Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 18.12.2002

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Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Urteil vom 18.12.2002 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kiel S 15 KA 27/01
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht L 4 KA 10/02
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 12. Dezember 2001 und der Bescheid
des Beklagten vom 28. Dezember 2000 aufgehoben. Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu
erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die klagende Kassenärztliche Vereinigung wendet sich gegen die Sonderbedarfszulassung des Beigeladenen zu 5)
als Kinder und Jugendlichenpsychotherapeut für F.
Der 1941 geborene Beigeladene zu 5) ist Dipl. Psychologe und bis Ende 2002 als solcher als Kinder und
Jugendlichenpsychotherapeut und therapeutischer Leiter am Westfälischen Institut für Kinder und Jugendliche in H
tätig gewesen. Aus gesundheitlichen Gründen hat er die leitende Funktion aufgegeben und arbeitet seither bei
demselben Arbeitgeber in Altersteilzeit in einer Tagesklinik. Seine Ehefrau ist ebenfalls Psychotherapeutin und seit
Oktober 1999 in F zugelassen worden, wo seitdem auch der Familienwohnsitz ist. Vorher hatte die Familie in
Nordrhein-Westfalen gewohnt.
Mit Schreiben vom 17. Dezember 1999 stellte der Beigeladene zu 5) einen Antrag auf Zulassung als Kinder und
Jugendlichenpsychotherapeut im Wege der Sonderbedarfszulassung in F. Der Planungsbereich Kreisregion Stadt F
/Kreis S F war durch Beschluss des Landesausschusses vom 11. November 1999 für die weitere Zulassung von
psychologischen Psychotherapeuten und Kinder und Jugendlichenpsychotherapeuten gesperrt worden. Der
Beigeladene zu 5) wies darauf hin, dass in F ein Bedarf für Kinder und Jugendlichenpsychotherapeuten bestünde. Dort
seien nur seine Frau und eine andere Psychotherapeutin zugelassen, die sich auf die Behandlung von Kindern und
Jugendlichen spezialisiert hätten. Die Wartezeit in der Praxis seiner Frau betrage vier bis sechs Monate. In F gäbe es
außerdem keinen männlichen Psychotherapeuten. Dies sei aber insbesondere bei der Behandlung von Jungen mit
Geschlechts und Geschlechtsrollenidentitätsproblemen wichtig. Die Vorsitzende der Kreisstelle bestätigte den Bedarf,
da insbesondere ein männlicher Psychotherapeut notwendig sei. Sie sprach sich auch für eine Ausnahme von der
Altersgrenze aus.
Mit Beschluss vom 14. Juni 2000, ausgefertigt am 26. Juli 2000, lehnte der Zulassungsausschuss die Zulassung des
Beigeladenen zu 5) ab. Eine unbillige Härte läge nicht vor, weil dieser nicht aus zwingenden wirtschaftlichen Gründen
auf die Ausübung der Tätigkeit als Vertragspsychotherapeut angewiesen sei und die ständige Trennung von seiner
Familie, die in F lebe, von ihm bzw. seiner Familie selbst herbeigeführt worden sei. Die Familie habe sich eine
Verbesserung des Gesundheitszustandes von mindestens zwei der fünf Kinder erhofft und sei deshalb umgezogen.
Insoweit könne eine unbillige Härte allein wegen der Trennung des Ehegatten von der Familie nicht als Härte im Sinne
von § 25 Satz 2 Ärzte ZV anerkannt werden. Der Beigeladene zu 5) sei nicht gezwungen, eine frühere
vertragspsychotherapeutische Tätigkeit aufzunehmen, da er nicht niedergelassen gewesen sei. Auch die dargelegte
Lücke in der Altersversorgung rechtfertige keine andere Beurteilung des Sachverhalts, weil er mit dem Erreichen der
Altersruhegrenze einen Rentenanspruch habe. Der Ausschuss hielt es für nicht entscheidungserheblich, ob der
Umzug der Familie tatsächlich wegen des Gesundheitszustandes einiger Familienmitglieder erfolgt sei. Jedenfalls sei
in der Trennung eine unbillige Härte nicht zu erkennen. Auf einen Versorgungsbedarf komme es nicht an, weil der
Beigeladene zu 5) die grundsätzlich bestehende Altersgrenze für eine Zulassung überschritten habe.
