Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 14.03.2017

LSG Schleswig-Holstein: hinterbliebenenrente, witwenrente, echte rückwirkung, teleologische auslegung, auszahlung, bfa, begriff, gleichbehandlung, rechtsgrundlage, inhaber

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Gericht:
Schleswig-
Holsteinisches
Landessozialgericht
5. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
L 5 KN 5/03
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 46 SGB 6, § 22b Abs 1 S 1
FRG vom 21.07.2004, § 22b
Abs 1 S 1 FRG vom
16.12.1997, § 1 FRG, § 14 FRG
Fremdrentenrecht - Verfassungsmäßigkeit der echten
Rückwirkung des 22b FRG idF des RVNG -
Entgeltpunktekürzung
Leitsatz
1. Die retroaktive Rückwirkung des § 22b FRG ist verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden.
2. Eine verwitwete Spätaussiedlerin erhält eine bedarfsorientierte Sozialleistung, deren
Höhe sich nach maximal 25 Entgeltpunkten richtet.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 4. Juni
2003 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die der Klägerin nach dem
Fremdrentengesetz (FRG) dem Grunde nach zuerkannte große Witwenrente
auszuzahlen hat.
Die 1924 geborene Klägerin lebte zusammen mit ihrem Ehemann, dem 1918
geborenen und 1995 verstorbenen Versicherten Heinrich L., als deutsche
Volkszugehörige in der ehemaligen Sowjetunion/GUS/Russland. Am 27. Oktober
2000 übersiedelte sie in die Bundesrepublik Deutschland. Sie ist laut
Bescheinigung nach § 15 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) der
Landeshauptstadt Kiel vom 1. Februar 2001 als Spätaussiedlerin i. S. d. § 4 BVFG
anerkannt.
Mit Bescheid vom 23. November 2001 bewilligte ihr die
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) Regelaltersrente (RAR) aus
eigener Versicherung ab 27. Oktober 2000. Dieser Rente lagen Entgeltpunkte (EP)
für FRG-Zeiten zu Grunde, die nach § 22 b FRG auf 25 begrenzt angerechnet
wurden.
Am 10. November 2000 stellte die Klägerin einen Antrag auf Hinterbliebenenrente.
Mit Bescheid vom 14. Juni 2001 entschied die Beklagte, dass ein Anspruch auf
große Witwenrente dem Grunde nach bestehe, eine Rente jedoch nicht gezahlt
werde, weil anrechenbare Zeiten nach dem FRG auf 25 EP begrenzt seien und
diese bereits in der von der BfA gewährten RAR berücksichtigt würden.
Mit ihrem deswegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend: Sie und
ihr Ehemann hätten ein Leben lang gearbeitet. Eine Rente in Höhe von 584,76 €
sei dafür zu wenig.
Mit Widerspruchsbescheid vom 20. März 2002 wies die Beklagte den Widerspruch
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Mit Widerspruchsbescheid vom 20. März 2002 wies die Beklagte den Widerspruch
zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus: Gemäß § 97 des
Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) habe eine Anrechnung von
Einkommen auf Renten wegen Todes zu erfolgen. Die von der BfA gezahlte RAR sei
als Einkommen im Sinne von § 18a des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches
(SGB IV) zu berücksichtigen. Auf Grund der durch § 22 b FRG gesetzlich
vorgeschriebenen Begrenzung von Renten aus FRG-Zeiten gelange die große
Witwenrente nicht zur Auszahlung.
Wegen dieses Bescheides hat die Klägerin am 5. April 2002 Klage bei dem
Sozialgericht (SG) Kiel erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ihr
Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt.
Sie hat beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 20. März 2002 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, ihr eine Witwenrente zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich im Wesentlichen auf die angefochtenen Bescheide bezogen.
Das SG hat die Beklagte durch Urteil vom 4. Juni 2003 unter Aufhebung der
angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen nach
ihrem verstorbenen Ehemann zu gewähren, begrenzt auf insgesamt 40 EP aus
ihrer eigenen Rente und den Hinterbliebenenleistungen. Im Übrigen hat es die
Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es im Wesentlichen
ausgeführt: Bei den nach § 22 b FRG gezahlten Renten handele es sich
grundsätzlich weiterhin um Renten, die wie üblich zu ermitteln seien und die
lediglich in der Höhe begrenzt seien. Die Begrenzung auf höchstens 25 EP gelte
nach dem Wortlaut des § 22 b FRG nur für die eigenen Renten des Betroffenen,
nicht aber für Renten, die auf den Beitragszeiten Dritter beruhten. Nur wenn die
Renten nach den FRG eine reine Fürsorgeleistung wären, wäre eine andere
Auslegung möglich. Hiergegen spreche jedoch, dass diese Renten - von der
Höchstbegrenzung abgesehen - wie ganz normale Renten ermittelt würden. Die
Einbeziehung von Hinterbliebenenleistungen in die Regelung über die Begrenzung
der Renten auf höchstens 25 EP werde dem Zweck der Hinterbliebenenrente,
nämlich einem gesetzlich unterstellten und nicht konkret nachzuweisenden Ausfall
der Unterhaltsleistung durch den verstorbenen Versicherten zu kompensieren,
nicht gerecht. Die von der Beklagten vorgenommene Begrenzung sei damit nicht
gerechtfertigt. Allerdings sei in entsprechender Anwendung des § 22 b Abs. 3 FRG
die Höhe der beiden Renten zusammen auf insgesamt 40 EP zu begrenzen. Es
widerspreche dem Gleichheitsgrundsatz, wenn eine Hinterbliebene insgesamt
höhere Rentenleistungen erhalten könne, als sie ihr und ihrem verstorbenen
Ehemann zu dessen Lebzeiten hätten zustehen können.
