Urteil des OLG Brandenburg vom 19.08.2008

OLG Brandenburg: anhörung, angemessener zeitraum, vorführung, benachrichtigung, vollstreckung, verzicht, bewährung, unterbringung, quelle, aussetzung

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Gericht:
Brandenburgisches
Oberlandesgericht 1.
Strafsenat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 Ws 127/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 454 Abs 1 S 3 StPO, § 454 Abs
1 S 4 Nr 1 StPO, § 454 Abs 1 S 4
Nr 2 StPO, § 454 Abs 1 S 4 Nr 3
StPO
Reststrafenaussetzung: Unterlassen der mündlichen Anhörung
des Verurteilten; Angemessener Zeitraum zwischen
Terminsbenachrichtigung und Anhörungstermin
Leitsatz
Gemäß § 454 Abs. 1 S. 3 StPO ist der Verurteilte vor Entscheidung über die Aussetzung der
Vollstreckung eines Strafrestes mündlich zuhören. Von der mündlichen Anhörung des
Verurteilten kann unter den in § 454 Abs. 1 S. 4 Nr. 1-3 genannten Voraussetzungen
abgesehen werden. Wie viel Zeit zwischen der Benachrichtigung des Verurteilten von der
Anhörung und der Anhörung liegen muss, um dem Verurteilten ausreichend Gelegenheit zur
Benachrichtigung eines Rechtsbeistands seiner Wahl zu geben, wird in der Rechtsprechung
uneinheitlich beantwortet und hängt gegebenenfalls von den Umständen des Einzelfalls ab.
Tenor
Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Neuruppin vom 20. Mai
2008 wird aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Prüfung und Entscheidung - auch über die Kosten der sofortigen
Beschwerde - an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Neuruppin
zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts Neuruppin vom 21.
November 2006 wegen Diebstahls im besonders schweren Fall in vier Fällen und wegen
versuchten Diebstahls im besonders schweren Fall sowie wegen vorsätzlichen Fahrens
ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässigem Verstoß gegen das
Pflichtversicherungsgesetz unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des
Amtsgerichts Neuruppin vom 26. September 2005 zu einer Einheitsjugendstrafe von
zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt angeordnet. Durch das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 5.
September 2007 -12 Ns 22/07 – wurde auf die Berufung des Beschwerdeführers das
vorgenannte Urteil des Amtsgerichts Neuruppin im Rechtsfolgenausspruch dahingehend
abgeändert, dass unter weiterer Einbeziehung der Strafen aus dem Urteil des
Amtsgerichts Neuruppin vom 24. Juli 2007 und Aufrechterhaltung der
Unterbringungsanordnung auf eine Einheitsjugendstrafe von vier Jahren erkannt wurde.
Nachdem mit Beschluss des Amtsgerichts Eberswalde vom 31. März 2008 die
Unterbringung im Maßregelvollzug für erledigt erklärt und mit Beschluss vom 10. April
2008 die weitere Vollstreckung an die für Erwachsene zuständige Vollstreckungsbehörde
abgegeben wurde, verbüßt der Beschwerdeführer die Gesamtfreiheitsstrafe seit dem 17.
April 2008 in der Justizvollzugsanstalt … 2/3 der Strafe waren am 3. Mai 2008 verbüßt,
das Strafende ist auf den 3. September 2009 notiert.
Mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 20. Mai 2008 hat die
Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Neuruppin eine Reststrafenaussetzung zur
Bewährung abgelehnt. Zuvor wurde eine Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt …
eingeholt und am 16. Mai 2008 ein Anhörungstermin auf den 20. Mai 2008 anberaumt.
An diesem Anhörungstermin nahm der Beschwerdeführer nicht teil.
Mit seiner sofortigen Beschwerde rügt der Beschwerdeführer u.a. die kurzfristige
Terminsnachricht, eine fehlende Beiordnung seines Verteidigers sowie einen fehlenden
Verzicht seinerseits auf die mündliche Anhörung.
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II.
Die gemäß § 454 Abs. 3 S. 1 StPO statthafte und auch sonst zulässige sofortige
Beschwerde hat in der Sache einen vorläufigen Erfolg.
Der die Reststrafenaussetzung ablehnende Beschluss der Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts Neuruppin war aufzuheben, weil es an der zwingend vorgeschriebenen
mündlichen Anhörung des Verurteilten gemäß § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO fehlt und der
Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt ist.
Gemäß § 454 Abs. 1 S. 3 StPO ist der Verurteilte vor Entscheidung über die Aussetzung
der Vollstreckung eines Strafrestes mündlich zuhören.
