Urteil des OLG Brandenburg vom 14.03.2017

OLG Brandenburg: gerichtsstand des erfüllungsorts, anspruch auf rechtliches gehör, gerichtsstand des erfüllungsortes, örtliche zuständigkeit, anschrift, bindungswirkung, willkür, verfügung

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 1.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 AR 16/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Tenor
Die Sache wird gemäß § 36 Abs. 3 ZPO dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung
vorgelegt.
Gründe
I.
Die Klägerin verlangt von dem Beklagten in der Hauptsache die Vergütung von
Mobilfunkleistungen in Höhe von 411,31 €, die dieser unter der Anschrift „G…-Straße 42
b, F…“ in Auftrag gab.
Die Klägerin hat über diese Forderung beim Amtsgericht Hagen einen Mahnbescheid
beantragt, der dem Beklagten unter der Anschrift „Z…-Ring 28, F…“ zugestellt worden
ist. Hiergegen hat der Beklagte Widerspruch erhoben und als seine Anschrift „F… Str.
58, B…“ mitgeteilt. Das Amtsgericht Hagen hat das Verfahren an das in dem
Mahnantrag als Prozessgericht bezeichnete Amtsgericht Fürstenwalde abgegeben. Mit
ihrem Schriftsatz vom 13. Oktober 2010 hat die Klägerin den Anspruch begründet und
als Anlage das Auftragsformular zu den Akten gereicht. Nachdem die
Anspruchbegründung unter der Anschrift „Z…-Ring 28, F…“ nicht zugestellt werden
konnte, hat die Klägerin als neue Anschrift des Beklagten „M…-Straße 93, B…“
mitgeteilt, unter der die Anspruchsbegründung am 30. November 2010 zugestellt
worden ist.
Mit Verfügung vom 22. Dezember 2010 hat das Amtsgericht Fürstenwalde die
Klägerseite um Mitteilung gebeten, ob Verweisung an das Amtsgericht Berlin-Neukölln
beantragt werde, weil der Beklagte nach seinen Angaben bereits zum Zeitpunkt der
Widerspruchserhebung im Januar 2010 in B… wohnhaft gewesen sei. Gleichzeitig hat es
dem Beklagten Gelegenheit zur Stellungnahme zum zu erwartenden Verweisungsantrag
eingeräumt. Unter Bezugnahme auf diesen Hinweis hat die Klägerin mit ihrem
Schriftsatz vom 7. Januar 2011 die Verweisung an das Amtsgericht Berlin-Neukölln
beantragt. Mit Beschluss vom 13. Januar 2011 hat sich das Amtsgericht Fürstenwalde für
örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit gemäß § 281 ZPO an das nach §§ 12, 13
ZPO für den Wohnsitz des Beklagten zuständige Amtsgericht Berlin-Neukölln verwiesen.
Das Amtsgericht Neukölln hat die Parteien mit Verfügung vom 31. Januar 2011 darauf
hingewiesen, dass der Beklagte seinen Wohnsitz bei Vertragsschluss in F… gehabt habe,
weswegen das Amtsgericht Fürstenwalde nach „§§ 261 Abs. 3 Nr. 1, 29 ZPO“ örtlich
zuständig und der Verweisungsbeschluss nach § 281 ZPO nicht bindend sei. Die Klägerin
hat daraufhin die Rückverweisung an das Amtsgericht Fürstenwalde beantragt. Mit
Beschluss vom 22. Februar 2011 hat sich das Amtsgericht Neukölln für unzuständig
erklärt und die Sache dem Brandenburgischen Oberlandesgericht zur
Zuständigkeitsbestimmung vorgelegt.
II.
1. Der Zuständigkeitsstreit wäre gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 ZPO durch das
Brandenburgische Oberlandesgericht zu entscheiden, weil das den am
Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichten zunächst höhere gemeinschaftliche Gericht der
Bundesgerichtshof ist und das zum Bezirk des Brandenburgischen Oberlandesgerichts
gehörende Amtsgericht Fürstenwalde zuerst mit der Sache befasst gewesen ist.
