Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 24.09.2007

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Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Beschluss vom 24.09.2007 (rechtskräftig)
Sozialgericht Itzehoe S 1 KR 33/07 ER
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht L 5 B 504/07 KR ER
Der Beschluss des Sozialgerichts Itzehoe vom 21. Juni 2007 wird aufgehoben. Die Beschwerdegegnerin wird
verpflichtet, vorläufig die Kosten der beim Beschwerdeführer von Dr. durchgeführten Dendritischen Zelltherapie für
max. elf Impfungen zu tragen. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer die außergerichtlichen Kosten des
Antrags- und Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich dagegen, dass es das Sozialgericht abgelehnt hat, die Beschwerdegegnerin im
Eilverfahren zur Übernahme der Kosten für eine Dendritische Zelltherapie zu verpflichten.
Bei dem 1949 geborenen Beschwerdeführer wurde im März 2006 ein fortgeschrittenes, metastasierendes
Adenokarzinom der Prostata diagnostiziert. Unter der standardmäßig durchgeführten Androgenentzugstherapie kam
es zunächst zu einem Rückgang des PSA-Wertes (prostataspezifisches Antigen). In den ersten Monaten des Jahres
2007 stieg der PSA-Wert wieder an.
Am 12. April 2007 beantragte der Beschwerdeführer bei der Beschwerdegegnerin, bei der er gesetzlich
krankenversichert ist, die Kostenübernahme für eine Dendritische Zelltherapie, durchgeführt von Dr. in D. Diese
Therapieform kam in den 90er Jahren aus den USA nach Deutschland. Sie verfolgt das Ziel, die Immunabwehr gegen
den Krebs zu stimulieren und so einer Metastasierung entgegenzuwirken. Von dem Versicherten entnommene
gesunde Zellen werden mit abgetöteten Tumorzellen in einer Zellkultur zusammengebracht, und später werden die
Zellen in die Haut zurück injiziert. Über die Blut- und Lymphbahnen gelangen die Dendritischen Zellen zum einen in die
Lymphknoten. Dort sollen sie eine Immunabwehr in Gang setzen. Zum anderen sollen sie Tumorzellen zerstören.
In seinem Antrag führte der Beschwerdeführer aus, die derzeitige Standardtherapie mit Taxan-basierter
Chemotherapie komme für ihn wegen der zahlreichen Nebenwirkungen, die bis zur Pflegebedürftigkeit führen könnten,
nicht in Betracht. Die Behandlung mit den Dendritischen Zellen habe nicht nur, wie die Chemotherapie, eine palliative
Ausrichtung. Sie könne auch kurativ wirken. Er beabsichtige, diese Therapie am 24. April 2007 zu beginnen. Dem
Antrag beigefügt war eine Stellungnahme des Dr. N vom 27. März 2007. Ferner lagen dem Antrag zahlreiche
Unterlagen über die genannte Therapie sowie über Veröffentlichungen bei. Außerdem reichte der Beschwerdeführer ein
an ihn gerichtetes Schreiben des Interdisziplinären Prostatakrebszentrums Berlin der Charité vom 15. Februar 2007
ein.
Mit Bescheid vom 20. April 2007 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme für die genannte Therapie ab. Zur
Begründung bezog sie sich auf ein Grundsatzgutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung von
März 2006. Darin werde zur Vakzinationstherapie ausgeführt, sie habe bisher nur experimentellen Charakter. Die
Datenlage sei unzureichend. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine nicht anerkannte Behandlungstherapie
seien nicht erfüllt. Maßgebend sei, dass die Chemotherapie als vertraglich etablierte und anerkannte
Behandlungsmethode zur Verfügung stehe.
Der Beschwerdeführer begann wie beabsichtigt bei Dr. N die Behandlung am 24. April 2007 bzw. 2. Mai 2007. Er legte
gegen den Bescheid der Beschwerdegegnerin Widerspruch ein, den diese mit Widerspruchsbescheid vom 30. Mai
2007 zurückwies.
