Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 29.04.2009

LSG Shs: erlass, sozialhilfe, form, unterbrechung, leistungsbegehren, beiladung, ermessensleistung, hauptsache, versorgung, zustand

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Beschluss vom 29.04.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Kiel S 19 KR 6/09 ER
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht L 5 B 360/09 KR ER
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts K. vom 4. März 2009 abgeändert. Die
Beigeladene zu 2) wird verpflichtet, die von ihr bis zum 31. Januar 2009 erbrachte Sozialhilfe als vorläufige Leistung
wei- terhin ab 1. Februar 2009 zu erbringen. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen. Die Beigeladene zu
2) hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten für das Antrags- und Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
I.
Die 1976 geborene Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Seit ihrem 12. Lebensjahr ist sie
unfallbedingt querschnittsgelähmt (spastische Tetraparese, Zustand nach hoher Querschnittslähmung) und bedarf der
ständigen maschinellen Beatmung mit der Notwendigkeit der Überwachung durch geschultes Pflegepersonal und
damit 24 Stunden täglich der Behandlungspflege in Form von Beatmungspflege. Die Antragsgegnerin gewährte der
Antragstellerin Beatmungspflege für 17 Stunden täglich. Die Kosten für die restlichen sieben Stunden (festgestellte
Zeit für die Grundpflege) trägt die Beigeladene zu 1) als Pflegekasse. Den Restbetrag erbrachte die Beigeladene zu
2), die Landeshauptstadt K., als Sozialhilfeträger.
Die Antragstellerin bewohnt sei 1. September 2005 eine eigene Wohnung in K. und arbeitet acht Stunden täglich in
einer Außenstelle der E. Werkstätten im EDV-Bereich. Betreut wird sie dort durch einen ambulanten Pflegedienst. Die
24-stündige Beatmungspflege wird durch die Gemeinschaftspraxis Dres. P. und V., Ga., laufend verordnet.
Bis zum 31. Januar 2009 übernahm die Beigeladene zu 2) die Kosten für die erforderliche Beatmungspflege in dem
Umfang, der von der Antragsgegnerin der Grundpflege zugeordnet und von der Beigeladenen zu 1) nicht übernommen
wurde. Mit Bescheid vom 13. Januar 2009 lehnte sie die Zahlung ab 1. Februar 2009 unter Hinweis auf die
Leistungspflicht der Antragsgegnerin ab. Zur Begründung verwies sie auf eine entsprechende Verurteilung in dem
Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 25. September 2008 zum Verfahren S 3 KR 192/06. Hiergegen legte die
Antragstellerin Widerspruch ein und beantragte bei der Antragsgegnerin entsprechende Leistungen. Dies lehnte die
Antragsgegnerin mit Bescheid vom 29. Januar 2009 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
– BSG – (B 3 KR 4/98 R) ab. Auch hiergegen legte die Antragstellerin Widerspruch ein.
Am 9. Februar 2009 hat sie beim Sozialgericht Kiel beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen
Anordnung zu verpflichten, ihr Beatmungspflege als Behandlungspflege im Umfang von 24 Stunden zu einem
Stundensatz von mindestens 26,50 EUR ab Februar 2009 zu gewähren. Zur Begründung hat sie darauf hingewiesen,
dass sie der 24 stündigen Beatmungspflege bedürfe. Diese sei in jeder Beziehung vorrangig vor allen Maßnahmen der
Grundpflege und einer hauswirtschaftlichen Versorgung. Aus diesem Grund dürfe die Antragsgegnerin einen Abzug für
Leistungen der Grundpflege nicht vornehmen. Weil die Beigeladene zu 2) die "7 Stunden-Lücke" seit dem 1. Februar
nicht mehr schließe, sehe sie sich der unhaltbaren Situation gegenüber, dass sie ihren Pflegedienst nicht mehr werde
halten können.
Die Antragsgegnerin hat die Auffassung vertreten, dass als Rechtsfolge der fragwürdigen Leistungsablehnung durch
die Beigeladene zu 2) eine Verpflichtung ihrerseits nicht angemessen erscheine.
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 4. März 2009 den Antrag abgelehnt. Die Begründung der Beigeladenen zu
2), die Antragsgegnerin sei mit Urteil des Sozialgerichts K. vom 25. September 2008 zur Kostentragung verurteilt
worden, überzeuge nicht. In dem Urteil sei es lediglich um die Beatmungspflege für die Arbeitszeit in der Werkstatt für
Behinderte gegangen. Die Entscheidung der Beigeladenen zu 2), eine weitere Kostenübernahme abzulehnen, sei nicht
nachzuvollziehen. Die Rechtsauffassung der Antragsgegnerin sei nach summarischer Prüfung nicht zu beanstanden.
Die Antragstellerin werde bis zur rechtskräftigen Erledigung der Hauptsache die Beigeladene zu 2) als
vorleistungspflichtige Leistungsträgerin in Anspruch zu nehmen haben. Diese habe die entsprechenden Leistungen bei
Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen vorläufig zu erbringen.
Gegen den Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 3. April 2009. Sie ist weiterhin der
Auffassung, dass ein Anspruch gegenüber der Antragsgegnerin auf 24 Stun¬den-Beatmungspflege bestehe. Auch sei
ein Anordnungsgrund gegeben, da aufgrund der Ablehnung der Beigeladenen zu 2) eine Finanzierungslücke
entstanden sei. Es sei die Frage, wie lange der Pflegedienst die Lücke noch zwischenfinanzieren könne.