Gegen diesen Bescheid legte der Beigeladene zu 5) mit am 17. August 2000 eingegangenen Schreiben Widerspruch
ein. Er wies darauf hin, dass es im Wesentlichen um die Bewertung der persönlichen Verhältnisse gehe. Aus
persönlichen Gründen habe der Wohnortwechsel erfolgen müssen, da sowohl die Ehefrau als auch mindestens zwei
der Kinder an Allergien litten, die einen Wohnort am Meer notwendig machten. Durch die Dauerbelastung mit der
doppelten Haushaltsführung und der Wahrnehmung der familiären Aufgaben und der beruflichen Tätigkeit weit entfernt
sei es bei ihm bereits zu gesundheitlichen Problemen gekommen.
Mit Beschluss vom 16. November 2000, ausgefertigt am 28. Dezember 2000, gab der Beklagte dem Widerspruch
statt und ließ den Beigeladenen zu 5) gemäß Nr. 24 a der Bedarfsplanungsrichtlinien Ärzte als Kinder und
Jugendlichenpsychotherapeut für F zu. Eine unbillige Härte liege vor, da die Arbeits und Lebensbedingungen sich so
belastend darstellten, dass eine Aufgabe der Tätigkeit absehbar sei. Der Beigeladene zu 5) habe glaubhaft dargelegt,
dass die durch Trennung von Wohn und Arbeitsort bzw. Trennung von Familie und Arbeitsort entstandene
psychosomatische Belastung zu hohen gesundheitsgefährdenden Blutdruckwerten geführt habe, die nur mit
erheblichem Medikamenteneinsatz hätten kontrolliert werden können. Diese Situation sei einer im Sinne der
Rechtsprechung gravierenden beruflichen Situation, etwa der Aufgabe des Berufs, gleichzusetzen. Deshalb sei eine
Zulassung trotz Erreichens der Altersgrenze von 55 Jahren wegen unbilliger Härte möglich.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 26. Januar 2001 Klage beim Sozialgericht Kiel erhoben. Sie hat die
Auffassung vertreten, dass der Beklagte eine Bedarfsprüfung nach den vom Bundessozialgericht entwickelten
Maßstäben auch nicht ansatzweise angestellt habe. Er habe sich ausschließlich mit der Frage beschäftigt, ob hier ein
Fall der unbilligen Härte im Sinne von § 25 Satz 2 Ärzte ZV vorliege und dabei übersehen, dass die Rechtsgrundlage
für die Sonderbedarfszulassung (Ziffer 24 a der Bedarfsplanungsrichtlinien Ärzte) einen nachweislichen lokalen
Versorgungsbedarf voraussetze. Im Übrigen liege hier auch keine unbillige Härte vor, die zur Ausnahme von der
Altersgrenze führen könne, weil der Beigeladene zu 5) nicht gezwungen sei, seinen Arbeitsplatz aufzugeben. Der
schlechte gesundheitliche Zustand der Töchter und der damit verbundene Umzug möge bedauerlich sein, hiermit
könne jedoch ebenso wenig eine Härtefallregelung mit einer Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung verbunden
werden wie mit dem schlechten Gesundheitszustand des Beigeladenen zu 5) selbst. So hätte sich dieser z. B.
bemühen können, in der Nähe seiner Familie als Angestellter tätig zu werden.
Der Beigeladene zu 5) hat darauf hingewiesen, dass die Klägerin - gemeint: der Zulassungsausschuss - während des
laufenden Antrags und Klageverfahrens für F eine Sonderbedarfszulassung erteilt und damit selbst einen Bedarf
bejaht habe. Weiterhin hat er geltend gemacht, dass trotz seines Alters nicht von einer im Wesentlichen
abgeschlossenen beruflichen Tätigkeit ausgegangen werden dürfe. Er sei erst nach 10 jähriger Selbstständigkeit und
einem Studium über den zweiten Bildungsweg in seinen jetzigen Beruf gekommen. Dies müsse in eine "Gesamtbe-
trachtung" im Rahmen einer Härtefallprüfung einbezogen werden.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. Dezember 2001 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es
ausgeführt, dass der Beigeladene zu 5) einen Anspruch auf Zulassung habe, obwohl er das 55. Lebensjahr vollendet
habe. Dies sei zur Vermeidung von unbilligen Härten erforderlich. Zwar stehe der Beigeladene zu 5) in einem
ungekündigten Arbeitsverhältnis. Dieses sei jedoch mehrere hundert Kilometer von dem Wohnort der Familie entfernt.
