Urteil des OLG Brandenburg vom 13.03.2017

OLG Brandenburg: sachliche zuständigkeit, anspruch auf rechtliches gehör, eingriff, bindungswirkung, willkür, polizei, durchsuchung, klagegrund, papier, sammlung

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 1.
Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 AR 69/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 71 Abs 2 GVG, Art 34 GG, § 70
PolG BB, § 13 GVG, § 23 Nr 1
GVG
Sachliche Zuständigkeit der Gerichte bei Ansprüchen aus einer
Wohnungsdurchsuchung sowie Rechtmäßigkeit eines
Verweisungsbeschlusses
Tenor
Zuständig ist das Landgericht Potsdam.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt vom beklagten Land die Zahlung von 1.703,08 € nebst
Rechtsverfolgungskosten und Zinsen für die Reparatur der Eingangstür ihres
Wohnungseigentums, die von der Polizei bei Durchführung einer gerichtlich
angeordneten, gegen den Sohn ihrer Mieterin gerichteten Durchsuchung aufgebrochen
wurde. Das Amtsgericht Brandenburg a. d. H. hat sich auf Hilfsantrag der Klägerin - die
die Klage beim Amtsgericht erhoben hat, weil sie von der Rechtmäßigkeit der
Durchsuchung ausgeht - und nach Anhörung des beklagten Landes mit Beschluss vom
28. August 2006 für sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit unter
Bezugnahme auf § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG i. V. m. Art. 34 GG, §§ 38-42 BbgOBG, § 70
BbgPolG an das Landgericht Potsdam verwiesen. Das Landgericht Potsdam hat den
Rechtsstreit mit Beschluss vom 28. November 2006 dem Brandenburgischen
Oberlandesgericht zur Bestimmung des sachlich zuständigen Gerichts vorgelegt, weil die
vom Amtsgericht Brandenburg a. d. H. zur Begründung der Zuständigkeit des
Landgerichts angeführte Rechtsprechung lediglich die Zulässigkeit des ordentlichen
Rechtswegs nach § 13 GVG belege, sodass es bei der sachlichen Zuständigkeit des
Amtsgerichts nach § 23 Nr. 1 GVG verbleibe.
II.
1. Der Zuständigkeitsstreit zwischen dem Amtsgericht Brandenburg a. d. H. und dem
Landgericht Potsdam ist durch das Brandenburgische Oberlandesgericht zu
entscheiden, weil es das beiden Gerichten zunächst höhere Gericht ist (§ 36 Abs. 1 Nr. 6
ZPO).
2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO
liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Brandenburg a. d. H. als auch das Landgericht
Potsdam haben sich im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftig für unzuständig
erklärt, ersteres durch nach § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbaren
Verweisungsbeschluss vom 28. August 2006 und letzteres durch die seine Zuständigkeit
abschließend verneinende Entscheidung vom 28. November 2006, die als solche den
Anforderungen genügt, die an das Merkmal „rechtskräftig“ im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr.
6 ZPO zu stellen sind, weil es insoweit allein darauf ankommt, dass eine den Parteien
bekannt gemachte ausdrückliche beiderseitige Kompetenzleugnung vorliegt (vgl. BGHZ
Bd. 102, S. 338, 340; Bd. 104, S. 363, 366; BGH NJW 2002, S. 3634, 3635; Senat, OLG-
NL 2005, S. 16, 17; NJW 2004, S. 780; OLG-NL 2001, S. 70 und S. 214;
Zöller/Vollkommer, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 36 Rdnr. 24 f.; Baumbach/Hartmann, ZPO, 64.
Aufl. 2006, § 281 Rdnr. 48; Thomas/Putzo, ZPO, 27. Aufl. 2005, § 36 Rdnr. 23).
3. Zuständig ist das Landgericht Potsdam.
Seine Zuständigkeit folgt aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des
Amtsgerichts Brandenburg a. d. H. vom 28. August 2006 (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO).
a) Die Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entfällt nur ausnahmsweise,
namentlich bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
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namentlich bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
oder bei objektiver Willkür, die etwa auch dann gegeben sein kann, wenn die Verweisung
offenbar gesetzeswidrig oder sonst grob rechtsfehlerhaft erfolgt ist (s. BGHZ Bd. 71, S.
