Urteil des OLG Brandenburg vom 03.05.2007

OLG Brandenburg: wohl des kindes, eltern, sorgerecht, gemeinsame elterliche sorge, persönlichkeit, getrennt leben, gesetzliche vermutung, kindeswohl, trennung, anfang

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 3.
Senat für
Familiensachen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
15 UF 71/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 1671 BGB
Elterliche Sorge: Fehlende Kommunikations- und
Kooperationsfähigkeit der Eltern; Sorgerechtsübertragung bei
fehlender Bindungstoleranz
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der am 03. Mai 2007 verkündete Beschluss
des Amtsgerichts - Familiengerichts - Königs Wusterhausen - 30 F 260/06 - abgeändert
und wie folgt neu gefasst:
Unter Aufhebung des gemeinsamen Sorgerechts der Eltern wird das Sorgerecht
für das Kind R. D., geb. am … 1997, auf den Vater übertragen.
Der Antrag der Mutter, ihr das Sorgerecht zu übertragen, wird zurückgewiesen.
Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; Auslagen werden nicht erhoben.
Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Die beteiligten Eltern, die von 1994 bis April 2007 miteinander verheiratet waren, streiten
um das Sorgerecht für ihre am ... 1997 geborene gemeinsame Tochter R..
Nach der Trennung - Anfang Dezember 2004 - bewohnte die Mutter mit R. zunächst das
Erdgeschoss und der Vater das Obergeschoss des im Alleineigentum des Vaters
stehenden Familieneigenheims in E.. Der Vater hielt sich ab Januar 2005 häufig auch bei
seiner neuen Lebensgefährtin in B. auf. Anfang November 2006 zog die Mutter
zusammen mit R. aus dem Haus aus und wohnt jetzt in B., allerdings weniger als 2 km
von dem früheren Wohnort entfernt; R. besucht nach wie vor dieselbe Schule wie vor
dem Umzug. Der Vater hat das Haus zunächst allein weiterbewohnt; seit Anfang 2007
lebt seine Lebensgefährtin mit ihren beiden Kindern bei ihm.
Seit der Geburt der gemeinsamen Tochter rivalisierten die Eltern um die Gunst des
Kindes. So gab es bereits vor der Trennung sog. "Papa-Abende" und "Mama-Abende".
Gemeinsame Aktivitäten waren selten. Auch nach der Trennung gab es zunächst
weiterhin zwei "Papa-Abende" wöchentlich, an denen R. auch beim Vater übernachte.
Außerdem brachte er seine Tochter morgens zur Schule. Die Wochenenden sollten im
14-tägigen Rhythmus aufgeteilt werden. Eine schriftliche Festlegung der
Umgangsregelungen kam allerdings nicht zustande. Ab Februar 2005 kam es wegen des
Umgangs mit R. vermehrt zu Streitigkeiten zwischen den Eltern bis hin zur Verweigerung
des Umgangs durch die Mutter, woraufhin der Vater im April 2005 ein
Umgangsrechtsverfahren einleitete - 30 F 73/05 Amtsgericht Königs Wusterhausen -. Er
warf der Mutter vor, ihn bei dem Kind schlecht zu machen und den Kontakt absichtlich zu
verhindern. Die Mutter schilderte den Vater als jähzornig und - ihr gegenüber -
gewalttätig; er ängstige sowohl sie als auch die Tochter. Das Kind sei selbstbewusster,
seit es keinen Kontakt zum Vater mehr habe.
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung trafen die Eltern im Juni 2005 zunächst eine
Zwischenvereinbarung zum Umgang. Bereits am ersten Umgangswochenende nach
dem Termin kam es zu Schwierigkeiten bei der Übergabe des Kindes, die in einer
tätlichen Auseinandersetzung endete, an der auch R.s Großvater (mütterlicherseits)
beteiligt war. Auch in der nachfolgenden Zeit gab es immer wieder Probleme bei der
Umsetzung des Umgangs, die auch durch eine im Jahre 2006 zeitweise eingesetzte
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Umsetzung des Umgangs, die auch durch eine im Jahre 2006 zeitweise eingesetzte
Umgangsbegleitung nicht beseitigt werden konnten.