Von der mündlichen Anhörung des Verurteilten kann unter den in § 454 Abs. 1 S. 4 Nr.
1-3 genannten Voraussetzungen abgesehen werden.
Vorliegend ist jedoch keine dieser im Gesetz genannten Voraussetzungen erfüllt.
Über die im Gesetz ausdrücklich genannten Fälle hinaus ist die mündliche Anhörung des
Verurteilten vor der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung nach herrschender
Auffassung (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., § 454 Rdnr. 24, 29 ff.) entbehrlich, wenn
ihre Durchführung unmöglich ist oder der Verurteilte seine Einwilligung in eine
Strafaussetzung zur Bewährung verweigert oder auf die mündliche Anhörung
ausdrücklich verzichtet oder die Vorführung zu einer bereits anberaumten mündlichen
Anhörung ablehnt oder die letzte Anhörung betreffend die Reststrafenaussetzung noch
nicht lange zurückliegt und offensichtlich keine Veränderungen in der Sach- und
Rechtslage seither eingetreten sind. (vgl. BGH, NStZ 2000, 279; OLG Hamm, MDR 1975,
775; OLG Düsseldorf, NStZ 1987, 524; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 3.
März 2008 - 1 Ws 86/08 –).
Die Strafvollstreckungskammer wurde vorliegend (nach Aktenlage) am Tage der
Anhörung durch eine Bedienstete der Justizvollzugsanstalt … telefonisch darüber
informiert, dass der Beschwerdeführer nicht zur Anhörung erscheinen werde, weil er sich
nicht einlassen wolle und sich geweigert habe, sich vorführen zu lassen. Die
Strafvollstreckungskammer hat daraufhin die Entscheidung über die
Reststrafenaussetzung ohne die mündliche Anhörung des Beschwerdeführers getroffen
und die Weigerung des Beschwerdeführers, zur Anhörung zu erscheinen, als deutliches
Zeichen für seine Uneinsichtigkeit und mangelndes Interesse an einer Veränderung
seines Verhaltens gewertet.
1. Eine ausdrückliche und eindeutige Erklärung des Beschwerdeführers, er wolle nicht
angehört werden, ist vorliegend nicht gegeben.
Wie sich aus den vom Senat eingeholten Stellungnahmen der Bediensteten der
Justizvollzugsanstalt … ergibt, habe der Beschwerdeführer zwar am Morgen der
Anhörung gegen 6:30 Uhr gegenüber dem Gruppenbetreuer … zunächst seine
Vorführung zu der Anhörung abgelehnt und sei sodann zur Arbeit zum Werkdienst
ausgerückt. Er habe sich, ausweislich der Angaben des Bediensteten des Werkdienstes
…, indes besonnen und am weiteren Morgen seine Vorführung zum Anhörungstermin
erstrebt. Telefonische Nachfragen des Bediensteten … bei der für die Vorführung
zuständigen Leiterin des Besucherdienstes … seien indes ohne Erfolg geblieben, da
diese zunächst vom Anhörungstermin des Beschwerdeführers keine Kenntnis gehabt
habe. Als die Leiterin des Besucherdienstes … etwa gegen 10:00 Uhr nach Leerung des
Postfaches von der Ladung des Beschwerdeführers zur Anhörung erfahren habe, habe
diese nach ihren Angaben (obwohl sie telefonisch bereits durch den Bediensteten …
darüber informiert war, dass sich der Beschwerdeführer beim Werkdienst befand)
telefonischen Kontakt mit dem Gruppenbetreuer … aufgenommen, der ihr mitgeteilt
habe, der Beschwerdeführer befände sich beim Werkdienst und habe eine Teilnahme an
der Anhörung ohne seinen Anwalt abgelehnt. Diese Information habe die Leiterin des
Besucherdienstes an die Strafvollstreckungskammer weitergeleitet.
Zum einen ist bereits fraglich, ob wegen der kurzfristigen Mitteilung des Termins an die
Justizvollzugsanstalt aus organisatorischen Gründen eine Vorführung des
Beschwerdeführers zum Anhörungstermin überhaupt möglich gewesen wäre, denn die
für die Durchführung der Vorführung zuständige Stelle hat erst etwa zum Zeitpunkt des
Anhörungstermins von diesem erfahren. Insoweit dürfte es ohne Auswirkungen
geblieben sein, dass der Beschwerdeführer am Morgen des Tages der Anhörung nicht in
seiner Abteilung verblieben, sondern zum Werkdienst ausgerückt war. Ferner fand die
rechtzeitige, noch geraume Zeit vor dem Anhörungstermin erfolgte Revidierung seiner
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rechtzeitige, noch geraume Zeit vor dem Anhörungstermin erfolgte Revidierung seiner
Entscheidung, ohne seinen Anwalt nicht an der Anhörung teilzunehmen und sich deshalb
nicht vorführen zu lassen, durch die Leiterin des Besucherdienstes keinerlei
Berücksichtigung. Die Leiterin des Besucherdienstes war vom Bediensteten … über die
neue Entscheidung des Beschwerdeführers informiert, hat dies der
Strafvollstreckungskammer telefonisch indes nicht mitgeteilt.
