Urteil des LSG Thüringen vom 17.01.2008

LSG Fst: ende der frist, gesetzliche vermutung, erlass, eltern, hauptsache, verpflegung, dringlichkeit, altersrente, beschwerdefrist, gefahr

Thüringer Landessozialgericht
Beschluss vom 17.01.2008 (rechtskräftig)
Sozialgericht Nordhausen S 12 AS 1472/07 ER
Thüringer Landessozialgericht L 9 AS 1049/07 ER
Die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Nordhausen vom 15. August 2007
wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Eilantrages über höhere Leistungen zur Grundsicherung nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Bewilligungsabschnitt vom 1. Juni 2007 bis 30. November 2007.
Der im Jahre 1979 geborene Beschwerdeführer lebt mit seinen Eltern in einer etwa 59 Quadratmeter großen
Mietwohnung in H. Der Vater erhält Altersrente in Höhe von 779, 70 EUR monatlich (Stand 1. Juli 2007). Die Mutter
bezieht Altersrente wegen Arbeitslosigkeit in Höhe von 417, 68 EUR (Stand 1. Juli 2007).
Auf seinen Antrag bewilligte die Beschwerdegegnerin ab 22. Juni 2005 Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB
II. Vom Regelsatz brachte sie – gestützt auf § 9 Abs. 5 SGB II – zunächst 115, 85 EUR und später 131, 10 EUR in
Abzug. Es werde vermutet, dass der Beschwerdeführer von seinen Eltern kostenlos verpflegt werde. Die kostenlose
Verpflegung müsse er sich als Einkommen anrechnen lassen. Die Bescheide betreffend die einzelnen
Bewilligungsabschnitte bis einschließlich 31. Mai 2007 wurden bestandskräftig.
Auf seinen Fortzahlungsantrag vom 17. April 2007 bewilligte die Beschwerdegegnerin mit Bescheid vom 19. April
2007 für die Zeit vom 1. Juni bis 30. November 2007 Leistungen in Höhe von 277, 56 EUR. Als Einkommen in Form
einer von ihr vermuteten kostenlos gewährten Verpflegung seitens der Eltern setzte sie einen Wert von 131, 10 EUR
an.
Der Beschwerdeführer legte dagegen Widerspruch ein. Er verfüge über keinerlei Einkommen. Ihm sei unerklärlich,
woraus und in welcher Höhe die Einkommensanrechnung resultiere. Mit Änderungsbescheid vom 2. Juni 2007 trug die
Beschwerdegegnerin der Änderung des § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II (Erhöhung des Regelsatzes) mit Wirkung zum 1.
Juli 2007 Rechnung und bewilligte für die Zeit vom 1. Juli 2007 bis 30. November 2007 Leistungen in Höhe von 279,
56 EUR monatlich. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2007, dem
Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 19. Juni 2007 zugestellt, zurück.
Der Beschwerdeführer hat dagegen am 19. Juli 2007 Klage erhoben (Az.: S 12 AS 1661/07), über die das
Sozialgericht noch nicht entschieden hat und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Mit Beschluss vom
15. August 2007 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Es könne dahinstehen, ob ein Anordnungsanspruch
glaubhaft gemacht sei. Jedenfalls fehle es an dem ebenfalls erforderlichen Anordnungsgrund.
Gegen den am 16. August 2007 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 17. September 2007 - einem
Montag - Beschwerde eingelegt.
Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, ein Anordnungsgrund liege sehr wohl vor. Der geringe Regelsatz von 347,00
EUR decke das Existenzminimum und müsse ihm uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Er lebe nunmehr seit
längerem von der Hand in den Mund. Ihm könne nicht entgegengehalten werden, dass er sich in der Vergangenheit
nicht gegen die Leistungskürzung zur Wehr gesetzt habe. Dies sei allein aus Rechtsunkenntnis geschehen.
Tatsächlich ändere dieser Umstand nichts an der akuten Notlage. Seine Eltern seien im Übrigen nicht in der Lage, ihn
finanziell zu unterstützen. Dies folge schon allein aus den niedrigen Altersrenten und den laufenden monatlichen
Verbindlichkeiten. Er zahle deshalb seit geraumer Zeit ein monatliches Kostgeld von 90,00 EUR an seine Eltern.