Gegen dieses am 28. Juli 2003 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit ihrer
Berufung, welche am 27. August 2003 bei dem Schleswig-Holsteinischen
Landessozialgericht eingegangen ist. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen
vor: Nach Auffassung der Rentenversicherungsträger regele § 22 b Abs. 1 Satz 1
FRG auch die Begrenzung auf insgesamt 25 EP beim Zusammentreffen von
Versicherten- und Hinterbliebenenrenten. Die Gesetzesbegründung stelle darauf
ab, dass sich durch § 22 b FRG der Rentenanteil aus Zeiten nach dem FRG für
Berechtigte, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt ab dem 7. Mai 1996 in Deutschland
genommen hätten oder noch nähmen, an der Höhe der Eingliederungshilfe, bei
Ehepartnern und Berechtigten, die in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebten, am
1,6fachen der Eingliederungshilfe orientiere. Die Höhe der Eingliederungshilfe, die
arbeitslosen Spätaussiedlern sechs Monate lang gewährt werden könne,
entspreche in etwa einer Monatsrente aus 25 EP. Für Ehepartner und für in
eheähnlicher Gemeinschaft lebende Personen sollten die Renten aus FRG-Zeiten
auf zusammen höchstens 40 EP begrenzt werden. Es sei nicht ersichtlich, dass der
Gesetzgeber Hinterbliebene anders habe behandeln wollen als andere
Alleinstehende. Würde man § 22 b Abs. 1 FRG nur auf die jeweilige Einzelrente
anwenden, so könnten Hinterbliebene insgesamt 50 EP als FRG-Zeiten erhalten.
Deren FRG-Renten würden damit - nach Berücksichtigung des Rentenartfaktors für
die Witwen- bzw. Witwerrenten von 0,6 - den Gesamtrenten von Verheirateten
entsprechen. Für eine solche Besserstellung ergebe sich kein sachlich
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entsprechen. Für eine solche Besserstellung ergebe sich kein sachlich
gerechtfertigter Grund. Eine Orientierung an der Höhe der Eingliederungshilfe sei
bei Alleinstehenden vielmehr nur dann gewährleistet, wenn die Begrenzung auf 25
EP für alle FRG-Renten gelte. § 22 b Abs. 1 Satz 3 FRG bestimme in diesem
Zusammenhang die vorrangige Berücksichtigung der EP aus der Rente mit dem
höheren Rentenartfaktor. Die Vorschrift ergebe nur Sinn, wenn sie sich auf das
Zusammentreffen von Versicherten- und Hinterbliebenenrenten, also Renten
unterschiedlicher Art, beziehe. Eine Gleichbehandlung von
Hinterbliebenenrentnern mit eigenen Ansprüchen bzw. ohne eigene Ansprüche auf
Versichertenrente existiere selbst im allgemeinen Rentenrecht nicht. Durch die
Einkommensanrechnung könne auch dort die Versichertenrente zur Minderung der
Hinterbliebenenrente bis auf "0" führen. Die vergleichbaren Personengruppen
seien nicht an der Art der Rentenansprüche zu messen, sondern an der
Stichtagsregelung (Zuzug nach Deutschland bis zum 6. Mai 1996 oder später) und
der daraus resultierenden Nichtanwendung oder Anwendung des § 22 b FRG. Im
letztgenannten Falle orientierten sich die Rentenleistungen am Bedarf. Dieser
werde von der Person bestimmt und sei unabhängig davon, wie viele einzelne
Rentenansprüche sie besitze. Es seien folglich keine aus Wortlaut, Sinn und Zweck
oder Systematik des SGB VI bzw. FRG herzuleitenden Gründe ersichtlich, die einer
Kürzung der FRG-EP in der Hinterbliebenenrente beim Zusammentreffen mit einer
Versichertenrente entgegenstünden. Die rückwirkende Änderung des § 22 b Abs. 1
Satz 1 FRG zum 7. Mai 1996 durch das Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen
Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-
Nachhaltigkeitsgesetz) vom 21. Juli 2004 (BGBl. I, S. 1791) bestätige die
Rechtsauffassung der Beklagten. Nach der Amtlichen Begründung handele es sich
um eine Klarstellung.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 4. Juni 2003 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und verweist auf dessen
Entscheidungsgründe. Ergänzend trägt sie vor: Es sei höchstrichterlich
unmissverständlich klargestellt worden, dass § 22 b FRG auf Grund der besonderen
Funktion der Hinterbliebenenrente nicht zur Anwendung komme, wenn eine solche
mit einem Recht auf Rente aus eigener Versicherung zusammentreffe. Die Witwe
eines "Spätaussiedlers", noch dazu eine deutsche Staatsangehörige, dürfe nicht
anders behandelt werden als Witwen anderer Personen. Aus § 22 b Abs. 1 Satz 1
FRG ergebe sich nichts anderes. Hier gehe es nämlich um anrechenbare Zeiten
nach diesem Gesetz. Die große Witwenrente der Klägerin beruhe jedoch nicht auf
anrechenbaren Zeiten nach diesem Gesetz, sondern auf der Rente des
Ehemannes. Es sei daher § 46 SGB VI anzuwenden. Es sei nicht haltbar, dass die
Beklagte entgegen einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) das
Gesetz immer noch anders interpretiere mit der schlichten Begründung, dass die
höchstrichterliche Auffassung als nicht zutreffend erachtet werde. § 22 b Abs. 1
Satz 1 FRG i. d. F. durch das RV-Nachhaltigkeitsgesetz sei nicht anwendbar. Diese
Norm sei verfassungswidrig. Der Anspruch der Klägerin auf große Witwenrente sei
bereits bestandskräftig festgestellt worden und dadurch unter den Schutz des Art.
