Urteil des OLG Brandenburg vom 06.07.2006

OLG Brandenburg: besondere gefahr, fahrgast, aufmerksamkeit, verschulden, fahrzeug, gleis, lebenserfahrung, bahnhof, betriebsgefahr, enkel

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht
12. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
12 W 41/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 114 S 1 ZPO, § 127 Abs 2 S 2
ZPO, § 567 Abs 1 Nr 1 ZPO, § 1
Abs 1 HaftPflG, § 4 HaftPflG
Bahnhaftung: Schadensersatzanspruch wegen eines Sturzes
beim Aussteigen aus dem Zug
Tenor
Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss der 3. Zivilkammer -
Einzelrichter - des Landgerichts Cottbus vom 6. Juli 2006, Az.: 3 O 101/06, wird
zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die am … 1925 geborene Antragstellerin stürzte als Fahrgast des Zuges RE … von B.
nach C. beim Aussteigen aus dem Zug am Gleis 2 des Bahnhofes C. und zog sich dabei
einen Beckenbruch und einen Oberschenkelhalsbruch zu. Mit der beabsichtigten Klage,
für die sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt, nimmt sie die
Antragsgegnerin auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch. Sie ist der
Meinung, die Antragsgegnerin habe ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt, indem der
Abstand zwischen der Trittbrettoberkante des Zuges und der Bahnsteigfläche
mindestens 50 cm betragen habe. Derartige Höhenunterschiede seien zum einen nicht
üblich und zum anderen gerade für ältere Menschen nicht gefahrlos zu überwinden.
Das Landgericht hat mit Beschluss vom 06.07.2006 den Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe zurückgewiesen, weil die beabsichtigte Prozessführung keine
hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. Die Antragsgegnerin habe die ihr obliegende
Verkehrssicherungspflicht nicht verletzt, da ein Fahrgast aufgrund der allgemeinen
Lebenserfahrung davon ausgehen müsse, dass sich beim Aussteigen zwischen dem
Fahrzeug und dem Bahnsteig ein Zwischenraum befinde und dabei ein gewisser
Höhenunterschied zu überwinden sei. Der behauptete Höhenunterschied von 50 cm
stelle keinen verkehrswidrigen Zustand dar, da damit die objektive Grenze, mit der eine
Höhendifferenz nicht mehr hinzunehmen sei, noch nicht überschritten sei. Wegen der
weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Entscheidungsgründe des angefochtenen
Beschlusses Bezug genommen.
Gegen den ihr zu Händen ihres Verfahrensbevollmächtigten am 10.07.2006 zugestellten
Beschluss wendet sich die Klägerin mit ihrer am 18.07.2006 beim Landgericht
eingegangenen sofortigen Beschwerde, mit der sie ihre Auffassung wiederholt und
vertieft, dass eine Höhendifferenz von 50 cm nicht zumutbar sei und auf eine derartige
Gefahrenquelle zumindest durch Warnhinweise hätte hingewiesen werden müssen.
Das Landgericht hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 09.08.2006 nicht
abgeholfen und die Sache dem Brandenburgischen Oberlandesgericht zur Entscheidung
vorgelegt.
II.
Die gem. §§ 127 Abs. 2 S. 2, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zulässige sofortige Beschwerde der
Antragstellerin hat keinen Erfolg. Das Landgericht hat zu Recht die Bewilligung von
Prozesskostenhilfe versagt, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung der Antragstellerin
keine Aussicht auf Erfolg bietet (§ 114 S. 1 ZPO). Der Antragstellerin stehen gegen die
Antragsgegnerin die geltend gemachten Ansprüche weder aus §§ 1 Abs. 1, 6 HaftpflG
noch aus § 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB zu. Zur Begründung wird auf die zutreffenden
Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen. Das Vorbringen der
Antragstellerin in der Beschwerdebegründung rechtfertigt keine andere Beurteilung.
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Eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht seitens der Antragsgegnerin ist nicht
gegeben. Vielmehr ergibt sich aus dem eigenen Vorbringen der Antragstellerin in ihrem
Klageentwurf selbst, dass der Sturz auf die Unachtsamkeit der Antragstellerin
zurückzuführen ist, indem sie - wie es in dem Entwurf der Klageschrift heißt - sich des
Abstandes zwischen dem Trittbrett des Zuges und der Bahnsteigkante nicht
vergegenwärtigte und es damit an der gebotenen Aufmerksamkeit hat fehlen lassen.