Das Amtsgericht hat zu der Frage, ob und in welchem Umfang der Umgang mit dem
Vater dem Kindeswohl diene, ein Sachverständigengutachten eingeholt. Der mit der
Erstellung des Gutachtens beauftragte Sachverständige, Dipl.-Psych. B., gelangte in
seinem Gutachten vom 19.01.2006 zu dem Ergebnis, dass der von R. geäußerte Wille,
nicht mehr zum Vater gehen zu wollen, als selbstgefährdend einzustufen sei, da für
einen Kontaktabbruch in der Person des Vaters keine hinreichenden Gründe vorlägen.
Der lediglich mit geringer Intensität vorgetragene Wunsch spiegele die negative Haltung
der Mutter zum Vater wieder, die R. übernommen habe; er ziele auf eine Reduzierung
des durch den Loyalitätskonflikt ausgelösten Stresses. Obwohl auch bei der
Durchführung eines regelmäßigen Umgangs gegen den Willen des Kindes kurzfristig
negative Auswirkungen auf seine Persönlichkeitsentwicklung zu befürchten seien, sei
dies gegenüber den möglichen negativen Auswirkungen bei einem Umgangsabbruch die
am wenigsten kindeswohlschädliche Alternative. Der Sachverständige empfahl einen
regelmäßigen Umgang alle 14 Tage von Freitagnachmittag bis Montagmorgen und
wöchentlich am Donnerstagnachmittag bis Freitagmorgen sowie eine übliche Regelung
für die Ferien und an den Feiertagen. Die Mutter solle darüber hinaus angehalten
werden, familienunterstützende Maßnahmen oder eine Therapie in Anspruch zu
nehmen. Bei fortgesetzter Umgangsverhinderung solle der Mutter das
Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen und auf den Vater übertragen werden.
Das Amtsgericht traf darauf hin mit Beschluss vom 31.03.2006 eine detaillierte
Umgangsregelung, die sich in etwa an den Vorschlägen des Sachverständigen
orientierte, zum Teil sogar darüber hinaus ging (u. a. 14-tägiger Umgang von
Donnerstagnachmittag bis Montagmorgen).
Gegen diesen Beschluss legte die Mutter befristete Beschwerde ein - 15 UF 66/06
Brandenburgisches Oberlandesgericht -, mit der sie insbesondere rügte, dass das
Amtsgericht sich das "fehlerhafte Gutachten" völlig unkritisch zu Eigen gemacht habe.
Insbesondere habe es den autonomen Willen des Kindes nicht beachtet. Sie verwies auf
Stellungnahmen des sie behandelnden Psychotherapeuten Dr. Ra., der auch
Einzelgespräche mit R. geführt habe, und meinte, dass die Ablehnung des Vaters auf
eigenen, negativen Erfahrungen des Kindes mit ihm beruhe. Einen Antrag auf
einstweilige Aussetzung der Umgangsregelung begründete sie damit, dass R. offenbar
nicht nur eine Abneigung gegen den Vater hege, sondern auch eine nicht unbegründete
Angst vor ihm habe. Sie schilderte mehrere Gewaltausbrüche des Vaters in dem
Zeitraum von 1998 bis Mai 2006; der letzte Vorfall (Eintreten der verschlossenen Tür zu
einem von R. genutzten Dachzimmer) habe bei dem Kind zu einem "seelischen Kollaps"
geführt, als es die Bruchstücke des zersplitterten Rahmens im Zimmer gefunden habe.
Der Vater beschrieb hingegen, dass sich die anfänglich ablehnende Haltung seiner
Tochter ihm gegenüber immer sehr schnell gebe und während der Umgänge sodann ein
guter und herzlicher Kontakt bestehe.
In der mündlichen Verhandlung vom 12.06.2006 vor dem Senat nahm die Mutter das
Rechtsmittel auf Anraten des Senats zurück.
Schon damals hat der Senat auf Grund des Eindrucks, den er im Rahmen der Anhörung
von R. gewonnen hatte, das Amtsgericht gebeten, zu prüfen, ob ein Verfahren gemäß §
1666 BGB wegen Kindeswohlgefährdung einzuleiten sei. Bevor das Amtsgericht diese
Anregung aufgreifen konnte, hatte allerdings der Vater bereits das vorliegende
Sorgerechtsverfahren eingeleitet, mit dem er die Übertragung des alleinigen
Sorgerechts auf sich erstrebt.