14 Grundgesetz (GG) gefallen. Es handele sich nach wie vor nicht um einen
Anspruch aus dem FRG, sondern um einen Versorgungsanspruch. Der
Gesetzgeber habe auch nicht die Kompetenz, über die Auslegung einer Norm
rückwirkend zu bestimmen. Er habe eine Regelung mit echter Rückwirkung
geschaffen, die sich an den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des
Vertrauensschutzes messen lassen müsse. Den insoweit zu beachtenden Kriterien
werde sie nicht gerecht.
Die die Klägerin betreffenden Gerichts- und Verwaltungsakten haben dem Senat
vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen. Auf ihren Inhalt wird
wegen weiterer Einzelheiten verwiesen.
Entscheidungsgründe
A. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne
mündliche Verhandlung (§ 124 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
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B. Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist statthaft (vgl. § 143 SGG) und
bedarf keiner Zulassung, weil sie laufende Rentenleistungen für mehr als ein Jahr
betrifft (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Frist und Form (vgl. §§ 151 Abs. 1, 64 Abs. 1
SGG) sind gewahrt.
C. Zu entscheiden ist nur noch darüber, ob die Beklagte die Auszahlung der
großen Witwenrente der Klägerin ablehnen darf, weil diese bereits RAR aus eigener
Versicherung bezieht, welche der Höhe nach einer Rente mit 25 EP entspricht.
Dass der Anspruch der Klägerin aus eigener Versicherungsrente und abgeleiteter
Hinterbliebenenrente zumindest auf 40 EP begrenzt ist, ist hingegen nicht mehr
streitbefangen, weil die insoweit beschwerte Klägerin gegen das Urteil des SG
keine Berufung eingelegt hat.
Die Berufung der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil vom 4. Juni
2003 hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des
SG verletzt der Bescheid vom 14. Juni 2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 20. März 2002 die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Die Beklagte hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin ein Anspruch auf
Auszahlung von Hinterbliebenenrente nicht zusteht.
Hat die Beklagte – wie hier – einen Anspruch auf große Witwenrente dem Grunde
nach bindend festgestellt, so folgt daraus grundsätzlich der Anspruch der Witwe
auf Auszahlung der Leistung. Die Beklagte darf diese nur verweigern, wenn ihr
hierfür eine Rechtsgrundlage zur Verfügung steht. Das ist hier der Fall.
I. Da die Klägerin als Spätaussiedlerin i. S. d. § 4 BVFG anerkannt ist, richtet sich
ihr Begehren nach dem FRG (vgl. § 1 Buchst. a FRG).
Rechtsgrundlage der Entscheidung der Beklagten ist § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG i. d.
F. (nachfolgend: n. F.) durch Art. 9 Nr. 2 des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes. Diese
Vorschrift ist gemäß Art. 15 Abs. 3 des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes rückwirkend
zum 7. Mai 1996 in Kraft getreten. Sie ersetzt mithin nach dem Willen des
Gesetzgebers den zuvor - ebenfalls mit Rückwirkung zum 7. Mai 1996 - durch Art.
3 Nr. 5, Art. 12 Abs. 2 des Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr
Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und
Arbeitsförderung (Wachstums- und Beschäftigungsgesetz – WFG) vom 25.
September 1996 (BGBl. I, S. 1461) eingeführten und durch Art. 12 Nr. 2, Art. 33
Abs. 7 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung
(Rentenreformgesetz 1999 – RRG 1999) vom 16. Dezember 1997 (BGBl. I. S.
2998) um Abs. 1 Satz 3 ergänzten ursprünglichen § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG
(nachfolgend. a. F.) von Anfang an.
Nach § 22 b Abs. 1 Satz 1 n. F. FRG werden für anrechenbare Zeiten nach diesem
Gesetz für Renten aus eigener Versicherung und wegen Todes eines Berechtigten
insgesamt höchstens 25 EP der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten
zugrundegelegt. Bei Berücksichtigung dieser Regelung steht der Klägerin, die
bereits RAR aus eigener Versicherung bezieht, der 25 EP zugrunde liegen, deshalb
kein Anspruch auf Auszahlung von großer Witwenrente zu. Hierüber besteht
zwischen den Beteiligten zu Recht kein Streit.
II. Nach Auffassung des Senats ist § 22 b Abs. 1 Satz 1 n. F. FRG im vorliegenden
Falle auch anzuwenden.
Allerdings stellt sich die Neufassung der Vorschrift durch Art. 9 Nr. 2 des
Rentenversicherungsnachhaltigkeitsgesetzes und insbesondere ihre rückwirkende
Inkraftsetzung durch Art. 15 Abs. 3 des
Rentenversicherungsnachhaltigkeitsgesetzes als eine sog. retroaktive Rückwirkung
dar. Ob diese als echte Rückwirkung (vgl. die Rspr. des 1. Senat des BVerfG -
BVerfGE 57, 361, 391; 63, 152, 175; 72, 175, 196; 89, 48, 66) oder als
Rückbewirkung von Rechtsfolgen (vgl. die Rspr. des 2. Senats des BVerfG -
BVerfGE 63, 343, 353; 72, 302, 321) zu bezeichnen ist, kann dahinstehen. Denn
auch unter Zugrundelegung der formaleren Betrachtungsweise (vgl. hierzu im
einzelnen Papier in SGb 1994, 105, 107) liegt hier eine retroaktive Rückwirkung vor.