Das Landgericht hat bereits mit zutreffender Begründung darauf hingewiesen, dass ein
Fahrgast, der in ein Schienenfahrzeug ein- und aussteigt, bereits aufgrund der
allgemeinen Lebenserfahrung davon ausgehen muss, dass sich zwischen dem Fahrzeug
und dem Bahnsteig notwendigerweise ein Zwischenraum befindet und dass beim Ein-
und Aussteigen in das Fahrzeug nicht nur dieser Zwischenraum, sondern oft auch ein
gewisser Höhenunterschied zu überwinden ist, so dass das Ein- und Aussteigen in ein
Schienenfahrzeug eine gesteigerte Aufmerksamkeit des Fahrgastes erfordert, auf die
der Betreiber des Schienenfahrzeuges bzw. der Bahnanlage vertrauen darf. Für die
Antragstellerin war bei Einhaltung dieser gesteigerten Aufmerksamkeit die bestehende
Höhendifferenz erkennbar, so dass der Umstand, dass sie zu Fall gekommen ist,
letztlich nur dadurch erklärt werden kann, dass sie entweder es an der gesteigerten
Aufmerksamkeit hat fehlen lassen oder die Antragstellerin bei dem Aussteigen den
Höhenunterschied erkannt hat, jedoch beim Aussteigen mit ihrem Gepäckstück das
Gleichgewicht verloren hat. In diesem Fall hätte jedoch auch ein vorheriger Warnhinweis
durch die Antragsgegnerin den Sturz nicht verhindern können. Soweit die Antragstellerin
mit der Beschwerdebegründung sich darauf beruft, sie habe sich auf die Differenz von 50
cm zwischen dem Schienenfahrzeug und der Bahnsteigkante nicht habe einstellen
müssen, weil diese Differenz nicht mehr dem üblichen Standard entspreche und bei
früheren Fahrten eine solche Differenz nicht aufgetreten sei, vermag dieser Einwand der
sofortigen Beschwerde ebenfalls nicht zum Erfolg zu verhelfen. Denn der Umstand, dass
nach dem Vorbringen der Antragstellerin eine derartige Höhendifferenz im Bahnhof C.
bei vorangegangenen Fahrten nicht aufgetreten ist, kann nur dadurch erklärt werden,
dass den vorangegangenen Fahrten entweder ein anderes Schienenfahrzeug in
Benutzung war oder der Zug an einem anderen Gleis gehalten hat. Der Fahrgast kann
jedoch weder darauf vertrauen, dass ständig bauartgleiche Schienenfahrzeuge auf der
von ihm befahrenen Strecke eingesetzt werden, noch dass das Schienenfahrzeug bei
der Ankunft im Bahnhof immer auf demselben Gleis hält, da es schon aus
verkehrstechnischen Gründen häufig zu Gleisänderungen kommen kann. Die
Antragstellerin konnte daher nicht darauf vertrauen, dass die Ein- und Aussteigesituation
ständig unverändert bleiben würde.
Es mag zutreffend sein, dass ein Höhenunterschied der behaupteten Größe für ältere
oder behinderte Reisende eine besondere Gefahr darstellt. Nach Auffassung des Senats
handelt es sich jedoch dabei nicht um ein Hindernis, das auch für ältere Reisende nicht
ohne weiteres zu überwinden ist. Denn es steht ihnen frei, sich für den Fall, die
Höhendifferenz nicht aus eigener Kraft überwinden zu können oder wenn sie sich dies
nicht zutrauen, sich fremder Hilfe, etwa in Person des Zugpersonals, zu bedienen. Im
vorliegenden Fall wäre dies der Antragstellerin ohne weiteres möglich gewesen, da sie
nach ihrem eigenen Vorbringen von ihrem Enkel, dem als Zeugen angebotenen A. M.,
begleitet wurde, den sie daher um Hilfe beim Aussteigen, insbesondere hinsichtlich des
zu tragenden Gepäcks, hätte bitten können.
Aus den vorstehenden Gründen scheitert auch ein Anspruch der Antragstellerin aus §§ 1
Abs. 1, 6 HaftpflG aus. Eine Haftung der Antragsgegnerin aus der Betriebsgefahr tritt
hinter dem im Rahmen der Abwägung nach §§ 4 HaftpflG, 254 BGB zu
berücksichtigenden erheblichen Verschulden der Antragstellerin zurück. Für ein
Verschulden der Antragstellerin spricht bereits der Anschein (vgl. LG Düsseldorf, VersR
1979, 166; OLG Düsseldorf, Urteil vom 20.11.2002, I-15 U 79/02, zitiert nach Juris).
Gründe, nach denen im vorliegenden Fall ein Verschulden ausgeschlossen ist, hat die
Antragstellerin nicht substanziiert dargetan. Es ist weder vorgetragen, dass zum
Zeitpunkt des Aussteigens aus dem Zug ein hohes Fahrgastaufkommen oder ein
besonderes Gedränge beim Aussteigen geherrscht hat, die es der Antragstellerin
unmöglich gemacht hätten, auf den Abstand zur Bahnsteigkante zu achten. Auch
sonstige Gründe, die der Antragstellerin das Aussteigen unzumutbar erschwert hätten,
sind nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich.
III.
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Die Pflicht der Antragstellerin zur Tragung
der Gerichtsgebühren ergibt sich aus Nr. 1811 des KV (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG),
ohne dass es einer Aufnahme in den Beschlusstenor bedarf. Außergerichtliche Kosten
des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 127 Abs. 4 ZPO).
10 Die Rechtsbeschwerde war nicht zuzulassen. Im Prozesskostenhilfeverfahren ist die
Zulassung der Rechtsbeschwerde beschränkt auf Verfahrensfragen oder Fragen, die die
persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse der Partei betreffen (vgl. BGH NJW 2003,
1126); derartige Gründe sind hier nicht gegeben.
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