Dieser Wohnort sei nicht willkürlich gewählt worden. Grund für den Umzug nach Schleswig-Holstein sei die
gesundheitliche Schwäche der Ehefrau und von zwei Töchtern gewesen, die unter asthmatischen Beschwerden und
Allergien litten. Im Hinblick auf deren Gesundheitszustand, das Alter der Kinder und das Alter des Beigeladenen zu 5)
sei eine Familienzusammenführung wünschenswert. Durch die Trennung von Arbeitsstätte und Wohnort der Familie
seien bei dem Beigeladenen zu 5) bereits nicht unwesentliche gesundheitliche Probleme aufgetreten. Angesichts
seines beruflichen Lebenslaufes sei ihm auch nicht zuzumuten, sein Arbeitsverhältnis in H ohne die reale Möglichkeit
aufzugeben, in Schleswig-Holstein eine vergleichbare Beschäftigung zu finden. Wirtschaftliche Aspekte stünden
jedoch nicht im Vordergrund. Eine unbillige Härte liege vor, wenn der Beigeladene zu 5) auf Kosten seiner Gesundheit
zwischen bisherigem Arbeitsort und Familienwohnort hin und her pendele, obwohl ein Bedarf an männlichen Kinder-
und Jugendlichen-Therapeuten in F bestehe.
Gegen dieses der Klägerin am 25. März 2002 zugestellte Urteil richtet sich ihre Berufung, die am 24. April 2002 beim
Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangen ist. Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für nicht
überzeugend und bleibt bei ihrer Rechtsauffassung.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 12. Dezember 2001 sowie den Bescheid des Beklagten vom 28. Dezember
2000 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Beigeladene zu 5) beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass ihm die Zulassung zu Recht erteilt worden sei.
Die übrigen Beigeladenen stellen keine Anträge.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf
den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten. Diese haben vorgelegen und waren
Gegenstand der mündlichen Verhandlung, in der der Beigeladene zu 5) insbesondere zu seiner wirtschaftlichen und
familiären Situation angehört wurde.
Entscheidungsgründe:
Die form und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig; sie ist auch begründet.
Der Beigeladene zu 5) hat keinen Anspruch auf Zulassung als Kinder und Jugendlichenpsychotherapeut für F , weil er
zum Zeitpunkt der Antragstellung die Zulassungsaltersgrenze von 55 Lebensjahren überschritten hatte und eine
Ausnahme zur Vermeidung einer unbilligen Härte nicht erforderlich ist (§ 98 Abs. 2 Nr. 12 SGB V in Verbindung mit §
25 Ärzte ZV). Der Bescheid des Beklagten und das Urteil des Sozialgerichts waren daher aufzuheben.
Die Klägerin weist zu Recht darauf hin, dass der Beigeladene zu 5) nur dann einen Anspruch auf Zulassung hat, wenn
nachweislich ein lokaler Versorgungsbedarf besteht (Ziff. 24 a der Bedarfsplanungsrichtlinien Ärzte) und eine unbillige
Härte im Sinne von § 25 Satz 2 Ärzte-ZV vorliegt. Da nach Auffassung des Senats hier keine unbillige Härte
anzunehmen ist, kommt es nicht mehr darauf an, ob ein Versorgungsbedarf zu bejahen ist.