Das gilt unabhängig davon, ob § 22 b Abs. 1 Satz 1 n. F. FRG als Neuregelung oder
– wie in der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 15/2149, S. 31 zu Art. 8 Nr. 2) –
als Klarstellung hinsichtlich der Anwendung des § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG
verstanden wird. Eine Rechtsnorm entfaltet immer dann Rückwirkung, wenn der
Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs normativ auf einen Zeitpunkt
festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem diese Norm rechtlich existent,
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festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem diese Norm rechtlich existent,
also gültig wird. Die maßgebliche Grenze stellt bei dieser Betrachtungsweise der
Zeitpunkt der Verkündung des Gesetzes dar. Liegt der Beginn des zeitlichen
Anwendungsbereichs eines Gesetzes vor diesem Zeitpunkt, so handelt es sich um
ein rückwirkendes Gesetz. Das ist hier der Fall. Durch Art. 15 Abs. 3 des RV-
Nachhaltigkeitsgesetzes wird der zeitliche Anwendungsbereich der Vorschrift
normativ auf den 7. Mai 1996 festgelegt, also auf einen Zeitpunkt, der vor
Verkündung des Gesetzes am 26. Juli 2004 lag.
Die retroaktive Rückwirkung eines Gesetzes ist nur ausnahmsweise
verfassungsrechtlich zulässig. Im Falle des § 22 b Abs. 1 Satz 1 n. F. FRG ist sie
nach Auffassung des Senats ausnahmsweise gerechtfertigt, weil sie die zuvor
bestehende Rechtslage nicht ändert (nachfolgend unter 1) und selbst dann, wenn
dies der Fall wäre, kein Vertrauensschutz der Klägerin bestünde (nachfolgend
unter 2).
1) Vor Inkrafttreten des § 22 b Abs. 1 Satz 1 n. F. FRG richtete sich der streitige
Anspruch nach § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG. Diese Vorschrift war im Falle der
Klägerin anwendbar, weil diese ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland nicht vor dem 7. Mai 1996 genommen hat (vgl. Art. 6
§ 4b des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes i. d. F. durch
Art. 4 Nr. 3 WFG).
Der Senat ist weiterhin der Überzeugung, dass auch die durch § 22 b Abs. 1 Satz 1
a. F. FRG angeordnete Begrenzung der anrechenbaren Zeiten nach dem FRG auf
25 EP nicht nur Renten aus eigener Versicherung betraf, sondern ebenso
vorzunehmen war, wenn dem Begünstigten neben einem Recht aus eigener
Versicherung ein abgeleitetes Recht auf Hinterbliebenenrente zustand (vgl. bereits
das Senatsurteil vom 12. Dezember 2002 - L 5 KN 2/02; ebenso: LSG NW vom 30.
Juli 2003 - L 8 RJ 64/03; LSG BW vom 29. Oktober 2003 – L 3 RJ 2485/03; SG
Mannheim vom 27. November 2002 - S 9 RJ 2074/02; SG Dortmund vom 24. März
2003 - S 46 (15) RJ 278/02; SG Düsseldorf vom 9. September 2003 - S 15 RJ
275/02; SG Berlin vom 29. März 2004 –S 18 KN 25/03). Der gegenteiligen
Auffassung (vgl. insbesondere: BSGE 88, 288; BSG vom 11. März 204 – B 13 RJ
44/03 R; BSG vom 7. Juli 2004 – B 8 KN 10/03 R, derzeit allerdings nur als
Vorabdokumentation zugänglich), wonach im letztgenannten Falle keine
Begrenzung der anrechenbaren Zeiten auf 25 EP stattfand, vermag er sich nicht
anzuschließen.
§ 22 b a. F. FRG lautete:
"(1) Für anrechenbare Zeiten nach diesem Gesetz werden für einen Berechtigten
höchstens 25 Entgeltpunkte der Rentenversicherung der Arbeiter und der
Angestellten zugrunde gelegt. Hierbei sind zuvor die Entgeltpunkte der
knappschaftlichen Rentenversicherung mit dem Wert 1,3333 zu multiplizieren.
Entgeltpunkte aus der Rente mit einem höheren Rentenartfaktor sind vorrangig zu
berücksichtigen. (2) Die Entgeltpunkte einer Rente mit anrechenbaren Zeiten nach
diesem Gesetz werden ermittelt, indem die Summe aller Entgeltpunkte um die
Entgeltpunkte vermindert wird, die sich ohne Berücksichtigung von anrechenbaren
Zeiten nach diesem Gesetz ergeben. (3) Bei Ehegatten und in einer eheähnlichen
Gemeinschaft lebenden Berechtigten, deren jeweilige Renten nach den Absätzen 1
und 2 festgestellt worden sind, werden höchstens insgesamt 40 Entgeltpunkte
zugrunde gelegt. Diese werden auf die Renten in dem Verhältnis aufgeteilt, in dem
die sich nach Anwendung von den Absätzen 1 und 2 jeweils ergebenden
Entgeltpunkte zueinander stehen, höchstens jedoch 25 Entgeltpunkte für einen
Berechtigten."
Gemäß § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG waren mithin für anrechenbare Zeiten nach
dem FRG für einen Berechtigten höchstens 25 EP der Rentenversicherung der
Arbeiter und der Angestellten zu Grunde zu legen. Da die Klägerin bereits RAR aus
eigenem Recht erhielt, welche der Höhe nach einer Rente mit 25 EP (bei
Anwendung eines Rentenartfaktors von 1,0; vgl. § 67 Nr. 1 SGB VI) entsprach,
konnte also die daneben bestehende - ausschließlich auf nach dem FRG
berechneten EP beruhende - große Witwenrente nicht zur Auszahlung kommen.
Anderenfalls wäre der Höchstwert von Leistungen auf der Grundlage von 25 EP
überschritten worden.
