Urteil des LSG Thüringen vom 21.11.2007

LSG Fst: vorläufiger rechtsschutz, vollziehung, auflage, fälligkeit, befehl, unterhalt, hauptsache, erlass, teilleistung, glaubhaftmachung

Thüringer Landessozialgericht
Beschluss vom 21.11.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Gotha S 37 AS 1632/07 ER
Thüringer Landessozialgericht L 9 AS 844/07 ER
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 08. Juni 2007 aufgehoben
und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes.
Die seit 2006 verheirateten Antragsteller zu 1) und 2) beantragten unter dem 10. Januar 2007 für sich und die Kinder
der Antragstellerin zu 1), die 1999 geborene Antragstellerin zu 3) und den 2003 geborenen Antragsteller zu 4),
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II). Die
Familie bewohnt gemeinsam eine Mietwohnung mit drei Räumen. Der Antragsteller zu 2) ist gegenüber den Kindern A.
(geb. 1994) und A1. (geb. 2001), die beide nicht bei ihm leben, zum Unterhalt verpflichtet.
Mit Bescheid vom 17. Januar 2007 lehnte die Antragsgegnerin Leistungen ab, weil Hilfebedürftigkeit im Sinne des
SGB II nicht vorliege. Hiergegen legten die Antragsteller Widerspruch ein und begründeten ihn hauptsächlich damit,
dass unzulässigerweise das gesamte Arbeitslosengeld ohne den gepfändeten Unterhalt herangezogen worden sei.
Am 30. März 2007 bewilligte die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Gotha dem Antragsteller zu 2) für die am
11. März 2007 aufgenommene selbständige Tätigkeit einen Gründungszuschuss bis 10. Dezember 2007 nach § 57
des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) von monatlich 1.509,90 EUR. Der Bescheid enthält den Hinweis, dass
der Betrag eine Pauschale von 300.- EUR zur sozialen Sicherung enthalte.
Mit Antrag vom 11. April 2007 begehrten die Antragsteller erneut Grundsicherungsleistungen. Mit Bescheid vom 03.
Mai 2007 lehnte die Antragsgegnerin sie ab, da Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II weiterhin nicht vorliege.
Dagegen legten die Antragsteller Widerspruch ein. Über beide Widersprüche hat die Antragsgegnerin bislang nicht
entschieden.
Am 07. Mai 2007 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Gotha den Erlass einer einstweiligen Anordnung
beantragt. Mit Beschluss vom 08. Juni 2007 verpflichtete dieses die Antragsgegnerin, Leistungen nach dem SGB II
ab 07. Mai 2007 bis 30. November 2007 ohne Anrechnung des Gründungszuschusses in gesetzlicher Höhe zu
bewilligen. Der Beschluss wurde den Beteiligen mit Empfangsbekenntnis (EB) zugestellt und zwar den
Prozessbevollmächtigten der Antragsteller am 12. Juli 2007 und der Antragsgegnerin am 11. Juli 2007.
Die Antragsgegnerin hat am 18. Juli 2007 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt. Das
Sozialgericht hat ihr nicht abgeholfen (Verfügung vom 19. Juli 2007) und sie dem Thüringer Landessozialgericht
vorgelegt.
Unter dem 11. September 2007 haben die Antragsteller um "Übersendung einer vollstreckbaren Ausfertigung des
Beschlusses vom 09. Juli 2007" gebeten. Die Antragsgegnerin hat die einstweilige Anordnung des Sozialgerichts bis
heute nicht umgesetzt.
Die Antragsgegnerin geht davon aus, dass der Gründungszuschuss der Sicherung des Lebensunterhaltes und der
sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung diene. Er sei Einkommen. Die Unterhaltsverpflichtungen
des Ehemanns seien bei der Einkommensberechnung berücksichtigt worden.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 08. Juni 2007 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie habe vergeblich versucht, den Beschluss vom 08. Juni 2007 durch Vorlage beim Jugendamt und
Schulverwaltungsamt umzusetzen. Gegenstand des Verfahrens seien die Bescheide vom 17. Januar und 11. April
2007. Bei verschiedenen Gläubigern seien erhebliche Zahlungsrückstände aufgelaufen, so dass sie dringend auf die
Leistungen angewiesen seien. Nach den Angaben im Aussetzungsverfahren (Az.: L 9 AS 983/07 ER) sieht der
Antragsteller zu 2) aufgrund der Nichtbewilligung der Leistungen nach dem SGB II seine Existenzgründung als
gescheitert an; er bemühe sich – ohne Aufgabe der Selbständigkeit – um ein sozialversicherungspflichtiges
Beschäftigungsverhältnis. Die Antragstellerin zu 1) habe wegen der vermutlich gescheiterten Existenzgründung und
der anhängigen Verfahren einen Nervenzusammenbruch erlitten und müsse psychiatrisch behandelt werden.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und den
Akteninhalt Bezug genommen. Die die Antragsteller betreffende Verwaltungsakte ist Gegenstand der geheimen
Beratung gewesen.