In der mündlichen Verhandlung vom 25.09.2006 trafen die Eltern eine bis zum
31.01.2007 befristete Zwischenvereinbarung dahin, dass R. ihren Aufenthalt jeweils
wöchentlich wechselte. Nach der Darstellung des Vaters verbrachte er mit seiner Tochter
in den Herbstferien von Ende September bis Mitte Oktober eine schöne Zeit. Nachdem
sie die nächste Woche bei der Mutter verbracht hatte und er sie sodann am 23.10.2006
vom Klavierunterricht abholte, hatte sich ihr Verhalten merklich verändert; sie weinte
und wollte nicht mit und konnte erst nach längerem gutem Zureden beruhigt werden. Ab
Mitte der Woche entspannte sich das Verhältnis wieder. Zu Beginn der nächsten
Umgangswoche am 6.11.2006 zeigte sich R. bei der Abholung durch den Vater noch
renitenter; sie nahm eine Protesthaltung wie bei einem Sitzstreik ein, sträubte sich und
musste vom Vater zum Auto getragen werden. Diese Aktion wurde von dem Großvater
mütterlicherseits beobachtet. Die Mutter erstattete Strafanzeige wegen
Kindesmisshandlung, woraufhin gegen Abend zwei Kriminalbeamte beim Vater
erschienen, um R. in Augenschein zu nehmen. Die Umgangswoche beim Vater wurde
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erschienen, um R. in Augenschein zu nehmen. Die Umgangswoche beim Vater wurde
bereits am Dienstag beendet. Seitdem fand trotz des (rechtskräftigen) Beschlusses zum
Umgangsrecht vom 31.03.2006 kein Umgang mehr statt; auch dass das Amtsgericht
durch Beschluss vom 30.11.2006 zeitweise das Jugendamt als Ergänzungspfleger für die
Bereiche Aufenthaltsbestimmungsrecht und Umgang einsetzte, vermochte daran nichts
zu ändern.
Das Amtsgericht hat zu der Frage, welche Regelung zur elterlichen Sorge dem
Kindeswohl am besten entspreche, ein Sachverständigengutachten eingeholt. Der mit
der Erstellung des Gutachtens beauftragte Sachverständige Dr. W. gelangt in seinem
Gutachten vom 26.02.2007 zu den folgenden Ergebnissen:
- Die Mutter sei lediglich eingeschränkt erziehungsfähig. Es fehle an der
notwendigen Bindungstoleranz. Sie sei nicht in der Lage anzuerkennen, dass eine
Bindung oder Beziehung zwischen Vater und Tochter bestehe. Die Depotenzierung des
Vaters gehe so weit, dass überlegt werde, ob er tatsächlich R.s Vater sei. Sie sei nicht in
der Lage einen Zusammenhang zwischen der ablehnenden Haltung des Kindes und ihrer
eigenen Abwehr zu erkennen. Insofern könne sie nicht zwischen sich und R.
unterscheiden und akzeptiere damit letztlich nicht, dass R. eine eigene Persönlichkeit
sei. Auf Grund ihrer neurotischen Struktur sei sie nicht in der Lage, auf spezielle
Situationen flexibel zu reagieren und neue Informationen in ihre Einschätzung zu
integrieren.
- Der Vater weise zwar dominante Züge auf; diese seien jedoch nicht
pathologisch. Ihm sei es gelungen, die Voraussetzungen für eine Bindungstoleranz zu
erreichen, nämlich die frühere Beziehung mit der Kindesmutter in die eigene
Persönlichkeit zu integrieren und eine Bindung der Mutter zu R. zu erkennen und diese
als erhaltenswert einzuschätzen. Er habe eine ausreichende mentale Repräsentanz von
R. und akzeptiere deren eigene Persönlichkeit. Seine Fähigkeit zur Ausübung der
elterlichen Sorge sei daher insgesamt nur "im üblichen Ausmaß" der Normalbevölkerung
eingeschränkt.
