Urteil des OLG Brandenburg vom 13.03.2017

OLG Brandenburg: bewährung, leichte fahrlässigkeit, auflage, aussetzung, gefährdung, verzicht, bevölkerung, tötung, sperrfrist, körperverletzung

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 1.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 Ss 85/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 56 Abs 2 StGB, § 56 Abs 3
StGB
Strafaussetzung zur Bewährung: Notwendigkeit der
Verteidigung der Rechtsordnung im Zusammenhang mit
fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung auf
Grund eines Verkehrsverstoßes
Leitsatz
Das Versagen der Strafaussetzung zur Bewährung wegen der Notwendigkeit der Verteidigung
der Rechtsordnung gemäß § 56 Abs. 3 StPO kommt bei Vorliegen besonderer Umstände i.S.v
§ 56 Abs. 2 StPO - hier erfolgte Teilverbüßung, lange Verfahrensdauer, leichte Fahrlässigkeit-
in der Regel nicht in Betracht.
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 4. kleinen Strafkammer des
Landgerichts Neuruppin vom 30. Mai 2008 dahingehend abgeändert, dass die
Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe für die Dauer von zwei Jahren zur
Bewährung ausgesetzt wird.
2. Die Kosten des Verfahrens 1. Instanz und die dem Angeklagten und den
Nebenklägern in diesem erwachsenen notwendigen Auslagen trägt der Angeklagte.
Die Kosten der Berufungsverfahren und der Revisionsverfahren sowie die dem
Angeklagten in diesen erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse
vollständig zur Last. Die Nebenkläger haben die ihnen hierin entstandenen notwendigen
Auslagen selbst zu tragen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Oranienburg verurteilte den Angeklagten am 17. November 2003
wegen am 21. Juli 2002 begangener fahrlässiger Tötung in sechs Fällen in Tateinheit mit
fahrlässiger Körperverletzung in fünf Fällen unter Entzug der Fahrerlaubnis, Einziehung
des Führerscheins und Verhängung einer Sperrfrist für die Fahrerlaubnisneuerteilung von
einem Jahr und acht Monaten zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren
Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Auf die hiergegen gerichteten Berufungen
der Staatsanwaltschaft sowie der Nebenkläger zu 1. und 2. änderte die 3. kleine
Strafkammer des Landgerichts Neuruppin die erstinstanzliche Entscheidung durch das
angefochtene Urteil vom 11. Februar 2005 dahingehend ab, dass die Strafaussetzung
zur Bewährung in Wegfall geriet und die Sperrfrist für die Führerscheinneuerteilung auf
zwei Jahre heraufgesetzt wurde.
Die gegen den Rechtsfolgenausspruch gerichtete Revision des Angeklagten verwarf der
Senat mit Beschluss vom 25. Juli 2005 auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft des
Landes Brandenburg gemäß § 349 Abs. 2 StPO und führte dazu aus, zwar seien die
Feststellungen des angefochtenen Urteils zur inneren Tatseite nicht frei von
Rechtsfehlern, trügen vor allem nicht den vom Landgericht gezogenen Schluss bewusst
fahrlässigen Verhaltens des Angeklagten, dem lediglich „einfache“ Fahrlässigkeit
vorzuwerfen sei; insoweit bedürfe es aber weder einer Aufhebung der angefochtenen
Entscheidung im Schuldspruch (weil es sich um keine abweichende Schuldform handele),
noch im Rechtsfolgenausspruch, weil die vom Tatgericht verhängte Strafe angemessen
sei (§ 354 Abs. 1a S. 1 StPO).
Nach Aufhebung des Senatsbeschlusses durch das Bundesverfassungsgerichts am 14.
Juni 2007 hob der Senat am 30. Oktober 2007 das Urteil des Landgerichts Neuruppin
vom 11. Februar 2005 unter Verwerfung der Revision im Übrigen als offensichtlich
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vom 11. Februar 2005 unter Verwerfung der Revision im Übrigen als offensichtlich
unbegründet im Rechtsfolgenausspruch mit den dazugehörigen Feststellungen auf und
verwies die Sache zurück an das Landgericht.