Zur Härtefallregelung des § 25 Ärzte-ZV hat das Bundessozialgericht entschieden (Urteil vom 24. November 1993 - 6
RKa 36/92 -), aus dieser könne nicht gefolgert werden, dass die Zulassung in Härtefällen im Ermessen der
Zulassungsgremien liege oder ihnen zumindest bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der unbilligen
Härte ein Beurteilungsspielraum eingeräumt sei. Mithin unterliegt die Entscheidung des Beklagten der
uneingeschränkten Überprüfung durch den Senat. Weiterhin hat das Bundessozialgericht in dem genannten Urteil
betont, dass unter die Härtefallregelung vor allem solche Ärzte fielen, die aus wirtschaftlichen Gründen weiterhin
zwingend auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen seien, um eine ausreichende Altersversorgung aufzubauen. Was unter
dem Begriff der unbilligen Härte zu verstehen ist, kann nach diesem Urteil nur aus dem Gesamtzusammenhang und
dem Zweck des § 25 Ärzte ZV erschlossen werden. In der Begründung des Regierungsentwurfes zum GRG
(Bundestagsdrucksache 11/2237 S. 195 zu § 106 Abs. 2) wird die Einführung der Altersgrenze von 55 Jahren damit
gerechtfertigt, dass einerseits der Zustrom älterer Ärzte die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung
gefährde, andererseits der betroffene Personenkreis ein abgeschlossenes vollständiges Berufsleben hinter sich habe
und deshalb, von Ausnahmen abgesehen, auf eine Kassenzulassung nicht mehr angewiesen sei. Wo ausnahmsweise
ein berechtigtes Interesse an der Teilnahme bestehe - als Beispiele werden Aussiedler und Ärzte aus der DDR sowie
Ärzte, die aus dem Krankenhaus ausscheiden mussten, genannt -, bleibe die Möglichkeit einer Zulassung aufgrund
der Härteklausel erhalten. Aus diesen Erwägungen wird deutlich, dass nicht etwa schon die Unmöglichkeit, außerhalb
der vertragsärztlichen Tätigkeit eine der persönlichen Selbstverwirklichung dienende berufliche Bestätigung zu finden,
eine unbillige Härte begründen kann, zumal dann die Regelung weitgehend leerliefe (BSG ebenda). Danach sind
ausschließlich wirtschaftliche Gesichtspunkte bei der Härtefallregelung maßgeblich. Persönliche Aspekte wie der hier
geltend gemachte Gesundheitszustand des Beigeladenen zu 5) und der krankheitsbedingte Umzug seiner Familie
bleiben außer Betracht. Auch eine neuere Entscheidung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 29. September 1999 -
B 6 KA 22/99 R) bestätigt dies. Dort wird verlangt, dass der Arzt in dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht aus wirtschaftlichen Gründen existentiell auf die Ausübung der
vertragsärztlichen Tätigkeit angewiesen ist. Nach dieser Rechtsprechung, der der Senat folgt, hat der Beigeladene zu
5) keinen Zulassungsanspruch, weil er am Tage der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Arbeitsplatz
innehatte. Auch wenn er jetzt in Altersteilzeit tätig ist und die leitende Funktion aufgeben musste, ist seine
wirtschaftliche Existenz nicht bedroht. Das Bundessozialgericht hat den betreffenden Arzt in der oben genannten
Entscheidung sogar auf die vorgezogene Altersrente (mit Abschlägen) verwiesen, auf die auch der Beigeladene zu 5)
Anspruch bei Aufgabe seiner jetzigen Tätigkeit hätte. Das Bundessozialgericht hat bislang unabhängig von
wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine unbillige Härte bei Ärzten nur dann in Betracht gezogen, wenn sie ihre
vertragsärztliche Tätigkeit unfreiwillig, etwa wegen Krankheit oder aus anderen zwingenden Gründen, aufgeben
mussten und später, nachdem diese Umstände weggefallen sind, wieder zugelassen werden wollten (BSG, oben
genanntes Urteil vom 24. November 1993). Da der Beigeladene zu 5) noch nie zugelassen war, kommt eine unbillige
Härte aus diesen oder vergleichbaren Gründen schon deshalb hier nicht in Betracht. Daher hat er keinen Anspruch auf
Zulassung.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 20. März 2001 (1 BvR 491/96) keine Bedenken an der
dargestellten näheren Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs "unbillige Härte" durch die vom Senat
übernommene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts geäußert. Da eine unbillige Härte in diesem Sinne nicht
vorliegt, hat die Berufung der Klägerin Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen zur Klärung der Rechtsfrage, ob
außer wirtschaftlichen Gesichtspunkten auch andere persönliche Gründe die Annahme einer unbilligen Härte im Sinne
von § 25 Ärzte-ZV rechtfertigen.