Der Beschwerdeführer beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Nordhausen vom 15. August 2007 aufzuheben und die Beschwerdegegnerin im
Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm für den Monat Juni 2007 Leistungen zur Grundsicherung nach
dem SGB II in Höhe von insgesamt 408,66 EUR und ab Juli 2007 Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB II in
Höhe von insgesamt 410,66 EUR monatlich zu bewilligen.
Die Beschwerdegegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie ist der Meinung es fehle am Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen
Anordnung. Es sei nicht ersichtlich, aus welchem Grund es dem Beschwerdeführer nicht zumutbar sei, den Ausgang
des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Bisher habe er auch die gesetzliche Vermutung des § 9 Abs. 5 SGB II nicht
glaubhaft widerlegt. Sein diesbezüglicher Vortrag, insbesondere zur Zahlung eines Kostgeldes sei widersprüchlich.
Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen (Verfügung vom 17. September 2007) und dem Thüringer
Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.
Zur Ergänzung des Tatbestands im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Leistungsakte der
Beschwerdegegnerin verwiesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig.
Insbesondere hat der Beschwerdeführer die Beschwerdefrist eingehalten. Nach § 173 Abs. 1 Satz 1 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist die Beschwerde binnen einen Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung beim
Sozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle einzulegen; § 181 des
Gerichtsverfassungsgesetzes bleibt unberührt. In Ergänzung hierzu regelt § 64 Abs. 3 SGG, dass die Frist mit Ablauf
des nächsten Werktages endet, sofern das (ursprüngliche) Ende der Frist auf einen Sonntag, einen gesetzlichen
Feiertag oder einen Sonnabend fällt. Der Beschluss wurde dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am
16. August 2007 zugestellt. Da der 16. September 2007 ein Sonntag war, ist die Beschwerdefrist mit Eingang des
Schriftsatzes am 17. September 2007 beim Sozialgericht Nordhausen gewahrt. Auch die übrigen Voraussetzungen für
die Zulässigkeit der Beschwerde liegen unbedenklich vor.
Die Beschwerde ist aber unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu
Recht abgelehnt.
Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall von § 86 b Abs. 1 – wie hier- nicht
vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn anders die Gefahr
besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des
Beschwerdeführers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch
zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Nach § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG gelten die
§§ 920, 921, 923, 926, 928 bis 932, 938, 939 und 945 der Zivilprozessordnung (ZPO) entsprechend. Das Gericht
entscheidet durch Beschluss (§ 86 b Abs. 4 SGG).
Der Antrag ist dann begründet, wenn das Gericht auf Grund hinreichender Tatsachenbasis durch Glaubhaftmachung (§
86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO) und bzw. oder im Wege der Amtsermittlung (§ 103
SGG) einen Anordnungsanspruch bejahen kann. Er liegt vor, wenn das im Hauptsacheverfahren fragliche materielle
Recht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Darüber hinaus muss in Abwägung der für die
Verwirklichung des Rechts bestehenden Gefahr einerseits und der Notwendigkeit einer Regelung andererseits ein
Anordnungsgrund zu bejahen sein.
Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob der Beschwerdeführer den Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht
hat. Inwieweit die Beschwerdegegnerin den Regelsatz wegen der von ihr vermuteten freien Verpflegung seitens der
Eltern zu Recht gekürzt hat, wird das Sozialgericht im Hauptsacheverfahren zu prüfen haben und diesbezüglich
gegebenenfalls weitere Ermittlungen anstellen müssen. Jedenfalls fehlt es an dem für den Erlass der begehrten
Anordnung (auch) notwendigen Anordnungsgrund.
Maßgebend für die Prüfung, ob er vorliegt, ist in dem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der
Zeitpunkt, in dem das Gericht entscheidet; bei einer Beschwerde mithin der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung.