II.
Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig und begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 08.
Juni 2007 ist aufzuheben.
Nach § 86 b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag, wenn – wie hier
– ein Fall von § 86 b Abs. 1 SGG (vorläufiger Rechtsschutz in Anfechtungssachen) nicht vorliegt, eine einstweilige
Anordnung in Bezug auf den Streit¬gegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des
bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert
werden könnte (Satz 1, Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind weiterhin zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechts¬verhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur
Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2, Regelungsanordnung). Die §§ 920, 921, 923, 926, 928 bis
932, 938, 939 und 945 der Zivilprozessordnung (ZPO) gelten entsprechend (Satz 4).
Im vorliegenden Fall ist die Vollziehung der einstweiligen Anordnung durch Vollstreckung bezüglich der Zeit von Mai
bis Oktober 2007 unstatthaft geworden, weil die Frist des § 929 Abs. 2 ZPO abgelaufen ist. Nach § 929 Abs. 2 ZPO
ist die Vollziehung der einstweiligen Anordnung unstatthaft, wenn seit dem Tage, an dem der Befehl verkündet oder
der Partei, auf deren Gesuch er erging, zugestellt ist, ein Monat verstrichen ist. Insofern erübrigt sich eine inhaltliche
Prüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Vorinstanz.
Die Einleitung des Vollzugs innerhalb der Monatsfrist entfällt angesichts der eindeutigen gesetzlichen Regelung nicht,
obwohl die Beschwerdeführerin als öffentlich-rechtliche Körperschaft grundsätzlich nach Art. 20 Abs. 3 des
Grundgesetzes (GG) an Recht und Gesetz gebunden ist (vgl. LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 04. Januar
2007 - Az.: L11 B 509/ AS ER m.w.N in NZS 2007, 448; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage
2005, § 86b Rdnr. 46) und damit grundsätzlich sozialgerichtliche Entscheidungen befolgen muss. Allerdings kann dies
nur im Fall einer – hier nicht vorliegenden – rechtskräftigen Entscheidung gelten. Die Antragsgegnerin würde sich
gerade nicht rechtsstaatswidrig verhalten, wenn sie nach Ablauf der Vollziehbarkeit nicht mehr leistet (vgl. u.a.
Hessischer VGH, Beschluss vom 7. September 2004 - Az.: 10 TG 1498/04; Bayerischer VGH, Beschluss vom 3.
November 2003 – Az.: 12 S 03.2673; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. Dezember 1999 – Az.: 7 S
2505/99, alle nach juris; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Auflage 2003, § 123 Rdnr. 40).
Insofern ist es unerheblich, dass der Gesetzeszweck des § 929 Abs. 2 ZPO (auch) in einem Schuldnerschutz liegt
(vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 28. Januar 1998 – Az.: 11 Wx 29/97, nach juris: Schutz vor einer
überraschenden Vollstreckung nach längerer Zeit und unter veränderten Umständen; Baumbach/Hartmann, ZPO, 65.
Auflage 2007, § 929 Rdnr. 2).
Die einstweilige Anordnung wurde den Antragstellern am 12. Juli 2007 zugestellt. Die Monatsfrist endete damit
grundsätzlich am 13. August 2007 (§ 64 SGG). Für die Monate Mai bis Oktober 2007 ist zum Zeitpunkt der
Senatsentscheidung die Fälligkeit der angeordneten Leistung eingetreten (§ 41 Abs. 1 S. 4 SGB II) und die
Vollziehungsfrist abgelaufen.
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob bei wiederkehrenden Leistungen über den Wortlaut des § 929 Abs.