2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO
liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Fürstenwalde als auch das Amtsgericht Neukölln
haben sich im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftig für unzuständig erklärt,
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haben sich im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftig für unzuständig erklärt,
ersteres durch nach § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbaren Verweisungsbeschluss
vom 13. Januar 2011 und letzteres durch den seine Zuständigkeit abschließend
verneinenden Beschluss vom 22. Februar 2011, der als solcher den Anforderungen
genügt, die an das Merkmal „rechtskräftig“ im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu
stellen sind, weil es insoweit allein darauf ankommt, dass eine den Parteien bekannt
gemachte beiderseitige Kompetenzleugnung vorliegt (statt vieler Senat NJW 2004, 780;
Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 36 Rdnr. 24 f.).
3. Der Senat geht davon aus, dass das Amtsgericht Neukölln als zuständiges Gericht zu
bestimmen wäre.
Dessen Zuständigkeit folgt aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des
Amtsgerichts Fürstenwalde vom 13. Januar 2011 (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO).
Aufgrund der klaren gesetzlichen Regelung des § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO kann die
Bindungswirkung nur ausnahmsweise infolge der Verletzung höherrangigen
(Verfassungs-) Rechts, namentlich bei der ungenügenden Gewährung rechtlichen
Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) oder bei objektiv willkürlicher Entziehung des gesetzlichen
Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfallen. Im Interesse einer baldigen Klärung der
Gerichtszuständigkeit und der Vermeidung von wechselseitigen (Rück-)Verweisungen ist
die Willkürschwelle hoch anzusetzen. Einfache Rechtsfehler wie das Übersehen einer
zuständigkeitsbegründenden Rechtsnorm rechtfertigen die Annahme einer objektiv
willkürlichen Verweisung demzufolge grundsätzlich nicht (BGH, Beschl. v. 15.10.1996 - XII
ARZ 15/96, zitiert nach juris, Rdnr. 6; Beschl. v. 08.04.1992 - XII ARZ 8/92, zitiert nach
juris, Rdnr. 3; Senat, Beschl. v. 10.12.2003 - 1 AR 84/03, zitiert nach juris, Rdnr. 8). Hinzu
kommen muss dafür vielmehr, dass die Verweisung offenbar gesetzwidrig oder sonst
grob rechtsfehlerhaft ist, also gleichsam jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt (statt
vieler Senat JMBl. 2007, 65, 66; NJW 2006, 3444, 3445; MDR 2006, 1184; NJW 2004, 780;
eingehend ferner Tombrink NJW 2003, 2364, 2364 f.; jeweils mit weiteren
Rechtsprechungsnachweisen).
Bei Herabsenkung der Willkürschwelle auf einfache Rechtsfehler würde § 281 Abs. 2 Satz
4 ZPO hingegen weitgehend leerlaufen, da sich sein Anwendungsbereich regelmäßig auf
rechtsfehlerfreie Verweisungen beschränken würde. Deshalb bedarf die Annahme von
Willkür zusätzlicher Umstände, die die getroffene Entscheidung als schlechterdings nicht
mehr nachvollziehbar erscheinen lassen (BGH, Beschl. v. 18.02.2010 - Xa ARZ 14/10,
zitiert nach juris, Rdnr. 16).
Den derart zu konkretisierenden (verfassungsrechtlichen) Einschränkungen der
Bindungswirkung hält der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Fürstenwalde stand:
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist beachtet worden.
Der Verweisungsbeschluss entbehrte auch nicht der gesetzlichen Grundlage, da sich der
allgemeine Gerichtsstand des Beklagten seit seinem Umzug zunächst in die F…straße
und schließlich in die M…-Straße im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Neukölln
befindet (§§ 12, 13 ZPO).
Nach der im Auftragsformular genannten Anschrift des Beklagten liegt der besondere
Gerichtsstand des Erfüllungsorts nach § 29 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 269 Abs. 1, § 270 Abs.