Dies erklärt sich daraus, dass in dem Erfordernis des Anordnungsgrundes ein besonderes Dringlichkeitselement
enthalten ist, das grundsätzlich nur Wirkung für die Zukunft entfalten soll. Dagegen scheidet eine rückwirkende
Feststellung – betreffend einen abgelaufenen Zeitraum – grundsätzlich aus. Ein Anordnungsgrund lässt sich dann in
der Regel nicht mehr bejahen. Die folgt aus der prozessualen Funktion des vorläufigen Rechtsschutzes. Sie soll –
entsprechend der Intention des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) - in dringenden Fällen effektiven
Rechtsschutz ermöglichen und ihn in den Fällen gewähren, in denen eine Entscheidung im grundsätzlich vorrangigen
Hauptsacheverfahren zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare Nachteile entstehen würden, die durch
eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr auszugleichen wären. Hieraus folgt zugleich, dass die Annahme
einer besonderen Dringlichkeit und damit verbunden die Bejahung des Anordnungsgrundes in der Regel ausscheidet,
wenn sie nur vor dem Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung vorgelegen hat; dann ist die besondere Dringlichkeit durch
Zeitablauf überholt. Dem Rechtsschutzsuchenden ist es in diesem Fall grundsätzlich zumutbar, die Entscheidung im
Hauptsacheverfahren abzuwarten.
Anderes kann im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG ausnahmsweise dann gelten, wenn anderenfalls effektiver
Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht mehr erlangt werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn bis zur
Entscheidung in der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen werden, die
irreparabel sind oder sich durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht ausreichend rückgängig machen lassen
(vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. Juli 2007 - Az.: L 28 B 1040/07 AS ER und VG München,
Beschluss vom 22. Januar 2007 - Az.: M 15 E 06.4471, beide nach juris).
Gemessen daran könnte mit dem Erlass der einstweiligen Anordnung grundsätzlich nur eine vorläufige Zahlung für
einen im Zeitpunkt der Senatsentscheidung gänzlich abgelaufenen Bewilligungsabschnitt vom 1. Juni 2007 bis 30.
November 2007 erreicht werden. Der Beschwerdeführer hat aber nicht vorgetragen, dass er durch ein Zuwarten bis zu
einer Entscheidung in der Hauptsache schwere und unzumutbare Nachteile erleidet. Anhaltspunkte hierfür waren nach
Aktenlage für den Senat ebenfalls nicht ersichtlich. Es verhält sich vielmehr so, dass die Beschwerdegegnerin im
Falle des Obsiegens des Beschwerdeführers in der Hauptsache die Nachzahlung des ungekürzten Regelsatzes für
den Bewilligungsabschnitt vom 1. Juni 2007 bis 30. November 2007 problemlos vornehmen kann.
Gegen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes – darauf hat schon das Sozialgericht zutreffend abgestellt – spricht
ferner, dass die Beschwerdegegnerin die Kürzung des Regelsatzes von Anbeginn der Leistungen nach dem SGB II
praktiziert hat. Der Beschwerdeführer hat dies knapp zwei Jahre hingenommen und die ihm möglichen Rechtsmittel
nicht ergriffen bzw. nicht ausgeschöpft. Erst im Nachgang hat er die bestandskräftigen Bescheide nach § 44 Abs. 1
des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) zur Überprüfung gestellt. Hat er aber – mit welchen Mitteln auch
immer – knapp zwei Jahre mit dem gekürzten Regelsatz gewirtschaftet, ist eine besondere Dringlichkeit und damit ein
Anordnungsgrund für den Bewilligungsabschnitt vom 1. Juni 2007 bis 30. November 2007 nicht glaubhaft gemacht.
Schließlich kann der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung keinen Erfolg haben, soweit der
Beschwerdeführer Leistungen in Höhe des ungekürzten Regelsatzes – weiterhin – d. h. über den 30. November 2007
hinaus begehrt. Der hier streitige Bescheid vom 19. April 2007 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 2. Juni
2007 beschränkt seine Wirkung auf den Zeitraum vom 1. Juni 2007 bis 30. November 2007. Nach Aktenlage ist nicht
erkennbar, ob der Beschwerdeführer für den Folgezeitraum einen Leistungsantrag gestellt hat bzw. ob die
Beschwerdegegnerin einen (etwaigen) Leistungsantrag beschieden hat. Indes ist dies für das vorliegende Verfahren
ohne rechtliche Relevanz. Selbst wenn die Beschwerdegegnerin den Beschwerdeführer für den Folgezeitraum
beschieden hätte, wäre dieser Bescheid nicht in entsprechender Anwendung des § 96 SGG Gegenstand eines
anhängigen Hauptsacheverfahrens geworden. Eine analoge Anwendung der zitierten Vorschriften ist im Rahmen des
SGB II wegen der spezifischen Besonderheiten auf diesem Rechtsgebiet nicht möglich (vgl. BSG, Urteil vom 7.
November 2006 - Az.: B 7 b AS 14/06 R, nach juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).