- Auch bei R. hat der Sachverständige hinsichtlich der Persönlichkeit deutliche
Auffälligkeiten im Grenzbereich zu einer Störung festgestellt. Es zeige sich eine Struktur,
in der Gefühle verdrängt werden, eine zu hohe Selbstbeherrschung vorliege und eine
Flucht in die Interaktion mit Dritten stattfinde. R. verhalte sich in der Interaktion mit dem
Vater adäquater, nämlich lebendiger und eigene Interessen durchsetzend, als in der
Interaktion mit der Mutter. Eine Bindung zum Vater sei vorhanden. Ihr Wille, bei der
Mutter zu leben, sei zwar stabil, jedoch weder autonom noch zielorientiert oder intensiv.
Insgesamt zeigten sich Verhaltensmerkmale manipulierter Kinder, nämlich eine fast
völlige Verneinung und Ausblendung positiver Erfahrungen mit dem ungeliebten
Elternteil, das Fehlen einer normalen Ambivalenz, die reflexartige Parteinahme und die
Abwesenheit von Schuldgefühlen.
- Das Kindeswohl sei gefährdet, und zwar insofern, als dem Kind eine eigene
Akzeptanz und eine eigene Ausgestaltung der Persönlichkeit nicht gelinge. Die Ursache
liege darin, dass das Kind sich nicht selbst akzeptieren könne, weil es den Kindesvater
ablehnen müsse und die Mutter eine Identität von sich mit R. verlange. Das schließe
nicht aus, dass auch der Vater sich in einzelnen Situationen fehlerhaft verhalten habe
bzw. auf Grund seiner Persönlichkeit und seiner Auffälligkeiten seine Tochter in konkreten
Situationen enttäusche, belaste, frustriere oder ähnliches. Dies seien jedoch
Situationen, die jedes Kind in unterschiedlichen Formen erlebe und die üblicherweise von
einem Kind bewältigt werden könne.
- Eine Maßnahme zur Abwendung dieser Gefährdung bestehe darin, dass die
Mutter sich verändere, also ihre Identität mit R. aufgebe. Da eine Bereitschaft hierzu
nicht zu erkennen sei, bleibe nur die Möglichkeit, dass R. beim Vater lebe und mit der
Mutter einen "üblichen" Umgang habe. Der Umgang sei allerdings anfangs begleitet
durchzuführen, da nicht auszuschließen sei, dass die Mutter selbst- oder
fremdgefährdendes Verhalten zeige. Die Entscheidung gegen den Willen des Kindes
stelle zwar akut eine Belastung dar. Diese sei allerdings überschaubar, im Gegensatz zu
der permanenten Belastung, die der Verlust eines Elternteils darstelle. In der mündlichen
Verhandlung hat der Sachverständige betont, dass "gegenwärtig das Fenster zum Vater
noch offen sei".
Die Mutter, die mit dem Gutachten nicht einverstanden ist, hat gerügt, dass der
Sachverständige einzelne Äußerungen falsch und ihre Persönlichkeit verzerrt dargestellt,
die Persönlichkeit des Vaters hingegen zu unkritisch gesehen habe. Seine Hypothesen
seien zum Teil aus der Luft gegriffen und beruhten auf einer tendenziell persönlich
ablehnenden Haltung gegenüber der Mutter. Er habe sich insbesondere über den Willen
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ablehnenden Haltung gegenüber der Mutter. Er habe sich insbesondere über den Willen
des Kindes und das Kontinuitätsprinzip hinweggesetzt.
Auch das Jugendamt und die Verfahrenspflegerin haben sich explizit dagegen
ausgesprochen, etwas gegen R. Willen zu unternehmen, allerdings auch darauf
hingewiesen, dass R. sich nach wie vor in einem ständigen Loyalitätskonflikt zwischen
den Eltern befinde und deshalb eine seelische Kindeswohlgefährdung drohe.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht haben beide Eltern beantragt,
ihnen jeweils die elterliche Sorge allein zu übertragen. Das Amtsgericht hat das
Sorgerecht durch den angefochtenen Beschluss der Mutter allein übertragen, da dies
dem Wohl des Kindes am besten entspreche. R. lebe seit der Trennung im Haushalt der
Mutter und habe durchgängig und stabil ihren Willen dahingehend geäußert, dass dies so
bleiben solle. Dieser Wille sei zwar nicht autonom, sondern beruhe auf einer Manipulation
durch die Mutter; dennoch sei er beachtlich. Es schade dem Wohl des Kindes, sich über
dessen Willen hinwegzusetzen.
