Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 19.04.2010

LSG Shs: klinik, stationäre behandlung, unmittelbare lebensgefahr, hauptsache, form, adipositas, rechtsschutz, psychotherapie, sachleistung, rehabilitation

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Beschluss vom 19.04.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Lübeck S 14 KR 116/10 ER
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht L 5 B 51/10 KR
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Lübeck vom 19. Februar 2010 wird
zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch im Beschwer- deverfahren nicht zu
erstatten.
Gründe:
I.
Im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes begehrt die Antragstellerin die Kostenübernahme für eine stationäre
Krankenhausbehandlung zur Gewichtsreduktion in der C.-Klinik B.M.-G ...
Die Antragstellerin ist 1961 geboren und bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Anlässlich einer Untersuchung in
der C.-Klinik am 6. Oktober 2009 wurde bei ihr ein Gewicht von 144 kg bei einer Größe von 1,73 m (BMI 49 kg/m²)
festgestellt. In der Zusammenfassung des Berichtes der C.-Klinik an die behandelnde Hausärztin Dr. L. heißt es, auch
die Klinik sehe eine Indikation für eine akutstationäre Behandlung im Rahmen ihres Adipositaskonzeptes, das eine
Behandlung durch ein multiprofessionelles Team vorsehe. Die Antragstellerin könne aufgenommen werden, sobald die
Kostenübernahme geklärt sei. Es werde mit einer Gesamtbehandlungsdauer von sechs Wochen gerechnet.
Die Antragsgegnerin lehnte mit Bescheid vom 19. Oktober 2009 den von der Antragstellerin gestellten Antrag auf
Kostenübernahme mit der Begründung ab, der M.D.K (MDK) habe eine Ernährungstherapie mit ärztlicher Begleitung in
ambulanter Form als ausreichend angesehen. Hiergegen legte die Antragstellerin Widerspruch ein und einen Bericht
ihrer Hausärztin Dr. L. vom 9. November 2009 vor. Die Antragsgegnerin holte ein erneutes Gutachten des MDK vom
15. Dezember 2009 ein. Anschließend beantragte die Antragstellerin bei der Deutschen Rentenversicherung Bund eine
Leistung zur medizinischen Rehabilitation, die diese mit Bescheid vom 5. Januar 2010 und der Begründung ablehnte,
erforderlich sei eine akutstationäre Behandlung, nicht jedoch eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation. Es liege
auch keine Rehabilitationsbedürftigkeit nach den Leistungsgesetzen eines anderen Rehabilitationsträgers vor.
Am 10. Februar 2010 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Lübeck beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für eine stationäre
Krankenhausbehandlung in der C.-Klinik B.M.-G. wegen Gewichtsreduktion zu übernehmen.
Zur Begründung hat sie ausgeführt: Ermessenserwägungen seien von der Antragsgegnerin bisher nicht angestellt
worden, obwohl das Verwaltungsverfahren bereits länger als drei Monate dauere und deswegen bereits eine
Untätigkeitsklage beim Sozialgericht Lübeck habe anhängig gemacht werden müssen. Ein Anspruch ergebe sich
bereits aus § 43 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) als vorläufige Leistung des zunächst angegangenen
Sozialleistungsträgers, da sie unstreitig einen Anspruch auf stationäre Krankenhausbehandlung habe. Es ergebe sich
auch ein Anspruch aus § 14 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) gegenüber der Antragsgegnerin als zuerst
angegangener Rehabilitationsträger. Sie, die Antragstellerin bedürfe aufgrund ihres fortgeschrittenen Krankheitsbildes
in Form einer psychogenen Essstörung und einer Adipositas III mit Verschleißerkrankungen einer zügigen stationären
Krankenhausbehandlung im Rahmen eines Adipositaskonzeptes. Es liege zwar keine unmittelbar lebensbedrohliche
Erkrankung vor. Auf der anderen Seite sei ein weiteres Zuwarten im Rahmen der Durchführung eines
Hauptsacheverfahrens nicht zumutbar.
Die Antragsgegnerin hat vorgetragen, eine Dringlichkeit sei nicht zu erkennen. So bestehe das Übergewicht schon
viele Jahre und eine akute Erkrankung liege nicht vor. Ein Anordnungsanspruch liege ebenfalls nicht vor, wie sich aus
dem Gutachten des MDK vom 15. Dezember 2009 ergebe. Die Antragstellerin hat erwidert, in einem
Widerspruchsverfahren werde voraussichtlich nicht anders entschieden, da der Sachbearbeiter der Antragsgegnerin
Herr K. die Entscheidung, einen Kostenübernahmeanspruch abzulehnen, mit seinem Vorgesetzten abgesprochen
habe. Es werde angeregt, ein fachpsychologisches Sachverständigengutachten einzuholen.