Dieses Normverständnis entspricht sowohl dem Wortlaut (nachfolgend unter a),
als auch dem Bedeutungszusammenhang (nachfolgend unter b), als auch den
Regelungsabsichten, Normvorstellungen und Zwecken des Gesetzgebers
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Regelungsabsichten, Normvorstellungen und Zwecken des Gesetzgebers
(nachfolgend unter c), als auch objektiv-teleologischen Kriterien, insbesondere
verfassungskonformer Auslegung (nachfolgend unter d). Es führt auch nicht dazu,
dass Hinterbliebene nur Inhaber eines "leeren Rechts auf Witwenrente" sind
(nachfolgend unter e).
a) Der - Ausgangspunkt und Grenzen der Auslegung bestimmende - Wortlaut des
§ 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG stand einer Anwendung der Vorschrift auf
Hinterbliebene nicht entgegen. Die gegenteilige Interpretation, wonach der dort
verwendete Begriff des „Berechtigten„ Hinterbliebene ausschließt (vgl. BSGE 88,
288; offengelassen in BSG vom 11. März 204 – B 13 RJ 44/03 R), hält der Senat
nach wie vor für unzutreffend (vgl. bereits das Senatsurteil vom 12. Dezember
2002 - L 5 KN 2/02). Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist unter einem
Berechtigten ohne weitere Eingrenzung jeder Inhaber eines Rechts zu verstehen.
Auf Grund und Ursprung des Rechts kommt es nicht an. Ein hiervon abweichender
besonderer gesetzlicher, insbesondere rentenrechtlicher Sprachgebrauch ist nicht
ersichtlich: Auch das SGB VI verwendet den Begriff des Berechtigten umfassend
für Versicherte und Hinterbliebene (vgl. §§ 110 ff. SGB VI). Dem FRG ist ebenfalls
nichts dafür zu entnehmen, dass der Gesetzgeber im Rahmen dieses Gesetzes
einen engeren Bedeutungsgehalt hat zugrundelegen wollen.
b) Aus dem Bedeutungszusammenhang zwischen § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG
und §§ 14, 14 a und 31 FRG sowie § 22 b Abs. 1 Satz 3 FRG musste vielmehr auf
das Gegenteil geschlossen werden.
(aa) In § 31 FRG werden als Berechtigte allgemein Personen bezeichnet, die eine
Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen. Das schließt
Anspruchsinhaber aus abgeleitetem Recht ein. § 14 regelt ausdrücklich, dass sich
"die Rechte und Pflichten der nach diesem Abschnitt Berechtigten grundsätzlich
nach den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden allgemeinen Vorschriften"
(d. h. denjenigen des SGB VI und des SGB IV) richten. Das kann - da einerseits
gemäß § 1 Buchst. e FRG auch Hinterbliebene zu dem durch das FRG begünstigten
Personenkreis zählen, andererseits der III. Abschnitt in der hier maßgeblichen, am
27. Oktober 2000 geltenden Fassung aber keine weiteren Vorschriften zu
Hinterbliebenenrenten enthielt – nicht anders verstanden werden, als dass auch
Hinterbliebene Berechtigte i. S. d. FRG sein sollen. Anderenfalls würde es an
jeglicher Rechtsgrundlage für Leistungen an diese fehlen. Die Richtigkeit der hier
vertretenen Auslegung wird schließlich durch den ab 1. Januar 2002 geltenden § 14
a Satz 2 FRG bestätigt, welcher Empfänger von Renten wegen Todes nunmehr
sogar ausdrücklich als Berechtigte bezeichnet.
Sind aber nach alledem im Rahmen der §§ 14, 14 a und 31 FRG auch
Hinterbliebene unter den Berechtigtenbegriff zu subsumieren, so verdient diese
Auslegung auch im Rahmen des § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG den Vorzug, weil sie
die Wahrung der sachlichen Übereinstimmung mit den genannten Vorschriften
desselben Gesetzes – hier sogar desselben Abschnitts – ermöglicht, welche
grundsätzlich anzustreben ist (vgl. dazu Larenz, Methodenlehre der
Rechtswissenschaft, 5. Auflage 1983, S. 310).
Das Normverständnis der Gegenansicht ließe sich deshalb nur bei ausdrücklicher
gesetzlicher Anweisung begründen. Eine solche Anweisung besteht jedoch nicht.
Sie ist – wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. das Senatsurteil vom 12.
Dezember 2002 - L 5 KN 2/02) - insbesondere nicht in der Verwendung des
Begriffs der EP zu sehen. Zwar handelt es sich hierbei grundsätzlich um eine
Rechengröße zur Berechnung von Versicherungsleistungen. Jedoch bedarf es ihrer
auch zur Berechnung von Hinterbliebenenleistungen. Im Rahmen des § 22 b Abs. 1
Satz 1 FRG dient sie überdies lediglich zur Definition des vom Gesetzgeber
vorgegebenen – und in rentenrechtlichen Maßstäben ausgedrückten – Bedarfs
(vgl. BT-Drucks. 13/8671, S. 121 zu Art. 12). Der Senat geht deshalb auch
weiterhin davon aus, dass der Gesetzgeber, hätte er eine
Anwendbarkeitsbegrenzung auf Renten aus eigener Versicherung regeln wollen,
dies nicht durch den Terminus "EP", sondern durch den Terminus "Versicherter"
verdeutlicht hätte (ebenso: LSG NW vom 30. Juli 2003 - L 8 RJ 64/03; LSG BW vom
29. Oktober 2003 - L 3 RJ 2485/03; SG Berlin vom 29. März 2004 - S 18 KN 25/03).
Aus der gesetzlichen Formulierung "anrechenbare Zeiten" in § 22 b Abs. 1 Satz 1
a. F. FRG folgt nichts anderes. Auch ihr ist nicht zu entnehmen, dass nur eigene
Zeiten erfasst werden und abgeleitete Zeiten außer Betracht bleiben sollen. Zwar
beruht der Wert der Hinterbliebenenrente nicht auf einer durch eigene
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beruht der Wert der Hinterbliebenenrente nicht auf einer durch eigene
Versicherungsleistung erworbenen individuellen Rangstelle, sondern leitet sich
entsprechend ihrer Unterhaltsersatzfunktion aus der Rente des Versicherten ab.