Zwischenzeitlich hatte der Beschwerdeführer am 26. April 2007 beim Sozialgericht Itzehoe beantragt, die
Beschwerdegegnerin im Rahmen einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für die Dendritische
Zelltherapie in der Praxis des Dr. N zu übernehmen. Zur Begründung hat er u. a. ausgeführt, er halte eine
Chemotherapie für unzumutbar. Sie habe außerordentlich starke toxische Wirkung. Durch sie würden die gesunden
Zellstrukturen im Körper zerstört. Insbesondere das blutbildende System werde nachhaltig angegriffen. Als Folge
entstünden neurotoxische Krankheitsbilder bis hin zu Alzheimer Symptomen. Die Erfolgsquote für eine
chemotherapeutische Maßnahme liege ohnehin nur bei rund 30 % bis 40 %. Ihre Wirkungsdauer sei bestenfalls auf
einen Zeitraum von 18 Monaten ausgerichtet. Demzufolge sei mit einer Chemotherapie keine langfristige
Heilungsperspektive verbunden. Neben dieser begrenzten Wirkungsdauer habe eine Chemotherapie auch eine
erhebliche Minderung der Lebensqualität zur Folge. Oftmals seien Bluttransfusionen notwendig. Durch
Nervenstörungen könne es sogar zu dauerhaften Wesensveränderungen kommen. Bei der Behandlung durch Dr. N
handele es sich nicht um eine Außenseitertherapie. Die Dendritische Zelltherapie werde beispielsweise an der
Universitätsklinik Lübeck durchgeführt. Außerdem gebe es Studien über diese Therapie der Phase III. Dabei habe
nachgewiesen werden können, dass sie hinsichtlich des Überlebens um rund ein Drittel über dem entsprechenden
Zeitkorridor der Chemotherapie liege. Das Institut des Dr. N sei mit der Universitätsklinik in Freiburg verzahnt. Auch
andere Universitätsstandorte, z. B. Marburg, arbeiteten erfolgreich mit den Dendritischen Zellen. Somit habe sich die
Dendritische Zelltherapie bereits in der Breite durchgesetzt. Sie sei außerdem wesentlich kostengünstiger als die
Chemotherapie.
Die Beschwerdegegnerin hat beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie hat zum einen in Frage gestellt, dass ein Anordnungsgrund vorhanden sei. Zum anderen hat sie hinsichtlich des
Anordnungsanspruches erneut darauf hingewiesen, dass für den Beschwerdeführer die Chemotherapie zur Verfügung
stehe. Dass die Dendritische Zelltherapie zum angestrebten Erfolg führe, sei nicht nachgewiesen.
Mit Beschluss vom 21. Juni 2007 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Zur Begründung hat es u. a.
ausgeführt: "Der Antragsteller hat das Vorliegen eines Anordnungsanspruches nicht glaubhaft gemacht. Gemäß § 27
Abs. 1 S. 1 SGB V (Fünftes Buch Sozialgesetzbuch, Gesetzliche Krankenversicherung) haben Versicherte Anspruch
auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu
verhüten oder Krankheits¬beschwerden zu lindern. Nach § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V haben Qualität und Wirksamkeit der
Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen
Fortschritt zu berücksichtigen. Dieser allgemeinen Vorgabe entsprechend hat der Gesetzgeber in § 135 Abs. 1 SGB V
festgelegt, dass neue Untersu¬chungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen und
vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden dürfen, wenn der Gemeinsame
Bundesausschuss auf Antrag einer kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer kas¬senärztlichen Vereinigung oder
eines Spitzenverbandes der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen
abgegeben hat über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie
deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit - auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkassen
erbrachten Methoden - nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkennt¬nisse in der jeweiligen
Therapierichtung (S. 1 Nr. 1). Wie dem von der Antragsgegnerin übersandten Schreiben des Gemeinsamen
Bundesaus¬schusses vom 23. Mai 2007 zu entnehmen ist, hat diese sich mit der Methode der Eigenblut¬therapie mit
Dendritischen Zellen nicht befasst. Ebenso liegt auch kein Antrag nach § 135 Abs. 1 SGB V vor. Da damit eine
Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht vorliegt, darf die Antragsgegnerin die Dendritische
Zelltherapie weder als Sachleistung noch im Wege der Kostenerstattung dem Antragsteller zur Verfügung stellen.
Auch bei Heranziehung der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich kein anderes
Ergebnis. Dieses hat im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98 ¬SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) die
Voraussetzung aufgestellt, dass bei lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen oder bei
zumindest wertungsmäßig damit vergleichbaren Erkrankungen von den gesteigerten Voraussetzungen für die
Erfolgsprogno¬se abgesehen werden müsse, insbesondere wenn die Datenlage wegen der Art der Erkran¬kung oder
ihres seltenen Auftretens nicht hinreichend gesichert werden kann, um die Quali¬tätsstandards zu erfüllen.