Hiergegen richtet sich die befristete Beschwerde des Vaters, mit der er seinen Antrag,
das alleinige Sorgerechts auf ihn zu übertragen, weiterverfolgt. Er meint, gestützt auf
das Sachverständigengutachten, dass die Entscheidung des Amtsgerichts der
Kindeswohlgefährdung nicht entgegenwirke, sondern zu einer Verstärkung der
Gefährdung führe.
Die Mutter hält den Beschluss jedenfalls im Ergebnis für richtig. Sie ist der Auffassung,
dass R. allein wegen dessen eigenen Verhaltens keinen Umgang mehr mit dem Vater
haben wolle. Seit kein Umgang mehr stattfinde, gehe es dem Kind sehr viel besser; es
sei glücklich, leistungsstark und selbstbewusst.
Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung vom 30.08.2007 sämtliche Beteiligten,
das Kind R. sowie die beiden in den bisherigen Umgangs- und Sorgerechtsverfahren tätig
gewesenen Sachverständigen Dr. W. und B. angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf
die Sitzungsniederschrift verwiesen.
II.
Die gemäß § 621 e Abs. 1 ZPO statthafte und auch im übrigen zulässige befristete
Beschwerde des Antragstellers gegen die Entscheidung des Amtsgerichts, das
Sorgerecht für das gemeinsame Kind R. der beteiligten Eltern auf die Mutter zu
übertragen, ist begründet; sie führt zur Übertragung des Sorgerechts auf den Vater und
zur Zurückweisung des gegenläufigen Antrags der Mutter.
1.
Konfliktpotentials zwischen den Eltern insbesondere und gerade auch in den Belangen
des gemeinsamen Kindes bei dem bislang bestehenden gemeinsamen Sorgerecht nicht
bleiben kann.
Leben die ganz oder in Teilbereichen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern, wie hier,
nicht nur vorübergehend getrennt, ist gemäß § 1671 Abs. 2 Ziff. 2 BGB auf Antrag - auch
ohne die Zustimmung des anderen Elternteils - einem Elternteil die elterliche Sorge
allein zu übertragen, wenn dies dem Kindeswohl am besten entspricht. Diese Regelung
bedeutet nicht, dass dem Fortbestand der gemeinsamen Sorge ein Vorrang vor der
Alleinsorge eines Elternteils eingeräumt wird. Ebenso wenig besteht eine gesetzliche
Vermutung dafür, dass die gemeinsame elterliche Sorge im Zweifel die beste Form der
Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung ist. Einer solchen Regelung stünde bereits
entgegen, dass sich elterliche Gemeinsamkeit in der Realität nicht verordnen lässt
(grundlegend BGH, NJW 2000, 203, 204; ebenso BVerfG, NJW-RR 2004, 577).
Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge ist deshalb
grundsätzlich - und auch der Senat hat dies wiederholt ausgesprochen - eine auch nach
der Trennung fortbestehende Fähigkeit und Bereitschaft der Eltern zur Kooperation in
den das gemeinsame Kind betreffenden Belangen, setzt also insoweit eine tragfähige
soziale Beziehung auf der Elternebene zwischen ihnen voraus (BVerfG, a.a.O.).
Daran fehlt es vorliegend. Eine solche Beziehung besteht zwischen den Eltern nicht; sie
sind vielmehr aus Gründen, die an dieser Stelle nicht zu erörtern sind, offensichtlich nicht
mehr in der Lage, in Belangen, die das gemeinsame Kind betreffen, sinnvoll miteinander
zu kommunizieren und zu kooperieren. Beispielhaft sei auf die allein in diesem Verfahren
wechselseitig erhobenen Vorwürfe, etwa im Zusammenhang mit den Ereignissen beim
letzten Umgangskontakt im November 2006, verwiesen; sie legen beredtes Zeugnis für
das beträchtliche Konfliktpotential zwischen den Eltern ab. Dementsprechend wird die
Aufrechterhaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge in diesem Verfahren auch von
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Aufrechterhaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge in diesem Verfahren auch von
keinem der Beteiligten befürwortet.
