angetreten wird. Es sei aber auch nicht ersichtlich, jedenfalls nicht schlüssig
dargelegt, dass eine depressive Störung bzw. die Einnahme von Antidepressiva bewirken
könne, dass der Kläger sich an seine vorangegangene Krankschreibung nicht mehr
erinnere.
Die Leistungsfreiheit entspreche auch den Grundsätzen der sogenannten
Relevanzrechtsprechung. Falsche Angaben zu Vorerkrankungen seien in der
Unfallversicherung generell geeignet, die Interessen des Versicherers ernsthaft zu
gefährden, weil diese Angaben nicht nur für den Grad der unfallbedingten Invalidität,
sondern auch für die Frage bedeutsam seien, ob die Leistung des Versicherers ggf.
gemäß § 8 AUB 88 eingeschränkt sei. Ein Verschuldensgrad unterhalb des erheblichen
Verschuldens lasse sich nicht feststellen; die Rückenbeschwerden und die
Arbeitsunfähigkeit, die dem Unfall zeitlich unmittelbar vorausgegangen sei, hätten
ebenso auf der Hand gelegen, wie der Umstand, dass die Unfallfolgen den Rücken
betrafen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er sein Klagebegehren
weiter verfolgt. Er vertritt weiterhin die Auffassung, hinsichtlich der Beantwortung der
Frage 30 liege eine objektive Obliegenheitsverletzung nicht vor, denn als „betroffene
Körperteile“ habe er die Wirbelsäule verstanden. In diesem Zusammenhang sei
bedeutsam, dass eine Anzeigepflicht noch gar nicht bestanden habe, denn zum
Zeitpunkt seiner Erklärungen habe er keinesfalls gewußt, dass er Leistungen aus der
streitgegenständlichen Unfallversicherung in Anspruch nehmen könne. Jedenfalls sei ihm
kein vorsätzliches Handeln, sondern nur Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Vorsatz erfordere
Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, er sei sich aber über die Falschbeantwortung der
Fragen nicht im klaren gewesen.
Der Kläger hält die Nichtbeachtung des Zeugenbeweisantritts für verfahrensfehlerhaft,
denn sein Vortrag zur Einnahme von Antidepressiva sei nicht bestritten worden. Der
Name der die Medikamente verschreibenden Ärztin sei seiner Prozeßbevollmächtigten
seinerzeit nicht bekannt gewesen. Des weiteren trägt der Kläger nunmehr zu seiner
gesundheitlichen Situation vor, er habe permanent unter erheblichen Schmerzen
gelitten und zudem noch an Depressionen. Zuletzt seien ihm nach einem mehrwöchigen
Klinikaufenthalt im Jahre 2000 durch seine Hausärztin Dr. med. G. - die er nunmehr als
Zeugen benennt - Antidepressiva wie „Sepram“ und „Protazin“ verordnet worden.
Entgegen der Auffassung des Landgerichts habe er aber hinreichend zur bestehenden
depressiven Erkrankung vorgetragen.
Der Kläger beantragt,
in Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an ihn 50.000,00 €
nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem
1. Juni 2004 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt mit näheren Ausführungen das angefochtene Urteil.
II. Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
Das Landgericht hat die Klage zu Recht und aus in jeder Hinsicht zutreffenden
Erwägungen abgewiesen. Die Beklagte ist gemäß den §§ 6 Abs. 3 VVG, 10 Satz 1, 9 Abs.
2 AU B 88 von ihrer Leistungspflicht frei geworden, weil dem Kläger eine vorsätzliche
Obliegenheitsverletzung vorzuwerfen ist.
1. Gegen die objektive Obliegenheitsverletzung hinsichtlich der Beantwortung der Frage
Nr. 30 bringt der Kläger im zweiten Rechtszug keine Gesichtspunkte vor, die die in jeder
Hinsicht zutreffenden und überzeugenden Ausführungen des angefochtenen Urteils in
Frage stellen könnten. Die Frage 30 nach "Beschwerden an den betroffenen
Körperteilen" bezog sich - ohne dass hieran auch nur der leiseste Zweifel bestehen kann
- auf die betroffene Körperregion. Ergänzend zu den Ausführungen in dem
angefochtenen Urteil verweist der Senat insoweit auf die gewählte Formulierung der
Frage; es wurde eben nicht nach früheren ärztlichen Behandlungen gleicher
Verletzungen, wie die jetzt erlittenen gefragt. Zudem hätte - das Verständnis des
Klägers als möglich unterstellt - dann kein Grund bestanden, für den Fall der Bejahung
der Frage 30 die Mitteilung der ärztlichen Diagnose zu verlangen.