Voraussetzung ist dabei jedoch, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende
Behandlung nicht zur Verfügung steht. Gerade eine solche Therapie liegt jedoch mit der vom Antragsteller wegen ihrer
Nebenwir¬kungen abgelehnten Chemotherapie vor."
Gegen diesen dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 26. Juni 2007 zugestellten Beschluss richtet
sich die am 13. Juli 2007 eingelegte Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat.
Zur Begründung seines Rechtsmittels wiederholt der Beschwerdeführer seine Ausführungen aus dem
erstinstanzlichen Verfahren. Insbesondere beanstandet er an dem angefochtenen Beschluss, dass das Sozialgericht
die Chemotherapie als in Betracht kommende Standardtherapie angeführt habe. Er meint, die Charité verweise ihn in
dem genannten Schreiben auf eine Chemotherapie, ohne dass bisher überhaupt festgestellt worden sei, dass er für
eine solche geeignet sei. Sämtliche mit der von der Charité angesprochenen Therapie behandelte Patienten seien
mittlerweile gestorben, zum Teil unter schwersten Nebenwirkungen. Die Überlebenszeit bei einer Behandlung mit
Dendritischen Zellen sei im Durchschnitt mit 25,9 Monaten angegeben. Im Gegensatz dazu betrage die
Überlebenszeit bei einer Chemotherapie mit Taxanen 18,9 Monate. Der Beschwerdeführer meint, seine
verfassungsrechtlichen Grundrechte würden durch die Position der Beschwerdegegnerin unzumutbar eingeschränkt.
Er begehrt weiterhin, die Beschwerdegegnerin durch eine einstweilige Anordnung zu verpflichten, die
Behandlungskosten für die Dendritische Zelltherapie zu übernehmen.
Die Beschwerdegegnerin hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend. Sie wiederholt ihre Auffassung, die
Vakzinations¬therapie mit Dendritischen Zellen unterfalle nicht dem Leistungsbereich der gesetzlichen
Krankenversicherung, da sie sich noch im experimentellen Stadium befinde.
Der Senat hat von Dr. N den Bericht vom 11. September 2007 eingeholt. Hierauf sowie auf den weiteren Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beschwerdegegnerin wird zur Ergänzung des zuvor
Ausgeführten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde ist in dem im Beschlussausspruch aufgeführten Umfang begründet. Der Senat teilt nicht die
Auffassung des Sozialgerichts, die Voraussetzungen für die beantragte einstweilige Anordnung seien nicht erfüllt.
Vielmehr hat der Beschwerdeführer sowohl den erforderlichen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch
glaubhaft gemacht (§§ 86b Abs. 2 S. 2 und 4 SGG, 920 Abs. 2 ZPO).
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes erlassen
werden, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist hier der Fall.
Durch die ablehnenden Bescheide der Beschwerdegegnerin ist die Kostentragung für die Dendritische Zelltherapie und
damit die Durchführung dieser Therapie selbst in Frage gestellt. Das wäre mit so wesentlichen Nachteilen für den
Beschwerdeführer verbunden, die unzumutbar erscheinen, weil seine Krebserkrankung unbehandelt bliebe.
Ein Anordnungsgrund, also die Notwendigkeit einer vorläufigen Entscheidung im Eilverfahren, ist zu bejahen. Der
Beschwerdeführer hat glaubhaft gemacht, dass er mit seinen monatlichen Renteneinkünften von ca. 460,00 EUR nicht
in der Lage ist, die Behandlungskosten, die sich nach dem vom Senat eingeholten Bericht des Dr. N auf bereits ca.
25.000,00 EUR belaufen, zu tragen. Nach diesem Bericht sind von diesen Kosten auch bisher erst wenige Teilbeträge
beglichen worden. Angesichts der Schwere und Progredienz der Erkrankung ist dem Beschwerdeführer auch nicht
zuzumuten, mit der Durchführung der Behandlung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu warten.
Ein Anordnungsanspruch ist grundsätzlich dann zu bejahen, wenn ein Obsiegen des Antragstellers (bzw. hier des
Beschwerdeführers) im Hauptsacheverfahren ausreichend wahrscheinlich ist. Ist dagegen zu erwarten, dass das
Hauptsacheverfahren für den Antragsteller erfolglos sein wird, besteht grundsätzlich kein durch eine einstweilige
Anordnung zu schützendes Recht. Hier kann zurzeit weder das eine noch das andere angenommen werden.