Auch die Bestimmung der Höhe der Hinterbliebenenrente setzt aber
notwendigerweise die Feststellung der "anrechenbaren Zeiten" voraus. Der weitere
Wortlaut des § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG ergibt dementsprechend lediglich, dass
anrechenbare Zeiten "nach diesem Gesetz", also alle FRG-Zeiten gemeint sind
(ebenso: LSG NW, LSG BW, SG Dortmund, SG Düsseldorf, SG Berlin a. a. 0.).
(bb) Darüber hinaus spricht auch die Existenz des § 22 b Abs. 1 Satz 3 FRG für die
Anwendung von § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG auf Hinterbliebenenrenten. Diese
Vorschrift bestimmt, dass EP aus der Rente mit einem höheren Rentenartfaktor
vorrangig zu berücksichtigen sind. Dabei stellt sie ausdrücklich auf einen Vergleich
der EP nach deren Zuordnung zu einer bestimmten Rente und nicht innerhalb
derselben Rente ab. Daher sind knappschaftliche Besonderheiten hinsichtlich der
EP mit abweichenden Rentenartfaktoren zu vernachlässigen, zumal bereits über §
22 b Abs. 1 Satz 2 FRG eine Angleichung vorgenommen werden muss. Es kommt
also auf einen Vergleich verschiedener Renten an. Insoweit wird aber das
Konkurrenzverhältnis von Renten aus eigener Versicherung bereits durch § 14 FRG
i. V. m. § 89 Abs. 1 SGB VI geregelt. Klärungsbedürftig ist daher lediglich das
Zusammentreffen von Versicherten- und Hinterbliebenenleistungen. Vor diesem
Hintergrund hätte es der weiteren Kollisionsvorschrift des § 22 b Abs. 1 Satz 3 FRG
nicht bedurft, wenn sie nicht auch Hinterbliebenenrenten hätte erfassen sollen.
Daraus folgt, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers auch nebeneinander zu
beanspruchende Renten aus eigenem und abgeleitetem Recht nach § 22 b Abs. 1
Satz 1 FRG begrenzt werden sollen (ebenso: LSG BW a. a. 0.; SG Berlin a. a. 0. m.
w. N.).
c) Auch bei Berücksichtigung der Regelungsabsichten, Normvorstellungen und
Zwecke des Gesetzgebers (sog. historisch-teleologische Auslegung) waren
Hinterbliebene als Berechtigte i. S. d. § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG anzusehen.
(aa) Das ergibt sich bereits aus der insoweit vorrangig zu berücksichtigenden
Gesetzesbegründung zu § 22 b a. F. FRG. Diese definiert zwar nicht den Begriff des
Berechtigten. Sie enthält jedoch sonstige Absichtserklärungen, aus denen sich
Folgerungen für die Begriffsausdeutung ziehen lassen.
Danach hat der Gesetzgeber mit der Einführung der Vorschrift einen
Systemwechsel hinsichtlich der Gewährung von FRG-Leistungen vornehmen wollen:
Bis zum 6. Mai 1996 waren Spätaussiedler so behandelt worden, als ob sie
während ihrer Erwerbstätigkeit im Aussiedlungsgebiet nach den Bestimmungen
des SGB VI beitragsrelevant versichert gewesen und anschließend beitragslos in
das deutsche Rentenversicherungssystem integriert worden wären. Deshalb wurde
der Wert ihres subjektiven Rechts auf Rente insbesondere nach den im
Erwerbsleben erreichten Arbeitsverdiensten und der sich auf dieser Grundlage
ergebenden Rangstelle bestimmt. Dieses sogenannte Eingliederungsprinzip
beruhte auf dem Gesichtspunkt der Solidarität der bundesdeutschen Versicherten
mit Arbeitnehmern, die infolge der Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs ihre
soziale Sicherung in den Herkunftsgebieten verloren hatten. Mit Wirkung vom 7.
Mai 1996 hat der Gesetzgeber hingegen die Beibehaltung des damit
einhergehenden hohen Rentenniveaus nicht länger als gerechtfertigt angesehen
und deshalb die FRG-Leistungen selbst für Berechtigte aus eigenem Recht nicht
mehr als Leistungen aus einer (fingierten) Rentenversicherung, sondern als
Fürsorgeleistungen konzipiert, die sich hinsichtlich der Leistungshöhe an der
Eingliederungshilfe auf dem Niveau einer bloßen Grundsicherung orientierten.
Lediglich hinsichtlich der Berechnung des Leistungsbetrages wurde auf die
rechtstechnische Fiktion einer Rentenversicherung zurückgegriffen (vgl. BT-Drucks.
13/4814, S. 7 zu A. Fremdrentenrecht, S. 8 zu B. Art. 2 Nr. 3; BSGE 88, 288).
Dieser gewollte und bezweckte Systemwechsel wäre gegenüber den
Hinterbliebenen (abgesehen von § 22 Abs. 4 FRG) rechtspraktisch nicht vollzogen
worden, wenn § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG so ausgelegt würde, dass er für Leistungen
an Hinterbliebene keine Geltung beanspruchte. In diesem Falle wären die - nach
den über § 14 FRG geltenden allgemeinen Bestimmungen des SGB VI der
Berechnung der Hinterbliebenenrente zu Grunde zu legenden - EP überhaupt nicht
zu begrenzen gewesen. Witwen hätten eine höhere Zahl an EP und (aufgrund des
Rentenartfaktors von 0,6 für große Witwenrente) zumindest eine gleich hohe
Leistung erhalten wie zu Lebzeiten ihrer Ehegatten. Eine solche Konsequenz hätte
in klarem Widerspruch zu der gesetzgeberisch vollzogenen Hinwendung zum
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in klarem Widerspruch zu der gesetzgeberisch vollzogenen Hinwendung zum
Fürsorgeprinzip gestanden (ebenso: SG Berlin a. a. O.). Sie wäre insbesondere
auch mit der ausdrücklich angeordneten Orientierung an der Eingliederungshilfe
nicht zu vereinbaren gewesen, welche – abgesehen davon, dass sie der Höhe nach
durch die Bedürftigkeit des Aussiedlers begrenzt ist (vgl. Radüge, in Hauck/Noftz,
SGB III, K § 418 Rz 14) - ebenfalls nicht an Witwen gewährt wird.