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 19. Februar 2010 den Antrag abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, es
fehle sowohl an einem Anordnungsanspruch als auch an einem Anordnungsgrund. Zwar habe die Hausärztin
geschildert, dass ihre ambulanten Möglichkeiten ausgeschöpft seien. Auf die Alternativen einer ambulanten oder
stationären Rehabilitationsmaßnahme sei sie jedoch nicht eingegangen. So werde z. B. nicht dargestellt, warum
aktuell eine erneute ambulante Psychotherapie aussichtslos sein solle. Die letzte liege immerhin schon fast zehn
Jahre zurück. Gravierende Folgeerkrankungen mit der Notwendigkeit einer umgehenden stationären Behandlung seien
weder in dem Bericht der Hausärztin noch in dem der C.-Klinik beschrieben. Daher sei die Stellungnahme des MDK
vom 15. De¬zember 2009 plausibel und nachvollziehbar. Der Anspruch aus § 14 Abs. 1 SGB IX komme schon
deshalb nicht zum Tragen, weil die Antragstellerin ausdrücklich Kostenübernahme für die verordnete stationäre
Krankenhausbehandlung begehre. Es fehle auch an dem Anordnungsgrund, da die Antragstellerin nicht akut gefährdet
sei und sie mit dem Übergewicht schon viele Jahre lebe. Aus diesen Gründen sei es der Antragstellerin zuzumuten,
ihren Anspruch gegebenenfalls im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens zu verfolgen.
Gegen den ihr am 24. Februar 2010 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin,
eingegangen beim Sozialgericht Lübeck am 18. März 2010. Darin trägt sie ergänzend vor, der Gesetzgeber habe dem
Krankenhaus und nicht der Antragsgegnerin die Pflicht auferlegt, vor der Aufnahme die
Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit zu überprüfen. Im Zweifel sei der Einschätzung des Krankenhausträgers zu
folgen. Erst wenn sich eine solche als unbillig erweise, entfalle die Vergütungspflicht der Antragsgegnerin. Auf die
Einschätzung des MDK komme es daher nicht entscheidend an. Zwar liege keine unmittelbare Lebensgefahr bei ihr
vor, es handele sich jedoch um eine schwere Ausprägungsform einer psychogenen Essstörung. Auf ein langjähriges
Hauptsacheverfahren könne sie nicht verwiesen werden.
Die Antragsgegnerin bleibt bei ihrer Auffassung, dass eine stationäre Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit bei der
Antragstellerin weder notwendig sei noch ein Anordnungsgrund für eine einstweilige Anordnung vorliege.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet. Der Beschluss des Sozialgerichts
Lübeck vom 19. Februar 2010 ist nicht zu beanstanden. Die Antragstellerin hat keinen Anspruch darauf, dass die
Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet wird, die Kosten für eine stationäre
Krankenhausbehandlung zur Gewichtsreduktion in der C.-Klinik zu übernehmen.
Zutreffend gibt das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss die Voraussetzungen für den Erlass einer
einstweiligen Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz
(SGG), die hierfür maßgebende Norm, wieder. Danach reicht es nicht allein aus, dass ein Anspruch auf eine
bestimmte Leistung glaubhaft gemacht wird, sondern hinzukommen muss noch die Eilbedürftigkeit, die es im Rahmen
des Anordnungsgrundes ermöglicht, vorgezogen vor ein Hauptsacheverfahren eine gerichtliche Entscheidung über
eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Kostenübernahme zu erhalten. Darüber hinaus ergibt sich bereits aus der
Bezeichnung der "einstweiligen" Anordnung, dass die Entscheidung in einem solchen Verfahren die Hauptsache
grundsätzlich nicht vorwegnehmen darf (vgl. etwa Keller in Meyer-Ladewig u. a., SGG-Kommentar, § 86b Rz. 31;
Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens V, 41). Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt
etwa dann vor, wenn eine begehrte Sachleistung in Form einer einstweiligen Anordnung erbracht wird.