Die Klage erscheint derzeit nicht offensichtlich unbegründet. Zwar hat das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil
vom 28. März 2000 (B 1 KR 11/98 R) entschieden, eine Versicherte habe gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse
grundsätzlich keinen Leistungsanspruch, wenn die begehrte Behandlung bzw. die streitige Arzneitherapie - zu der das
BSG in dieser Entscheidung auch die Behandlung mit autologen Tumorvakzinen rechnet - nicht vom - jetzigen -
Gemeinsamen Bundesausschuss im Sinne des § 135 Abs. 1 SGB V in die entsprechende Richtlinie aufgenommen
worden sei. Bei der Dendritischen Zelltherapie ist das so. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat in der von der
Beschwerdegegnerin eingereichten, dem Sozialgericht Nordhausen übersandten Auskunft vom 23. Mai 2007
mitgeteilt, er habe sich mit dieser Therapie mangels entsprechender Antragstellung bisher nicht befasst. Daran kann
die Erfolgsaussicht der Klage aber nicht scheitern. Denn das genannte Urteil des BSG stellt zumindest seit dem von
den Beteiligten und vom Sozialgericht zitierten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (1
BvR 347/98) keine ausreichende Grundlage für eine ablehnende Verwaltungs- und Gerichtsentscheidung dar. Für
lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankungen, um die es auch in dem dem genannten BSG-
Urteil zugrunde liegenden Verfahren ging, zwingen die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) sowie
das Sozialstaatsprinzip die Sozialgerichte, unter bestimmten Voraussetzungen einen Leistungsanspruch auch über §
135 Abs. 1 SGB V hinaus zuzuerkennen. Da der Beschwerdeführer an einer lebensbedrohlichen Krankheit, nämlich an
metastasierendem Prostatakrebs, leidet, hängt somit die mutmaßliche Erfolgsaussicht seiner Klage davon ab, ob die
vom Bundesverfassungsgericht in dem genannten Beschluss angeführten weiteren Voraussetzungen für eine
Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin erfüllt sind. Zum einen muss festzustellen sein, dass es für die Krankheit
des Versicherten keine dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechende Behandlungsmethode
gibt. Zum anderen muss die von dem Versicherten gewählte Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht
ganz fernliegende Aussicht wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen.
Ob diese beiden Voraussetzungen hier erfüllt sind, vermag der Senat in der Kürze der ihm für eine Entscheidung im
Eilverfahren zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu beurteilen. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings in seinem
Beschluss vom 12. Mai 2005 (1 BvR 569/05 - abgedruckt in Breith. 2005, S. 803 ff.) entschieden, dass Art. 19 Abs. 4
GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stelle, wenn ohne die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die
durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Solle sich eine Entscheidung im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren in solchen Fällen an der Erfolgsaussicht der Hauptsache orientieren, müsse die Sach- und
Rechtslage nicht nur summarisch, wie es grundsätzlich im Eilverfahren geschieht, sondern abschließend geprüft
werden. Dieses gelte insbesondere, wenn das Verfahren nach dem Amtsermittlungsgrundsatz zu führen sei. Das ist
zwar im Sozialrechtsstreit der Fall (§ 103 SGG). Einer solchen Sachverhaltsaufklärung stehen hier aber schon allein
zeitliche Schwierigkeiten entgegen. Die mit der Erkrankung des Beschwerdeführers verbundene Lebensbedrohung
lässt es nicht zu, eine Entscheidung erst nach Abschluss zeitaufwendiger Ermittlungen zu treffen. Für die begehrte
Therapie besteht akuter Behandlungsbedarf. Insofern gehen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch ineinander
über (vgl. auch HK-SGG/Binder, 2. Aufl., Rdnr. 40 zu § 86b).
Zeitaufwendiger Ermittlungen bedarf es hier sowohl hinsichtlich der Frage, ob es für den Beschwerdeführer eine vom
Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkassen erfasste Standardtherapie gibt als auch hinsichtlich der nicht
ganz fernliegenden Aussicht wenigstens auf eine spürbare Einwirkung der Dendritischen Zelltherapie auf die
Krebserkrankung.