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Der Kläger, der unter dem 11. März 2003 eine "Unfallanzeige" an die beklagte
Versicherung richtete, kann nicht ernsthaft vertreten, zum Zeitpunkt der objektiv
falschen Angaben habe eine Anzeigepflicht wegen Fehlens der Kenntnis vom
Versicherungsfall noch gar nicht bestanden. Ohne rechtliche Bedeutung ist insoweit
auch, ob der Kläger - wie er ebenfalls vorträgt - nicht von einer dauerhaften Schädigung
ausgegangen ist; § 9 Abs. 1 AUB begründet die Verpflichtung, den Versicherer von dem
Unfall zu unterrichten, für sämtliche Leistungsarten - also auch dann, wenn der Unfall
lediglich einen Anspruch auf Tagegeld (§ 7 Abs. 3 AUB), Krankenhaustagegeld (§ 7 Abs.
4 AUB) oder Genesungsgeld (§ 7 Abs. 5 AUB) herbeiführen kann.
2. Die Einwendungen, die der Kläger gegen den Vorwurf vorsätzlichen Handelns erhebt,
greifen aus den nachfolgenden Erwägungen, die im Termin ausführlich erörtert wurden,
ebenfalls nicht durch.
a) Soweit der Kläger sich darauf beruft, ihm habe das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit
gefehlt, weil er sich nicht darüber im Klaren gewesen sei, dass die Fragen 29 und 30
falsch beantwortet zu haben, ist auf die ausführlichen und zutreffenden Erwägungen des
landgerichtlichen Urteils (S. 8 6.-letzte Zeile bis S. 9 Mitte der UA) zu verweisen.
b) Die Kammer ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass das Vorbringen des Klägers
im nachgelassenen Schriftsatz vom 13. Mai 2005 zu seiner schweren reaktiv-
depressiven Störung nicht genügt, um die Verschuldensvermutung zu entkräften -
schon deshalb geht die Rüge verfahrensfehlerhaft übergangenen Beweisantritts fehl. Es
fehlt jeglicher konkrete Tatsachenvortrag - neben der Art des Medikaments und der
eingenommenen Dosis -, in welchem Bewußtseins- und geistigen Zustand sich denn der
Kläger befunden hat, dass er außerstande war, derart einfache und eindeutige Fragen,
wie die vorliegenden, zu verstehen und richtig zu beantworten. Im Termin vor der
Kammer beschrieb er die Wirkung der Medikamente dahin, dass sie "einen in einen
euphorischen Zustand" versetzten; Euphorie führt jedoch nicht zu meßbaren
Einschränkungen der geistigen Fähigkeiten. Schließlich verweist die Beklagte zu Recht
darauf, dass der klägerische Vortrag widersprüchlich ist, denn einerseits will er durch
permanente erhebliche Schmerzen, Depressionen und Medikamenteneinfluß in seinen
geistigen Fähigkeiten eingeschränkt gewesen sein, andererseits aber bei der
Beantwortung der Frage 30 präzise zwischen der Wirbelsäule und einem erkrankten
Ischiasnerv unterschieden haben.
Selbst wenn das neue Vorbringen im Berufungsrechtszug, wonach dem Kläger "zuletzt
nach einem mehrwöchigen Klinikaufenthalt im Jahre 2000 (...) die Medikamente Sepram
und Protazin" (richtig: Prothazin) verschrieben worden seien, zulassungsfähig wäre - was
mangels Zulassungsgründen gemäß § 531 Abs. 2 ZPO nicht der Fall ist - genügte es
dennoch nicht, um eine Verminderung des Schuldvorwurfs zum maßgeblichen Zeitpunkt
begründen zu können. Da danach im maßgeblichen Zeitraum eine Vorstellung bei der
behandelnden Ärztin nicht erfolgt war, liegt nahe, dass es sich hierbei um diejenige
Medikation handelte, die der Kläger regelmäßig, d.h. in den nicht akuten Phasen der
Depression, einnehmen muß. Dass und welche konkreten Einschränkungen seiner
geistigen Leistungsfähigkeit der Kläger aufgrund der Einnahme dieser Medikamente
erfahren hat, ist (noch immer) nicht dargetan. Abschließend weist der Senat darauf hin,
dass eine Depression keine geistige Krankheit ist und die Medikamente gerade dazu
dienen, den Krankheitssymptomen - etwa "Denkschwäche" - entgegenzuwirken.
3. Entscheidungserhebliche Einwände gegen die Ausführungen der Kammer zur
Relevanz der falschen Angaben bringt der Kläger schließlich nicht vor. Seine Auffassung,
"wegen des ernsthaften Gefährdungspotentials (dürfe) auch nicht pauschaliert werden",
geht an den von der Rechtsprechung aufgestellten und vom Landgericht zutreffend
angewandten Grundsätzen zum Relevanzerfordernis des Obliegenheitsverstoßes vorbei.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche
Bedeutung hat (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO n.F.) und die Fortbildung des Rechts oder die
Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des
Bundesgerichtshofs nicht erfordert (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO n.F.).
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß den §§ 48, 49GKG n.F. auf
50.000,00 € festgesetzt.
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