4 BGB zwar beim Amtsgericht Fürstenwalde, der einer Verweisung wegen der jedenfalls
mit Eintritt der Rechtshängigkeit (vgl. Zöller/Vollkommer, a. a. O., § 35 Rdnr. 2 mit
Rechtsprechungsnachweisen) bindenden Ausübung des Wahlrechts gemäß § 35 ZPO
entgegengestanden hätte. Im Verkennen des besonderen Gerichtsstands des
gesetzlichen Erfüllungsorts durch das Amtsgericht Fürstenwalde liegt nach den
Umständen des Falles jedoch keine Willkür. So führt selbst der Umstand, dass ein
Gericht seine eigene ausschließliche örtliche Zuständigkeit nach § 29 a Abs. 1 ZPO
übersieht, für sich allein noch nicht zur Annahme objektiver Willkür (siehe dazu BGH NJW
1962, 1918; OLG Düsseldorf Rpfl. 1976, 186; OLG Frankfurt/M. Rpfl. 1979, 389, 390 =
OLGZ 1979, 451, 452; Zöller/Vollkommer, a. a. O., § 29 a Rdnr. 15). Für den (bloßen)
Wahlgerichtsstand nach § 29 ZPO kann folglich nichts anderes gelten (so schon
BayObLG, Beschl. v. 16.04.1999 - 1Z AR 26/99, zitiert nach juris, Rdnr. 12).
Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass das Amtsgericht Fürstenwalde seine
Zuständigkeit als Gericht des Erfüllungsortes erkannt und die Unwiderruflichkeit des
Wahlrechts verkannt hat. So hat sich keine der Parteien - ausdrücklich oder
stillschweigend - auf den besonderen Gerichtsstand des Erfüllungsortes berufen. Zum
Zeitpunkt der Beantragung des Mahnbescheids konnte die Klägerin aufgrund der ihr
bekannten Anschrift vielmehr davon ausgehen, dass der Beklagte in F… wohnt und sich
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bekannten Anschrift vielmehr davon ausgehen, dass der Beklagte in F… wohnt und sich
dort demzufolge auch sein allgemeiner Gerichtsstand befindet. Auch auf den Hinweis
des Amtsgerichts Fürstenwalde, dass der Beklagte offensichtlich bereits zum Zeitpunkt
der Widerspruchserhebung in B… wohnhaft gewesen sei, hat sich die Klägerin nicht etwa
auf den besonderen Gerichtsstand des Erfüllungsorts berufen, sondern Verweisung an
das für den Wohnsitz des Beklagten zuständige Gericht beantragt.
4. An der Bestimmung des Amtsgerichts Neukölln als zuständiges Gericht sieht sich der
Senat jedoch durch Entscheidungen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (Beschl.
v. 17.08.2001 - 21 AR 65/01), des Oberlandesgerichts Braunschweig (Beschl. v.
20.02.2006 - 1 W 98/05), des Oberlandesgerichts München (Beschl. v. 09.07.2007 - 31
AR 146/07) und des Kammergerichts (Beschl. v. 17.09.2007 - 2 AR 37/07) gehindert, da
diese in den zitierten Entscheidungen einem Verweisungsbeschluss an das Gericht des
Wohnsitzes des jeweiligen Beklagten schon dann die Bindungswirkung wegen Willkür
abgesprochen haben, wenn das verweisende Gericht den bei ihm begründeten
besonderen Gerichtsstand des Erfüllungsorts gemäß § 29 Abs. 1 ZPO übersehen hat.
Die Rechtsfrage ist entscheidungserheblich, da nach dieser Rechtsprechung der
Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Fürstenwalde vom 13. Januar 2011 keine
Bindungswirkung entfalten würde und das Amtsgericht Fürstenwalde gemäß § 29 Abs. 1,
§ 35 ZPO als zuständiges Gericht zu bestimmen wäre.
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