Auf eine solche Sachleistung ist der Antrag der Antragstellerin im Ergebnis gerichtet, nämlich die stationäre
Behandlung in der C.-Klinik über die Dauer von ca. sechs Wochen. Das bedeutet allerdings nicht, dass einstweilige
Anordnungen, die auf eine solche Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet sind, stets ausgeschlossen sind. Da der
vorläufige Rechtsschutz als verfassungsrechtliche Notwendigkeit in jedem Verfahren gewährt werden muss, darf eine
einstweilige Anordnung in solchen Fällen dann ausnahmsweise getroffen werden, wenn die Antragstellerin eine
Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr rechtzeitig erwirken kann. In dem Fall ist allerdings ein strenger Maßstab
an Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund anzulegen (Beschluss des Senats vom 27. Oktober 2009 – L 5 B
486/09 KR ER, ebenfalls zur Behandlung eines Übergewichts). Diesen damit zu fordernden hohen Grad an
Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren hat das Sozialgericht mit zutreffender
Begründung, auf die der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG verweist,
verneint. Gleiches gilt hinsichtlich des Anordnungsgrundes. Auch im Hinblick auf das Vorbringen im
Beschwerdeverfahren der Antragstellerin weist der Senat ergänzend auf Folgendes hin:
Die Antragstellerin verkennt die Rechtslage hinsichtlich des Anspruchs auf Krankenhausbehandlung nach dem
Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V) und die dazu bestehende sozialgerichtliche Rechtsprechung, wenn sie der
Auffassung ist, dass an die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit relativ niedrige Anforderungen zu stellen seien und
im Zweifel der Einschätzung des Krankenhausträgers zu folgen sei. Die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit im
Sinne des § 39 SGB V setzt voraus, dass die Behandlung der Versicherten den Einsatz der besonderen Mittel eines
Krankenhauses erforderlich macht. Der Zahlungsanspruch des Krankenhauses, auf den die Antragstellerin verweist,
entsteht unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistungen durch die Patienten nur dann, wenn deren
Krankenhausbehandlung objektiv notwendig ist. Ob dies der Fall ist, ist zwar nicht im Wege einer nachträglichen
Betrachtung zu beantworten, sondern aus einer Vorausschau (ex ante). Entscheidend ist der im
Behandlungszeitpunkt verfügbare Wissens- und Kenntnisstand des verantwortlichen Krankenhausarztes. Kriterien für
die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit sind aber stets medizinische Erfordernisse. Dabei ist nach den objektiven
medizinischen Befunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Beurteilung vorzunehmen. Eine Zweifelsregelung
oder eine fehlende Verpflichtung der Krankenkasse erst bei "Unbilligkeit" gibt es nicht (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 10.
April 2008 – B 3 KR 19/05 R = SozR 4 2500 § 39 Nr. 12).
Unzutreffend ist auch die Auffassung der Antragstellerin, auf die Einschätzung des MDK komme es nicht an. So
bestimmt etwa § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, dass die Krankenkassen unter Umständen verpflichtet sind, bei Erbringung
von Leistungen, insbesondere zur Prüfung von Voraussetzung, Art und Umfang der Leistung, eine gutachtliche
Stellungnahme des MDK einzuholen. Abs. 1c der Vorschrift zeigt deutlich, dass hiervon auch die
Krankenhausbehandlung erfasst wird. Die medizinischen Gründe, die hier gegen eine stationäre
Krankenhausbehandlung sprechen, sind vom Sozialgericht unter Berücksichtigung sowohl der Berichte der Hausärztin
der Antragstellerin und der C.-Klinik auf der einen Seite und dem Gutachten des MDK auf der anderen Seite verwertet
worden. Mit dem Sozialgericht vermag auch der beschließende Senat nicht zu erkennen, dass eine ambulante
Psychotherapie bei dem vorliegenden von der Antragstellerin beschriebenen Krankheitsbild der schweren
Ausprägungsform einer psychogenen Essstörung voraussichtlich erfolglos sein wird.
Von einer sicheren medizinischen Indikation der stationären Krankenhausbehandlung geht offensichtlich auch nicht
die C.-Klinik aus, da sie die Behandlung der Antragstellerin von einer vorherigen Kostenübernahmeerklärung der
Antragsgegnerin abhängig macht.
Überdies vermag der Senat auch in Übereinstimmung mit dem Sozialgericht nicht einen Anordnungsgrund zu
erkennen. Wie die Antragstellerin selbst in ihrer Beschwerdebegründung zutreffend vorträgt, fordert der vorläufige
Rechtsschutz schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die
Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Das gilt, worauf bereits oben hingewiesen wurde,
insbesondere bei einer Vorwegnahme der Hauptsache wie hier. Solche schweren und unzumutbaren Nachteile vermag
der Senat ebenfalls nicht zu erkennen. Bei der Antragstellerin besteht, wie sich aus sämtlichen medizinischen
Äußerungen und dem Vortrag der Antragstellerin selbst ergibt, die Adipositas bereits seit vielen Jahren. Schwere, akut
zu behandelnde Erkrankungen aufgrund dieser erheblichen Adipositas liegen bisher nicht vor. Überdies scheint die
Therapie bei der Hausärztin von einem zumindest gewissen Erfolg zu sein, wenn die Antragstellerin nunmehr an
Gewicht abnimmt.
Die Beschwerde ist daher mit der auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG beruhenden
Kostenentscheidung zurückzuweisen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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