2.
Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts ist es allerdings auch nicht auf die Mutter zu
übertragen. Vielmehr ist der Senat auf Grund des Gutachtens des Sachverständigen Dr.
W. vom 26.02.2007 - das zu nahezu identischen Ergebnissen gelangt wie das in dem
vorausgegangenen Umgangsrechtsverfahren eingeholte Gutachten des
Sachverständigen B. -, aber auch auf Grund des Gesamteindrucks, den er während des
Verfahrens von den Eltern und dem Kind gewonnen hat, davon überzeugt, dass es dem
Kindeswohl am besten entspricht, das Sorgerecht auf den Vater zu übertragen.
Die Einwände, die die Mutter gegen das Gutachten vorgebracht hat, sind überwiegend
formaler Natur und für den Senat nicht von entscheidender Bedeutung. Es ist zwar
richtig, dass es (formale) Standards für die "Wissenschaftlichkeit" von Gutachten in
Sorge- und Umgangsrechtssachen gibt, die sich etwa auf den Umgang mit der
einschlägigen Literatur oder auf den Einsatz bestimmter Testverfahren beziehen und die
das vorgelegte Gutachten vielleicht nicht in vollem Umfang erfüllt. Auf der anderen Seite
aber gibt es, insbesondere was den Einsatz von Testverfahren betrifft, eine "Bandbreite",
innerhalb derer die konkrete Ausgestaltung der Begutachtung in das Ermessen des
Sachverständigen gestellt ist, zumal sich die angewandte Psychologie ständig
fortentwickelt. Dieses Ermessen kann umso freier sein, je größer auf Grund der
Ausbildung und der Berufserfahrung des Sachverständigen seine (nachgewiesene)
Sachkunde ist. Die Sachkunde von Herrn Dr. W. ist dem Senat aus zahlreichen anderen
Verfahren, in denen er als Sachverständiger mitgewirkt hat, hinreichend bekannt und
über die geäußerten Zweifel erhaben.
Viel entscheidender sind die von dem Sachverständigen dokumentierten
Verhaltensbeobachtungen und die Validität der daraus gezogenen Schlussfolgerungen,
die der Senat im Einzelnen nachvollzogen hat und die er sich in ihrem wesentlichen Kern
unbedenklich zu Eigen machen kann. Der Senat ist davon überzeugt, dass die
Übertragung des Sorgerechts auf den Vater R. Wohl am besten entspricht. Sie ist
notwendig, um eine weitere langfristige Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden. Die
Mutter ist - jedenfalls derzeit - nur eingeschränkt erziehungsfähig. Es gelingt ihr nicht, R.
in hinreichendem Maß bei dem Aufbau einer eigenständigen Persönlichkeit zu
unterstützen. Außerdem fehlt ihr die erforderliche Bindungstoleranz, nämlich die
Bereitschaft und die Fähigkeit, den Kontakt des Kindes zum anderen Elternteil zu
unterstützen und zu fördern. Hierdurch ist R.s Wohl gefährdet. Die Kindeswohlgefährdung
besteht darin, dass das Mädchen sich nicht selbst akzeptieren kann, weil es den Vater
ablehnen muss. Es zeigen sich in ihrer Persönlichkeit bereits deutliche Auffälligkeiten.
Maßgebliche Ursache hierfür ist die fehlende Bindungstoleranz der Mutter, die bereits
der Sachverständige B. in seinem Gutachten im Umgangsrechtsverfahren festgestellt
hat. Sie kann oder will nicht einsehen, dass R.s Ablehnung des Vaters auf ihrer eigenen
Abwehrhaltung beruht und nicht auf einem Verhalten des Vaters. Sie vermag nicht zu
erkennen, dass die Tochter ihre starken negativen, zum Teil hasserfüllten Gefühle
gegenüber dem Vater aufnimmt, selbst wenn sie diese ihr gegenüber nicht offen
ausspricht. Daran ändert es nichts, dass sie verbal versuchen mag, das Kind zum
Umgang mit dem Vater zu motivieren. Die nonverbalen Botschaften, die den größeren
Anteil der Kommunikation ausmachen, signalisieren R., dass ihre Mutter "glücklicher" ist,
wenn sie den Vater ablehnt. Dass sie - die Mutter - es ist, die das Kind damit in einen
Loyalitätskonflikt treibt, und dies dem Kind "Bauchschmerzen" verursacht, vermag sie
ebenfalls nicht erkennen.