Die Beigeladene zu 2) vertritt weiterhin die Auffassung, dass die Antragsgegnerin zur Übernahme der Kosten für die
Beatmungspflege für 24 Stunden täglich verpflichtet sei. Es könne nicht sein, dass die Behandlungspflege während
der Erbringung der Grundpflege in den Hintergrund trete, weil die Beatmung lebensnotwendig sei und Beatmungspflege
auch dann erbracht werden müsse, wenn gleichzeitig Grundpflege erbracht werde.
Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass die Beigeladene zu 2) nunmehr verpflichtet worden sei, die
entsprechenden Leistungen vorläufig zu erbringen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und in dem im Beschlussausspruch angeführten
Umfang begründet.
Der Senat teilt die in der Begründung des angefochtenen Beschlusses enthaltene Auffassung des Sozialgerichts,
dass die Beigeladene zu 2) [nicht die Beigeladene zu 3), wie im Beschluss irrtümlich geschrieben] verpflichtet ist, ihre
bisherigen Leistungen der Antragstellerin gegenüber weiterhin über den 31. Januar 2009 hinaus zu erbringen.
Allerdings fehlt dem angefochtenen Beschluss ein entsprechender Ausspruch im Tenor, aus dem die Antragstellerin
gegebenenfalls vollstrecken könnte. Dieses hat der Senat nunmehr nachgeholt.
Auch wenn sich der Antrag der Antragstellerin in dem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die
Antragsgegnerin richtet, so ist der Senat gleichwohl berechtigt, eine entsprechende Verpflichtung der Beigeladenen zu
2) auszusprechen. § 75 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sieht vor, dass u. a. ein Träger der Sozialhilfe nach
Beiladung verurteilt werden kann. Damit eröffnet das Gesetz die Möglichkeit, anstelle des Antragsgegners den für die
Leistung zuständigen Leistungsträger zu verpflichten. Diese Vorschrift findet auch im Verfahren auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG Anwendung (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9.
Aufl., § 75 Rz. 18b m.w.N.).
Der Verpflichtung steht auch keine bestandskräftige Ablehnungsentscheidung der Beigeladenen zu 2) gegenüber, da
die Antragstellerin Widerspruch gegen deren Bescheid vom 29. Ja¬nuar 2009 erhoben hat.
Die Beigeladene zu 2) ist auch gegenüber der Antragsgegnerin zur vorläufigen Leistungserbringung verpflichtet. § 43
Abs. 1 des Ersten Sozialgesetzbuches (SGB I) bestimmt für den Fall, dass ein Anspruch auf Sozialleistungen
besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern (lediglich) streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist, die
Möglichkeit der vorläufigen Leistungserbringung des zuerst angegangenen Leistungsträgers. Unstreitig ist zwischen
den Beteiligten der Anspruch der Antragstellerin auf entsprechende Pflegeleistungen, streitig ist allein, welcher
Leistungsträger für die Kostentragung zuständig ist. Gerade diesen Fall als Folge des gegliederten Sozialrechts mit
der damit verbundenen häufig komplizierten Zuständigkeit der verschiedenen Leistungsträger für gleiche oder ähnliche
Leistungen erfasst § 43 SGB I und erspart es dem Leistungsempfänger, den zu Unrecht seine Leistungspflicht
bestreitenden Träger zu ermitteln, eigenes Vermögen einzusetzen oder gar auf die entsprechende Leistung zunächst
verzichten zu müssen.
Die Beigeladene zu 2) ist auch der zuerst angegangene Leistungsträger im Sinne dieser Vorschrift. Das folgt daraus,
dass die Antragstellerin von ihr zunächst die entsprechenden Leistungen erhielt.
Zwar sieht § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB I die Erbringung der vorläufigen Leistung als Ermessensleistung vor, auf die eine
einstweilige Anordnung grundsätzlich nicht gerichtet sein kann. Allerdings bestimmt Satz 2 der Vorschrift eine
Verpflichtung zur vorläufigen Leistung, wenn der Berechtigte es beantragt hat. Davon geht der Senat in
entsprechender Anwendung der Vorschrift dann aus, wenn die Leistungen wie im vorliegenden Fall zunächst
ausgezahlt wurden und der Betreffende sein Leistungsbegehren auf Weiterzahlung ohne Unterbrechung im
Eilverfahren zum Ausdruck gebracht hat. Ein solches Begehren ist ferner daraus zu entnehmen, dass die
Antragstellerin gegen den Bescheid der Beigeladenen zu 2) vom 13. Januar 2009 Widerspruch eingelegt hat. Die
zwischen der Beigeladenen zu 2) und der Antragsgegnerin streitige Zuständigkeit der Leistungspflicht wird damit
letztlich im Rahmen eines Erstattungsverfahrens zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen zu 2) zu klären
sein (§ 102 des Zehnten Sozialgesetzbuchs).
Der Senat hält eine vorläufige Leistungsverpflichtung auch für die Zeit bereits ab 1. Februar 2009 für angebracht, da
die Kosten der 24 stündigen Behandlungspflege angefallen sind und die Antragstellerin offensichtlich nicht
leistungsfähig ist.
Besteht mithin eine Leistungsverpflichtung der Beigeladenen zu 2) für die von der Antragstellerin begehrte Leistung,
so fehlt es für die begehrte einstweilige Anordnung gegenüber der Antragsgegnerin an dem notwendigen
Anordnungsgrund, d. h. der Notwendigkeit einer Eilentscheidung. Aus diesem Grund ist die Beschwerde im Übrigen
zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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