69, 72; Bd. 102, S. 338, 341; BGH NJW 1993, S. 1273; NJW 2002, S. 3634, 3635;
BayObLG, NJW-RR 2000, S. 589; Senat, a.a.O.; Zöller/Greger, a.a.O., § 281 Rdnr. 17, 17 a
m.w.Nw.; Baumbach/Hartmann, a.a.O., § 281 Rdnr. 39 ff. m.w.Nw.;
Thomas/Putzo/Reichold, a.a.O., § 281 Rdnr. 12).
Im Interesse an einer baldigen Klärung der Gerichtszuständigkeit und der Vermeidung
von wechselseitigen (Rück-)Verweisungen zwischen Gerichten sind an die Annahme einer
objektiven Willkür im Allgemeinen strenge Anforderungen zu stellen. Der Gesetzgeber
hat sich für die grundsätzliche Bindungswirkung und Unanfechtbarkeit von - auch:
fehlerhaften - Verweisungsbeschlüssen entschieden (§ 281 Abs. 2 Satz 2 und 4 ZPO).
Deshalb kann objektive „Willkür“ nur unter bestimmten - engen - Voraussetzungen
bejaht werden, und zwar dann, wenn die verfassungsrechtliche Garantie des
gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) eine Durchbrechung der
Bindungswirkung erfordert (s. Senat, NJW 2004, S. 780). Einfache Rechtsfehler genügen
daher für die Annahme der Willkür nicht (BGH NJW-RR 1992, S. 902, 903; NJW 1993, S.
1273 und S. 2810; NJW-RR 1994, S. 126; NJW 2003, S. 3201; BayObLGZ 1991, S. 387,
389; BayObLG, NJW-RR 2000, S. 589; NJW-RR 2001, S. 646, 647; Senat, ebd.;
Zöller/Greger, a.a.O., § 281 Rdnr. 17; Zöller/Vollkommer, a.a.O., § 36 Rdnr. 28;
Musielak/Foerste, ZPO, 4. Aufl. 2005, § 281 Rdnr. 17). Dies gilt erst recht für im Ergebnis
- noch - vertretbare Entscheidungen. Die Abweichung von einer (bisher) „herrschenden
Meinung“ oder einer „(fast) einhelligen Ansicht“ rechtfertigt für sich allein die Annahme
von objektiver Willkür nicht; entscheidend ist, ob die Verweisung im Ergebnis noch
„vertretbar“ ist (vgl. etwa BGH MDR 2002, S. 1450, 1451; NJW-RR 2002, S. 1498 f.; NJW
2003, S. 3201 f.; BayObLG NJW 2003, S. 1196, 1197; Senat, ebd.; Baumbach/Hartmann,
a.a.O., § 281 Rdnr. 39 m.w.Nw.; vgl. auch OLG Hamburg, MDR 2002, S. 1210 f.;
Zöller/Greger, a.a.O., § 281 Rdnr. 17; Musielak/Foerste, a.a.O., § 281 Rdnr. 17;
Thomas/Putzo/Reichold, a.a.O., § 281 Rdnr. 12).
b) Den derart zu konkretisierenden (verfassungsrechtlichen) Einschränkungen der
Bindungswirkung hält der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Brandenburg a. d. H.
im Ergebnis stand.
aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist beachtet worden.
bb) Die Verweisung ist auch nicht offenbar gesetzwidrig oder sonst grob rechtsfehlerhaft
erfolgt. Zwar enthalten weder der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Brandenburg
a. d. H. vom 28. August 2006 noch die ihn vorbereitenden gerichtlichen Hinweise eine
nachvollziehbare Begründung für die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts. Dessen
sachliche Zuständigkeit lässt sich aber anderweit vertretbar begründen, sodass es bei
der allein maßgeblichen objektiven Betrachtung im Ergebnis an einer „willkürlichen“
Verweisung fehlt.
(1) Die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts Potsdam kommt zunächst nach § 8
Abs. 1 Nr. 1 BbgGerNeuOG in Betracht. Ein dahingehender Vorbehalt zu Gunsten der
Landesgesetzgebung ergibt sich aus § 71 Abs. 3 GVG. Nach diesen Vorschriften sind die
Landgerichte ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstands ausschließlich
zuständig für Ansprüche gegen den Staat oder eine Körperschaft des öffentlichen Rechts
wegen Verfügungen der Verwaltungsbehörden. Hierunter fallen namentlich
Entschädigungsansprüche aus Polizei- und Ordnungsrecht als spezialgesetzliche
Ausprägung der allgemeinen Aufopferungsentschädigung, auf die sich die Klägerin in der
Klagebegründung ausdrücklich beruft.