Soweit die Mutter darzulegen versucht, dass R.s Ängste auf eigenen Erfahrungen mit
Gewaltausbrüchen des Vaters beruhen, sind die meisten der von ihr geschilderten
Vorfälle schon deshalb unbeachtlich, weil das Kind entweder nicht dabei war oder sich auf
Grund seines Alters daran unmöglich erinnern kann. Die verbleibenden Vorfälle sind
weder ihrer Art noch ihrer Anzahl nach geeignet, eine so tiefgreifende Angst vor dem
Vater zu begründen, dass sie ihn nicht mehr sehen will. Dies gilt umso mehr, als R.
Dritten gegenüber nie davon gesprochen hat, vor ihrem Vater Angst zu haben. Weder
die Sachverständigen noch die Mitarbeiter des Jugendamtes oder die Anfang 2006 tätige
Umgangsbegleiterin noch der Senat konnten feststellen, dass R. Angst hatte, wenn sie
erst einmal mit dem Vater zusammen war. Ein ängstliches Verhalten war lediglich
anlässlich der Übergabesituationen im Beisein der Mutter zu beobachten. Dieser
Umstand stützt aber eher die Annahme der Sachverständigen, dass R. lediglich die
Angstgefühle der Mutter übernimmt.
Soweit die Therapeuten, die die Mutter konsultiert hat, deren Auffassung teilen, vermag
dies die Wertungen der Sachverständigen schon deshalb nicht zu erschüttern, weil sie
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dies die Wertungen der Sachverständigen schon deshalb nicht zu erschüttern, weil sie
lediglich einseitig informiert worden sind und keiner von ihnen R. zusammen mit dem
Vater erlebt hat.
Durchgreifende Bedenken, dem Vater das Sorgerecht zu übertragen, sind nicht
ersichtlich. Er ist nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen
jedenfalls in einem "normalen" Umfang geeignet, R. zu fördern und zu erziehen;
insbesondere - und das ist entscheidend - ist er, anders als umgekehrt die Mutter, in der
Lage, ihre Bindung zur Mutter zu erkennen und diese als erhaltenswert einzuschätzen.
Der von R. geäußerte Wille, auch künftig bei der Mutter leben zu wollen, steht der
Entscheidung nicht entgegen. Ihr Wille ist zwar stabil, jedoch weder autonom noch
zielorientiert und nach Einschätzung der Sachverständigen nicht intensiv. Schon aus
diesem Grund ist fraglich, ob er beachtlich ist. Jedenfalls aber ist er aus den dargelegten
Gründen als selbstgefährdend einzustufen.
Der Senat ist sich dessen bewusst, dass die Entscheidung, dem Vater das Sorgerecht zu
übertragen, mit einem Umzug von R. heraus aus ihrer gewohnten Umgebung in den
Haushalt des Vaters verbunden ist und damit naturgemäß zu Belastungen führt. Die
Kontinuität ihrer bisherigen Entwicklung erleidet also einen "Bruch". Allerdings kommt sie
nicht in eine völlig neue, fremde Umgebung, sondern kehrt zurück in das Haus, in dem
sie den größten Teil ihres bisherigen Lebens verbracht hat. Auch ein Schulwechsel ist mit
dem Umzug nicht verbunden, da die Wohnungen der Eltern nur ca. 1,6 km auseinander
liegen. In Ansehung der Chancen, die sich durch den Wechsel für R. ergeben,
insbesondere der Möglichkeit, langfristig beide Elternteile zu behalten, kann und muss
dieser "Bruch" hingenommen werden.
III.