2 ZPO zusätzliche Anforderungen an die Vollziehung zu stellen sind. Der Senat folgt der Ansicht, dass in einem
solchen Fall die Fälligkeit der konkreten Teilleistung im Rahmen des § 929 Abs. 2 ZPO berücksichtigt werden muss
(vgl. VGH Baden- Württemberg, Beschluss vom 17. Dezember 1999 – 7 S 3205/99 – in NVwZ 2000, 691, 692; OLG
Koblenz, Urteil vom 24. August 1978 – Az.: 13 UF 268/78, nach juris; Vollkommer in Zöller, ZPO, 26. Auflage 2007, §
929, Rdnr. 19; offen gelassen in LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. Januar 2006, a.a.O:; a.A. OLG
Karlsruhe, Urteil vom 02. Oktober 1991 - Az.: 2 A UF 169/91, 2a UF 169/91, nach juris; OLG Köln, Urteil vom 10. Juli
1985 – Az.: 26 UF 83/85 in FamRZ 1985, 1063, 1065; OLG Köln, Urteil vom 06. November 1984 – Az.: 4 UF 193/84 in
FamRZ 1985, 508, 509; Grunsky in Stein/Jonas, ZPO, 21. Auflage , Rdnr. 38). Es muss den Antragstellern als
Gläubigern der Leistung grundsätzlich die Möglichkeit bleiben, etwaige freiwillige Leistungen, die die
Zwangsvollstreckung überflüssig machten, abzuwarten (so zu Recht OLG Koblenz, Urteil vom 24. August 1978,
a.a.O.).
Im sozialgerichtlichen Verfahren erfolgt die Vollziehung/Vollstreckung in den Fällen des § 131 SGG einer in einem
Urteil auferlegten Verpflichtung gegen Behörden nach § 201 Abs. 1 SGG, der auch im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren entsprechend angewandt wird (vgl. Ruppelt in Hennig, SGG, Stand: November 2002, § 201
Rdnr. 2). Der hierfür erforderliche Antrag muss innerhalb der Frist des § 929 Abs. 2 ZPO gestellt werden.
Nicht ausreichend war hier der Antrag auf die Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung vom 12. September 2007;
er kann auch nicht in einen Antrag nach § 201 SGG umgedeutet werden. Einstweilige Anordnungen im
sozialgerichtlichen Verfahren bedürfen im Übrigen nach § 86b Abs. 2 S. 4 SGG, § 929 Abs. 1 ZPO keiner
Vollstreckungsklausel, solange die Vollziehung nicht gegen einen anderen als den in dem Befehl bezeichneten
Schuldner erfolgen soll.
Bezüglich des Monats November 2007 kann die Frist grundsätzlich noch gewahrt werden. Der Anordnungsgrund
wurde allerdings nicht hinreichend glaubhaft gemacht.
Ein Anordnungsantrag ist – im Rahmen einer hier nur in Betracht kommenden Regelungsanordnung – begründet, wenn
das Gericht auf Grund einer hinreichenden Tatsachenbasis durch Glaubhaftmachung (§ 86 b S. 4 SGG i. V. m. §§ 920
Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO) und/oder im Wege der Amtsermittlung (§ 103 SGG) einen Anordnungsanspruch und einen
Anordnungsgrund bejahen kann.
Ein Anordnungsanspruch liegt vor, wenn das im Hauptsacheverfahren fragliche materielle Recht mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn es für den Antragsteller unzumutbar
erscheint, auf den (rechtskräftigen) Abschluss des Hauptsacheverfahrens verwiesen zu werden, wobei darauf
abzustellen ist, welche Folgen der Nichterlass der begehrten einstweiligen Anordnung für den Betroffenen hätte.
Es fehlt hier an diesem Anordnungsgrund. Die Eilbedürftigkeit für eine vorläufige Entscheidung ist nicht erkennbar.
Maßgeblich für die Entscheidung hinsichtlich des Anordnungsgrundes ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der
Entscheidung des Gerichts (vgl. LSG Thüringen, Beschluss vom 4. Dezember 2005 – L 7 AS 984/06 ER;
Kopp/Schenke, a.a.O., § 123 Rn. 27). Im Antrag haben die Antragsteller erklärt, dass sie erhebliche
Zahlungsrückstände bei Gläubigern angehäuft haben. Es bestehe ein Mietrückstand, der nicht gedeckt sei. Dieser
Vortrag wurde in der zweiten Instanz wiederholt, ohne eine Konkretisierung vorzunehmen. Der pauschale Verweis auf
unbezifferte Verbindlichkeiten, das Scheitern der Existenzgründung des Antragstellers zu 2) und der
Gesundheitszustand der Antragstellerin zu 1) ist nicht geeignet die Dringlichkeit des Erlasses einer einstweiligen
Anordnung zu begründen. Eine Existenzgefährdung der Antragsteller wurde nicht ausreichend vorgetragen; und ergibt
sich auch nicht aus den vorgelegten Unterlagen. Den Antragstellern ist zuzumuten, die Entscheidung in der
Hauptsache abzuwarten. Sollten sie dort obsiegen, wird der durch die derzeitige Nichtzahlung eingetretene finanzielle
Nachteil ausgeglichen.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Die Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).