Die 4. kleine Strafkammer des Landgerichts Neuruppin änderte mit Urteil vom 30. Mai
2008 das amtsgerichtliche Urteil unter Verzicht auf eine Entziehung der Fahrerlaubnis
erneut dahin ab, dass die Aussetzung der Vollstreckung der erkannten Freiheitsstrafe
zur Bewährung in Wegfall komme.
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner zunächst auf den
Versagung der Strafaussetzung zur
Bewährung beschränkten Revision
rügt. Von der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe hat der Angeklagte zwischenzeitlich
vom 13. Januar 2006 bis zum 12. Januar 2007 die Hälfte verbüßt.
II.
Die gemäß § 333 StPO statthafte, gemäß § 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht
auf die Versagung der Strafaussetzung zur
Bewährung wirksam beschränkte Revision
Sie führt zur Aufhebung des Urteils, soweit die Strafaussetzung zur Bewährung versagt
worden ist und insoweit zur Strafaussetzung der verhängten Freiheitsstrafe von zwei
Jahren zur Bewährung.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat in ihrer Stellungnahme
hierzu wie folgt ausgeführt:
„Soweit, ebenso wie die Strafzumessung die Strafaussetzung zur Bewährung im
Grundsatz eine dem Ermessen des Tatrichters überantwortete Entscheidung ist, die
revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar ist, ob Rechtsbegriffe verkannt oder
Ermessensfehler vorgekommen sind, wobei in Zweifelsfällen die Wertung des Tatgerichts
bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen ist (vgl. BGH NStZ 1984, 410), gilt dies
ebenso, wenn trotz günstiger Sozialprognose die Strafaussetzung zur Bewährung im
Hinblick auf § 56 III StGB versagt wird. Auch im Falle einer auf § 56 III StGB gestützten
Versagung der Strafaussetzung ist die Überprüfung der tatrichterlichen Entscheidung in
der Revisionsinstanz - ebenso wie bei § 56 I und § 56 II StGB - auf Rechtsfehler
eingeschränkt. Liegt ein Rechtsfehler nicht vor, so muss das Revisionsgericht die
tatrichterliche Beurteilung bis an die Grenze des Vertretbaren hinnehmen und ist daran
gehindert, seine eigene Würdigung an die Stelle derjenigen des Tatrichters zu setzen
(vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht - Urteil vom 15.05.1997 - 2 Ss 17/97; LK-
Hubrach, Anm. 61 zu § 56 StGB, 12. Auflage, 2008).
Unter diesen Voraussetzungen liegt ein revisionsrechtlich relevanter Rechtsfehler
vor, wenn das Urteil Erörterungslücken bzw. Subsumtionsmängel aufweist oder wenn der
Tatrichter den Rechtsbegriff der Verteidigung der Rechtsordnung verkannt hat (vgl. LK-
Hubrach, Anm. 62 zu § 56 StGB, 12. Auflage, 2008).
Mit der Aufnahme des Rechtsbegriffs „Verteidigung der Rechtsordnung“ wollte der
Gesetzgeber eine Richtlinie dafür geben, unter welchen besonderen Umständen eine
kriminalpolitisch unerwünschte kurze Freiheitsstrafe dennoch anstelle einer
Freiheitsstrafe verhängt - § 47 I StGB - oder eine erwünschte Aussetzung einer mittleren
Freiheitsstrafe trotz günstiger Sozialprognose abgelehnt werden soll - § 56 III StGB - (vgl.
BGHSt 24, 40ff., 41).
Ausgehend von der gesetzgeberischen Intention, in der Regel auf die Verhängung
kurzer und die Vollstreckung mittlerer Freiheitsstrafen zu verzichten, dient der Begriff der
„Verteidigung der Rechtsordnung“ insoweit der Abgrenzung der Ausnahmefälle, in
denen ein solcher Verzicht nicht möglich ist; die Auslegung des Begriffs der
„Verteidigung der Rechtsordnung“ in § 47 I StGB und § 56 III StGB knüpft daher an die
kriminalpolitischen Erwägungen an, auf denen diese in § 47 I StGB und § 56 III StGB
getroffenen Regelungen beruhen (vgl. BGHSt 24, 40ff., 42).