Nach alledem ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer nicht wirksam auf seine
Anhörung verzichtet hat.
Die Strafvollstreckungskammer ist bei Ihrer Entscheidung demnach von einer falschen
Voraussetzung, nämlich dem Verzicht des Beschwerdeführers auf eine mündliche
Anhörung, ausgegangen. Da vorliegend weder die Voraussetzungen der gesetzlich
geregelten Ausnahmefälle noch die Voraussetzungen für die von der obergerichtlichen
Rechtsprechung entwickelten Ausnahmefälle gegeben sind, stellt die unterbliebene -
zwingend nach § 454 Abs. 1 Satz 3 StPO vorgeschriebene - mündliche Anhörung einen
schwerwiegenden Verfahrensmangel dar.
2. Der Beschluss unterlag auch deshalb der Aufhebung, weil der Senat nicht
abschließend beurteilen kann, ob die Strafvollstreckungskammer bei der Entscheidung
ohne mündliche Anhörung des Beschwerdeführers gegen den Grundsatz des fairen
Verfahrens deshalb verstoßen hat, weil das Gericht bei seiner Entscheidung wusste, dass
der Gefangene die Anwesenheit seines Beistandes im Anhörungstermin wünscht oder
ihm dieser Wunsch des Gefangenen unbekannt blieb, weil es eine entsprechende
Mitteilung des Gefangenen auf Grund im Bereich der Justiz liegender Versäumnisse nicht
erhielt.
Vorliegend ist nicht eindeutig feststellbar, ob die Strafvollstreckungskammer vor dem
Anhörungstermin darüber unterrichtet war, dass der Beschwerdeführer bei der kurzfristig
anberaumten Anhörung die Anwesenheit seines Verteidigers wünschte. Aus der
Vollstreckungsakte sowie aus der angefochtenen Entscheidung ist dies nicht zu
entnehmen. Die Leiterin des Besucherdienstes … hat in ihrer vom Senat eingeholten
Stellungnahme indes angegeben, die Strafvollstreckungskammer davon unterrichtet zu
haben, der Beschwerdeführer lehne ohne die Anwesenheit seines Verteidigers eine
Anhörung ab.
3. Die angefochtene Entscheidung unterlag ferner wegen der Kurzfristigkeit der
Terminsanberaumung der Aufhebung.
Wieviel Zeit zwischen der Benachrichtigung des Verurteilten von der Anhörung und der
Anhörung liegen muss, um dem Verurteilten ausreichend Gelegenheit zur
Benachrichtigung eines Rechtsbeistands seiner Wahl zu geben, wird in der
Rechtsprechung uneinheitlich beantwortet und hängt gegebenenfalls von den
Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfG, StV 1994, 552; OLG Zweibrücken, StV 1993,
315, 316; vgl. auch OLG Frankfurt, NStZ-RR 2004, 155; NStZ-RR 2001, 348; OLG Hamm,
StRR 2007, 198, nach juris). Eine Information des Verurteilten -wie vorliegend- erst mit
der Postausgabe am Vortag, mithin weniger als 24 Stunden vor dem Anhörungstermin,
ist jedenfalls unzureichend. Bereits aus diesem Grund ist vorliegend ein Verstoß gegen
den Grundsatz des fairen Verfahrens gegeben.
Die der Strafvollstreckungskammer - hier - unterlaufenen Verfahrensfehler
(möglicherweise aufgrund fehlerhafter Informationen) können nicht von dem
Beschwerdegericht in hinreichender Weise ausgeglichen werden, dem Senat fehlt damit
ausnahmsweise die Kompetenz zur eigenen Sachentscheidung gemäß § 309 Abs. 2
StPO. Die Verfahrensmängel zwingen demnach zur Zurückverweisung an die
Strafvollstreckungskammer.
Da das Verfahren zur erneuten Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer
zurückverwiesen wurde und hierin nur ein vorläufiger Erfolg liegt, war eine
Kostenentscheidung nicht zu treffen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., § 473 Rdnr. 7).
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