Im Rahmen der historisch-teleologischen Auslegung vorzuziehen ist aber diejenige
Interpretation, die – im Rahmen des Wortsinns und in Übereinstimmung mit dem
Bedeutungszusammenhang des Gesetzes - den Regelungsabsichten und
Normvorstellungen des Gesetzgebers sowie dem Gesetzeszweck am ehesten
entspricht (vgl. Larenz, a. a. O., S. 318, 329). Eine Addition von EP aus eigenem
und aus abgeleitetem Recht war nach alledem durch § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG
nur zugelassen, solange die für einen Alleinstehenden höchstens
zugrundezulegende Anzahl von 25 EP noch nicht erreicht war.
(bb) Angesichts dieses bereits aus originären Erkenntnisquellen gewonnenen
Ergebnisses hat der Senat keine Bedenken, zur Ermittlung der
Regelungsabsichten und Normvorstellungen des Gesetzgebers sowie des Zwecks
des § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG auch die Gesetzesbegründung zu § 22 b n. F.
FRG (vgl. BT-Drucks. 15/2149, S. 31 zu Art. 8 Nr. 2) ergänzend heranzuziehen.
Diese bestätigt unmissverständlich die hier vertretene Auslegung. Sie stellt klar,
dass nach dem Willen des Gesetzgebers (und entgegen BSGE 88, 288 sowie BSG
vom 11. März 2004 - B 13 RJ 44/03 R) auch ein Hinterbliebener als Berechtigter
anzusehen und der Höchstwert für alle seine Renten auf 25 EP begrenzt sein
sollte, so dass auch alleinstehenden Berechtigten mit mehreren Renten eine
Rentensumme höchstens in Höhe der Eingliederungshilfe zustand.
d) Zu demselben Resultat führt schließlich die Auslegung des § 22 b Abs. 1 Satz 1
FRG anhand des objektiv-teleologischen Kriteriums der Gerechtigkeit. Die
hierdurch postulierte Gleichbehandlung des Gleichartigen erfordert die
Vermeidung von Wertungswidersprüchen in den Grenzen des Möglichen. Daher ist
im Falle mehrerer nach Wortsinn und Kontext möglicher Auslegungen diejenige zu
bevorzugen, durch die ein Wertungswiderspruch innerhalb der Rechtsordnung
vermieden wird (vgl. Larenz, a. a. O., S. 321, 330).
Wäre die Begrenzung des § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG auf 25 EP nicht
vorzunehmen gewesen, wenn ein Begünstigter neben einem Recht aus eigener
Versicherung ein abgeleitetes Recht auf Hinterbliebenenrente hatte, so hätte sich
eine Kürzung der Gesamtleistung allenfalls aus den allgemeinen
Einkommensanrechnungsvorschriften für die Gewährung von Renten wegen Todes
ergeben können. Nach § 97 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI ist jedoch nur Einkommen
anzurechnen, das monatlich das 26,4-fache des aktuellen Rentenwertes
übersteigt. Damit wäre eine eigene, nach § 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG in Höhe
von 25 EP gewährte RAR stets anrechnungsfrei geblieben, und der Berechtigte
hätte daneben Hinterbliebenenrente in voller Höhe ohne Begrenzung der
berücksichtigungsfähigen EP beziehen können. Dies hätte zu einer sachlich nicht
gerechtfertigten und deshalb mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs.
1 GG nicht zu vereinbarenden Ungleichbehandlung zwischen Witwen und lebenden
Verheirateten mit beiderseitiger FRG-Berechtigung geführt. Letztere erhalten
nämlich aufgrund der Überlegung, dass durch das Zusammenleben Kosten der
Haushaltsführung erspart werden (ebenso LSG NW a. a. 0.), gemäß § 22 b Abs. 3
FRG nur einen Zahlbetrag, welcher den Wert einer aus 40 EP ermittelten Rente
(das 1,6fache der Eingliederungshilfe) nicht überschreitet. Mit dieser Reduzierung
des Leistungsniveaus bereits für lebende Ehepaare wäre es unvereinbar gewesen,
wenn der Tod des einen zur Zugrundelegung zusätzlicher EP bei dem
Längerlebenden geführt hätte. Die darin liegende Ungleichbehandlung ließ sich
auch nicht beseitigen, indem 25 EP aus eigenem Recht sowie zusätzlich 25 EP aus
abgeleitetem Recht zugrundegelegt und auf einen Gesamtzahlbetrag begrenzt
wurden, der einer Rente auf Grund von 40 einfachen EP mit einem Rentenartfaktor
von 1,0 genau entsprach (vgl. BSG vom 11. März 204 – B 13 RJ 44/03 R). Denn
auch bei dieser Lösung wurde der überlebende Ehegatte hinsichtlich der von ihm
bezogenen Gesamtaltersversorgung immer noch genauso behandelt wie ein
lebendes Ehepaar mit maximalen FRG-Renten. Diese Gleichbehandlung sieht der
Senat wegen des ungleichen Sachverhaltes als unzulässige Benachteiligung der
gelebten Ehe bzw. als ungerechtfertigte Bevorzugung des Hinterbliebenen an
(ebenso: SG Berlin a. a. 0.).
Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung hätte sich ferner zwischen verwitweten
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Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung hätte sich ferner zwischen verwitweten
und alleinstehenden FRG-Berechtigten ergeben. Der Gesetzgeber hat deutlich
zum Ausdruck gebracht, dass er Alleinstehende entsprechend dem Gedanken der
Bedarfsdeckung nur mit Leistungen auf der Grundlage von maximal 25 EP
ausstatten wollte. Vor diesem Hintergrund konnte der Umstand, dass ein
Hinterbliebener früher (außerhalb des Bundesgebietes) einmal verheiratet war,
keinen sachlich rechtfertigenden Gesichtspunkt für einen höheren
Existenzsicherungsbedarf darstellen. Vielmehr musste , wenn FRG-Berechtigte
lediglich noch eine am Bedürftigkeitsprinzip orientierte Leistung erhalten sollten
und dieser Bedarf bei Alleinstehenden mit 25 Entgeltpunkten gedeckt ist, dies
auch für nach dem Tod des Ehegatten ebenfalls alleinstehende Hinterbliebene der
Fall sein (ebenso: LSG NW, SG Dortmund, SG Düsseldorf, SG Berlin a. a. 0.).
e) Die Auslegung des Senats führt auch nicht dazu, dass Hinterbliebene bei einer
Begrenzung ihrer Leistungen auf insgesamt 25 Entgeltpunkte nach § 22b Abs.1
FRG letztlich nur Inhaber eines "leeren Rechts auf Witwenrente" sind (so aber BSGE
88, 288). Zum einen hat der überlebende Ehegatte immer dann ein Recht auf
Leistungserhöhung, wenn für die ihm zustehende Rente aus eigener Versicherung
weniger als 25 Entgeltpunkte ermittelt werden. Zum anderen vernachlässigt diese
Ansicht, dass § 22 b FRG – wie oben dargelegt - gerade keine Hinterbliebenenrente
im Sinne des § 46 SGB VI, sondern eine bedarfsorientierte Fürsorgeleistung für
Spätaussiedler vorsieht (ebenso LSG NW a.a.O.).
2) Selbst wenn aber entgegen der Auffassung des Senats angenommen wird, dass
§ 22 b Abs. 1 Satz 1 a. F. FRG auf Hinterbliebene keine Anwendung fand, so ist die
retroaktive Rückwirkung des § 22 b Abs. 1 Satz 1 n. F. verfassungsrechtlich nicht
zu beanstanden. Das Vertrauen der Klägerin auf den Fortbestand der früheren
Rechtslage ist – sollte es bestanden haben - nicht schutzwürdig. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts greift der Vertrauensschutz des
Bürgers vor belastenden rückwirkenden Gesetzen auch im Falle der echten
Rückwirkung bzw. der Rückbewirkung von Rechtsfolgen unter anderem dann nicht
ein, wenn das bisherige Recht unklar und verworren und/oder in einem Maße
systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner
Verfassungsgemäßheit bestanden (vgl. BVerfGE 13, 261, 271 f.; 18, 429, 439; 30,
367, 387 ff.; 72, 200, 258 ff.; 88, 384, 404). Entweder das eine oder das andere war
hier aus den oben dargestellten Gründen der Fall. Der Gesetzgeber war deshalb
berechtigt, diese unklare und verfassungsrechtlich zweifelhafte Rechtslage auch
rückwirkend zu beseitigen.
Die durch § 22 b Abs. 1 Satz 1 n. F. geschaffene einfachgesetzliche Rechtslage ist
auch mit höherrangigem Recht vereinbar.
Ein den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verletzender Eingriff schon
deshalb nicht vor, weil die von der Klägerin begehrte Auszahlung ihrer großen
Witwenrente nicht der Eigentumsgarantie unterliegt. Es handelt sich vielmehr – wie
ausgeführt – um eine bedarfsorientierten Sozialleistung mit Fürsorgecharakter,
welcher allein aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, von ihrer Konzeption her
überwiegend auf staatlicher Gewährung und nicht auf adäquaten eigenen
Vorleistungen beruht und der Klägerin wegen ihrer Bedarfsabhängigkeit auch nicht
privatnützig zugeordnet ist.
Das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 i. V. m. Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG gewährt
als solches keinen Anspruch auf eine bestimmte soziale Regelung oder einen
Mindestbetrag. Der sich hieraus ergebenden Verpflichtung des Staates, ein
menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, wird - abgesehen davon, dass insoweit
dem einzelnen keine subjektiven Rechte auf eine bestimmte soziale Regelung
eingeräumt sind (vgl. BVerfGE 55, 115; BVerfGE 82, 60) - bereits durch die
Gewährung von Sozialhilfe hinreichend Rechnung getragen (vgl. BSG 7. 2. 2002 - B
7 AL 42/01 R). Von daher kann in § 22 b Abs. 1 Satz 1 n. F. FRG auch kein Verstoß
gegen die über Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit gesehen
werden, da die Freiheitsrechte der Klägerin nicht in unverhältnismäßiger Weise
eingeschränkt werden. Ihr Recht, gegebenenfalls ergänzende Sozialhilfe zu
beantragen, wird nicht verkürzt. Die Verschiebung der Lasten zwischen
verschiedenen Leistungssystemen als solche gehört aber wiederum zu den
Gestaltungsfreiheiten des Gesetzgebers im Rahmen des Art. 20 GG.
Dass sich die Klägerin schließlich auch nicht auf Art. 3 GG berufen kann, sondern
diese Norm im Gegenteil das vom Senat gefundene Ergebnis stützt, ist bereits
ausgeführt.
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D. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
E. Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der Frage, ob die retroaktive
Rückwirkung des § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG verfassungsrechtlich unbedenklich ist,
grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG beimisst.