Ausgehend davon, dass der Rechtsgüterschutz im Bereich der kleineren und
mittleren Kriminalität im Regelfall eine Strafvollstreckung einer Freiheitsstrafe nicht
erfordert (BGHSt 24, 40ff., 45), ist in diesem Bereich in den Fällen, wo Gründe der
Spezialprävention einer Versagung der Strafaussetzung nicht entgegenstehen und
daher eine Vollstreckung nur unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung der
Rechtsordnung in Betracht kommt, maßgeblich, ob bei einem Absehen von der
Vollstreckung eine ernstliche Gefährdung der Rechtstreue der Bevölkerung als Folge
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Vollstreckung eine ernstliche Gefährdung der Rechtstreue der Bevölkerung als Folge
schwindenden Vertrauens in die Funktion der Rechtspflege zu erwarten wäre. Eine solche
Gefährdung ist nach der genannten Grundsatzentscheidung BGHSt 24, 40ff., 45 dann
anzunehmen, wenn der bloße Strafausspruch ohne Vollstreckung angesichts der
außergewöhnlichen Fallgestaltung als ungerechtfertigte Nachgiebigkeit verstanden
werden könnte.
Unter diesen Voraussetzungen kann im Grundsatz auch bei Fahrlässigkeitsdelikten
bei Freiheitsstrafen von mindestens 6 Monaten das Kriterium der Verteidigung der
Rechtsordnung die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gebieten, wenn sowohl Erfolgs- als
auch Handlungsunrecht schwer wiegen und es trotz der vorrangig zu gewichtenden
spezialpräventiven Gesichtspunkte unabweislich ist, durch eine stringente Anwendung
des Strafrechts das Vertrauen der Bevölkerung in die Wirksamkeit des
Rechtsgüterschutzes zu sichern. Insbesondere kann sich insoweit auch in Anbetracht der
im Grundsatz veranlassten restriktiven Auslegung des Begriffs der „Verteidigung der
Rechtsordnung“ eine Versagung der Strafaussetzung dann als notwendig erweisen,
wenn die Tat Ausdruck einer verbreiteten Einstellung ist, die eine durch einen
erheblichen Unwertgehalt gekennzeichnete Norm nicht ernst nimmt und von vornherein
auf die Aussetzung einer Freiheitsstrafe vertraut (vgl. OLG Karlsruhe - Urteil vom
18.02.2003 - 1 Ss 82/02, in juris).
Soweit unter diesen Voraussetzungen Fahrlässigkeitstaten nicht ausgenommen
sind, werden diese aber an den Rand des angesprochenen Bereichs gerückt, wobei der
Gesichtspunkt der Sühne oder der Tatvergeltung für das begangene Unrecht keine Rolle
spielt.
Auch die Schwere der Schuld kann für sich gesehen eine Versagung nicht
rechtfertigen, ihr kommt jedoch bei der vorzunehmenden Gesamtabwägung erhebliche
Bedeutung zu. Soweit diese Grundsätze bereits für Trunkenheitsdelikte im
Straßenverkehr, die zu besonders schweren, insbesondere tödlichen Unfallfolgen führen,
anerkannt sind und - vorbehaltlich der noch angezeigten Würdigung des Einzelfalles -
eine Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung nahe legen, erfordert jedoch nicht
jede Missachtung von Verkehrsvorschriften eine nachdrückliche Sanktion, vielmehr kann
dies nur dann der Fall sein, wenn die Tat neben den durch sie verursachten schwersten
Folgen einen erheblichen Unrechtsgehalt aufweist und Ausdruck einer verbreiteten
Einstellung ist, welche die Geltung des Rechts nicht mehr ernst nimmt. Die falsche
Einschätzung einer Verkehrssituation oder eine bloße Überschätzung der eigenen
Fähigkeiten im Umgang mit einem Kraftfahrzeug genügt hierfür jedoch nicht, denn
hierdurch verwirklicht sich nur eine dem Straßenverkehr eigentümliche Gefahrenlage,
der letztendlich auch ein besonnener Verkehrsteilnehmer einmal ausgesetzt sein kann.
Im Hinblick auf eine auf § 56 III StGB gestützte Versagung der Strafaussetzung kommen
daher nur besonders grobe und rücksichtslose Verstöße in Betracht, wie diese z.B. in der
Bestimmung des § 315 c StGB umschrieben sind, wobei auch Fälle „verantwortungsloser
Raserei“ hierzu zählen können (vgl. OLG Karlsruhe - Urteil vom 18.02.2003 - 1 Ss 82/02,
in juris).