Eine Regelung zum Umgangsrecht hat der Senat nicht getroffen und auch nicht treffen
können, weil dies nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist. Der Senat hat die,
wenn auch geringe Hoffnung, dass es den Eltern auch ohne eine erneute
Inanspruchnahme der Gerichte gelingen kann, einvernehmliche und dem Kindeswohl
entsprechende Umgangsregelungen zu finden. In der Sache dürfte es geboten sein, in
den ersten Wochen nach dem Wechsel zum Vater keinen Umgang mit der Mutter
stattfinden zu lassen und den Umgang sodann, zunächst begleitet, allmählich
aufzubauen, um dem Kind das Sich-Einleben in den Haushalt des Vaters und die
Bewältigung des Loyalitätskonfliktes zu erleichtern. Hier wird die Hilfe des Jugendamtes
gefordert sein.
Veranlassung, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, wie es die Mutter nach Schluss der
mündlichen Verhandlung in ihrem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 04.09.2007
angeregt hat, besteht nicht. Der Senat hat keine Rechtsfrage von grundsätzlicher
Bedeutung entschieden, sondern die Vorschrift des § 1671 Abs. 2 Ziff. 2 BGB, nach der,
wenn gemeinsam sorgeberechtigte Eltern getrennt leben, auf Antrag das gemeinsame
Sorgerecht aufgehoben und auf den Antragsteller übertragen werden kann, wenn dies
dem Kindeswohl am besten entspricht, auf einen Einzelfall angewendet. Insbesondere ist
dem von der Mutter im Beschwerdeverfahren wiederholt insinuierten Eindruck
entgegenzutreten, dem Grundgesetz lasse sich bei Sorgerechtsentscheidungen gemäß
§ 1671 Abs. 2 Ziff. 2 BGB ein grundsätzlicher Vorrang der Mutter vor dem Vater
entnehmen. Soweit der Verfahrensbevollmächtigte der Mutter in seinem Schriftsatz vom
28.08.2007, dort Seite 2, zum Beleg für diese Auffassung Passagen aus der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29.01.2003 - 1 BvL 20/99 - (=
FamRZ 2003, 287 ff) zitiert, verkennt er, dass sich diese Entscheidung nicht über die
Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 1671 Abs. 2 Ziff. 2 BGB, sondern über die Frage
der Verfassungsmäßigkeit von § 1626 a Abs. 2 BGB verhält. Sie betrifft also nicht
Sorgerechtsentscheidungen im Verhältnis zwischen ursprünglich miteinander
verheirateten und deshalb ursprünglich gemeinsam sorgeberechtigten Eltern, sondern
die Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass das Gesetz das Sorgerecht für
ein nichtehelich geborenes Kind grundsätzlich der Mutter zuweist. Das wird deutlich,
wenn man das aus dem Zusammenhang gerissene Zitat vervollständigt und
insbesondere den (bewusst?) weggelassenen und nur durch "…" angedeuteten
Obersatz, so wie ihn das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, wieder einfügt; dieser
Obersatz lautet: "Angesichts der Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse, in die
nichteheliche Kinder hineingeboren werden, ist es gerechtfertigt, das Kind bei seiner
Geburt sorgerechtlich grundsätzlich der Mutter und nicht dem Vater oder beiden
Elternteilen zuzuordnen." Mit der vorliegend gegebenen Situation, die dadurch
gekennzeichnet ist, dass R. in eine bestehende Ehe hineingeboren worden ist und ihre
Eltern das Sorgerecht jahrelang gemeinsam ausgeübt haben, hat diese Entscheidung
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Eltern das Sorgerecht jahrelang gemeinsam ausgeübt haben, hat diese Entscheidung
nichts zu tun.
Für den Antrag schließlich, die Vollziehung dieses Beschlusses "bis zur Entscheidung
über ein außerordentliches, fristgerecht eingelegtes Rechtsmittel" auszusetzen, fehlt es
an einer Rechtsgrundlage. Der Beschluss ist mit einem ordentlichen Rechtsmittel nicht
angreifbar.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 13 a Abs. 1 Satz 1 FGG, § 131 Abs. 1 Satz 2, Abs.
5 KostO.
Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens: 3.000,00 €
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