(2) Darüber hinaus lässt sich die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts Potsdam
vertretbar auch auf § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG stützen.
Nach der neueren Rechtsprechung des BGH bilden Entschädigungsansprüche aus
Amtshaftung, aus Polizei- und Ordnungsrecht und aus enteignungsgleichem Eingriff
einen einheitlichen Streitgegenstand (BGH, NJW 1996, S. 3151, 3152; BGHR GG vor Art.
1/enteignungsgleicher Eingriff/Bausperre 6); gleiches muss für Ansprüche aus
enteignendem Eingriff gelten, der sich vom enteignungsgleichen Eingriff nur dadurch
unterscheidet, dass dem Betroffenen ein Sonderopfer als Nebenfolge rechtmäßigen
hoheitlichen Verhaltens auferlegt wird (statt vieler Münch-Komm/Papier, BGB, 4. Aufl.
2004, § 839 Rdnr. 36, mit Rechtsprechungsnachweisen). Die Einheitlichkeit des
Streitgegenstands kann in diesen Fällen nicht davon abhängen, ob die klagende Partei
selbst die Voraussetzungen eines Amtshaftungsanspruchs für gegeben ansieht oder
nicht. Denn Streitgegenstand meint nicht den materiell-rechtlichen Anspruch, sondern
das prozessuale Rechtsschutzbegehren, das durch Klageantrag und Klagegrund
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das prozessuale Rechtsschutzbegehren, das durch Klageantrag und Klagegrund
bestimmt wird - also durch alle Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der
Parteien ausgehenden Betrachtungsweise zu dem durch den Klagevortrag zur
Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören, den die klagende Partei zur
Stützung ihres Rechtsschutzbegehrens dem Gericht unterbreitet (BGH, a.a.O.). Damit
erlaubt der zur Begründung des Staatshaftungsbegehrens unterbreitete
Tatsachenkomplex typischerweise auch eine - wenigstens gedankliche - Mitprüfung der
Voraussetzungen des § 839 BGB (Baldus/Böhr, NWVBl. 1996, 95 f.).
Im Streitfall wird neben einem Anspruch aus analoger Anwendung des Polizei- und
Ordnungsrechts insbesondere eine Schadensersatzverpflichtung aus
enteignungsgleichem oder enteignendem Eingriff zu prüfen sein. Ansprüche aus
enteignungsgleichem Eingriff werden, wie der BGH (BGHR GG vor Art.
1/enteignungsgleicher Eingriff/Beschlagnahme 1) bereits entschieden hat, durch das
StrEG (hier: § 2 Abs. 2 Nr. 4) nicht verdrängt, weil sich dieses Gesetz nur auf den
Beschuldigten, Angeschuldigten, Angeklagten oder in ähnlicher Weise von einer
Strafverfolgungsmaßnahme Betroffenen bezieht; letzteres steht auch einer
Verdrängung von Ansprüchen aus enteignendem Eingriff durch das StrEG entgegen. Die
hiernach gebotene Prüfung dieser Anspruchsgrundlagen ermöglicht zugleich eine -
zumindest gedankliche - Prüfung der Voraussetzungen des § 839 BGB.
Gestützt auf den Rechtsgedanken des § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG, wonach das Gericht des
zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen
Gesichtspunkten entscheidet, hat sich auch bei der Frage des zuständigen Gerichts
zunehmend die Auffassung durchgesetzt, dass jedenfalls bei einem einheitlichen
Sachverhalt über die konkurrierenden materiell-rechtlichen Ansprüche mitentschieden
werden darf, die bei isolierter Betrachtung nicht in die Zuständigkeit des angerufenen
Gerichts fallen (siehe nur Zöller/Vollkommer, a.a.O). Danach zieht die einem
Staatshaftungsbegehren - im Regelfall und so auch hier (s. o.) - implizite sachliche
Zuständigkeit des Landgerichts für den Amtshaftungsanspruch die Zuständigkeit für
konkurrierende materiell-rechtliche Anspruchsgrundlagen nach sich (Musielak/Wittschier,
a.a.O., § 71 GVG Rdnr. 7 Fn. 11; im Ergebnis ebenso - analoge Anwendung von § 71 Abs.
2 Nr. 2 GVG - Baldus/Böhr, a.a.O., S. 96).
4. Sonach verbleibt es bei der Zuständigkeit des angewiesenen Landgerichts Potsdam.
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