Soweit daher vorliegend zur Begründung der Versagung der Strafaussetzung im
angefochtenen Urteil ausgeführt wird, trotz der positiven Prognose - UA 5. 16 - und des
Vorliegens besonderer Umstände i. S. d. § 56 II StGB aufgrund der vom Angeklagten
bereits teilweise verbüßten Freiheitsstrafe - UA 5. 16 - sei die Strafaussetzung zu
versagen, weil die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Verteidigung der Rechtsordnung
geboten sei - UA 5. 1Sf. -‚ da die Tat auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass
lediglich einfache Fahrlässigkeit vorliege, einen groben Verkehrsverstoß darstelle, weil
der Angeklagte über einen nicht hinnehmbaren Zeitraum seine wichtigste
Sorgfaltspflicht, nämlich die Verkehrslage aufmerksam zu beobachten, nicht nur
vernachlässigt, sondern gänzlich außer Acht gelassen habe - UA 8. 17 - und diesem
Tatunrecht eine Strafaussetzung zur Bewährung im Hinblick auf die gravierenden
Tatfolgen und insbesondere auch dem Leid der Hinterbliebenen und Getöteten nicht
mehr gerecht würde, ist die Versagung der Strafaussetzung nach § 56 III StGB unter den
dargelegten Voraussetzungen nicht frei von Rechtsfehlern.
Wenngleich das verkehrswidrige Verhalten des Angeklagten mit schwersten Folgen
für andere Verkehrsteilnehmer verbunden war und insbesondere zum Tod von 6
Menschen führte, kann bei der gebotenen Gesamtabwägung tat- und täterbezogener
Umstände nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Angeklagte aufgrund der
Feststellungen nicht bewusst, sondern einfach fahrlässig handelte und nach den
Feststellungen insoweit die Tat nicht als Ausdruck einer Einstellung zu werten ist, die die
Geltung des Rechts nicht mehr ernst nimmt, sondern das seinerzeitige verkehrswidrige
Verhalten des Angeklagten insoweit nach den Feststellungen zwar als auf
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Verhalten des Angeklagten insoweit nach den Feststellungen zwar als auf
Gedankenlosigkeit beruhendes mit schweren Folgen verbundenes Fehlversagen zu
werten ist, jedoch nicht auf eine dauerhaft verkehrsfeindlich und eigensüchtig geprägte
Motivation des Angeklagten zurückgeführt werden kann, die sich ohne Bedenken über
Verkehrsregeln und die Sicherheitsinteressen anderer Verkehrsteilnehmer hinwegsetzt
(vgl. in diesem Zusammenhang auch OLG Karlsruhe - Beschluss vom 28.03.2008 - 1 Ss
127/07, in juris).
Unter weiterer Berücksichtigung, dass das Landgericht aufgrund des Zeitablaufes
und der bereits teilweise verbüßten Strafhaft besondere Umstände i. S. d. § 56 II StGB
angenommen hat - UA S. 16 -‚ bei Vorliegen besonderer Umstände i. S. v. § 56 II StGB
jedoch die Strafvollstreckung regelmäßig auch dem Gesichtspunkt der Verteidigung der
Rechtsordnung nicht geboten sein kann (vgl. LK-Hubrach, Anm. 59 zu § 56 StGB m. w.
N., 12. Auflage, 2008), kann das Urteil, soweit im Hinblick auf § 56 III StGB die
Strafaussetzung versagt worden ist, keinen Bestand haben.
Da das Landgericht die Voraussetzungen des § 56 I StGB ausdrücklich bejaht hat,
kann das Revisionsgericht entsprechend § 354 I StPO selbst aussprechen, dass die
Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird,…“
Diese Ausführungen entsprechen der Sach- und Rechtslage, weshalb sich der Senat
ihnen anschließt und antragsgemäß entscheidet.
Das erstinstanzlich tätige Amtsgericht Oranienburg wird, soweit es dies für erforderlich
halten sollte, im Beschlusswege eventuelle Bewährungsauflagen festzusetzen (vgl. BGH
VRS 77, 349; NJW 1990, 193) und die Bewährungsbelehrung zu erteilen haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 472, 473Abs. 1-4, 467 analog StPO.
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