Bezüglich der Standardtherapie greift die Begründung in dem angefochtenen Beschluss zu kurz, wenn der
Beschwerdeführer dort in einem Satz auf die Chemotherapie verwiesen wird. Der Beschwerdeführer hat eingehend
dargelegt, dass und warum er eine solche Chemotherapie ablehnt. Insbesondere befürchtet er die nach seinem
Vortrag mit dieser Therapie verbundenen neurotoxischen Krankheitsbilder sowie die durch die starke Beeinträchtigung
der Blutneubildung entstehenden weiteren Erkrankungen. Dass diese Befürchtungen nicht lebensfremd sind, zeigt ein
Blick in die im Internet bei Wikipedia zu findende Beschreibung der Wirkungsweise der für den Beschwerdeführer nach
dem Arztbrief der Charité in Betracht kommenden Chemotherapeutika aus der Gruppe der Taxane. Als Nebenwirkung
einer Therapie mit Paclitaxel und "als charakteristisch für die meisten Zytostatika" sind dort u. a. aufgeführt:
Knochenmarkssubpression mit Blutbildveränderungen (Thrombozytopenie, Neutropenie, Anämie), Neuropathien
(insbesondere Parästhesien), Myalgien, Haarausfall, gastrointestinale Nebenwirkungen (z. B. Übelkeit, Erbrechen,
Durchfall). Diese Nebenwirkungen sind dadurch bedingt, dass zytostatisch wirksame Substanzen nicht nur
Tumorzellen beeinflussen, sondern alle teilungsfähigen Zellen des Organismus (Wormer/Bauer, Medizin und
Gesundheit, 2004, Stichwort Zytostatika). Im Rahmen der Amtsermittlung muss deshalb aufgeklärt werden, ob bzw.
mit welcher Wahrscheinlichkeit und ggf. in welchem Umfang die für den Beschwerdeführer in Betracht kommende
zytostatische Behandlung zu den von ihm befürchteten "Neben-"Wirkungen, die dann eher als weitere, gravierende
Gesundheitsstörungen zu bezeichnen wären, führen würde. Ergeben diese Ermittlungen, dass mit dieser sog.
Standardtherapie das nicht entfernt liegende Risiko des Eintritts weiterer, die Lebensqualität erheblich
beeinträchtigender Gesundheitsstörungen verbunden sein würde, kommt der Ablehnung dieser Therapie durch den
Beschwerdeführer entscheidungsrelevante Bedeutung zu. Dann wäre nämlich davon auszugehen, dass es keine dem
"allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechende Behandlungsmethode" im Sinne des genannten
Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes gibt. Denn nur auf eine solche Behandlung kann ein Versicherter mit
der Folge eines Anspruchs¬ausschlusses für die in Aussicht genommene, nicht vom Gemeinsamen
Bundesausschuss anerkannte Therapie verwiesen werden, die ihm unter demselben verfassungsrechtlichen Maßstab
zuzumuten ist, die das Bundesverfassungsgericht in seinem genannten Beschluss zugrunde gelegt hat. Mit der
Sorgfaltspflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) wäre es nicht
vereinbar, einen Versicherten gegen seinen ausdrücklich erklärten Willen (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG) zur Begründung
eines Leistungsversagens auf eine Behandlung zu verweisen, die zu erheblichen körperlichen und/oder geistigen
Störungen führen kann. Das gilt insbesondere für zytostatische Krebsbehandlungen. Diese wirken in der Regel
ausschließlich palliativ, nicht kurativ. Es wäre auch mit dem Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)
unvereinbar, einem Versicherten eine bisher nicht anerkannte Therapie zu versagen, weil er sich gegen die
Standardtherapie entscheidet, um wegen derer allenfalls palliativen Wirkung den noch verbleibenden Lebensabschnitt
ohne die aufgeführten "Neben"-Wirkungen im Sinne zusätzlicher erheblicher Einschränkungen der Lebensqualität zu
verbringen.
Mit dieser einschränkenden Auslegung des Begriffs "Standardtherapie" sieht sich der Senat in Übereinstimmung mit
der Rechtsprechung des BSG. Dieses hat unter Anwendung des o. g. Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts
vom 6. Dezember 2005 in seinem Urteil vom 7. November 2006 (B 1 KR 24/06 R) u. a. ausgeführt, gerade bei
schulmäßiger Krebsbehandlung sei zu ermitteln, ob Letztere im individuellen Fall zu einer Unverträglichkeit führe. Es
seien Chancen und Risiken dieser Behandlungsmethode gerade im Hinblick auf die konkreten Verhältnisse der
Versicherten gegeneinander abzuwägen (Rdnr. 9 des bei juris zu findenden Urteilsumdrucks). Ein Anspruch auf die
streitige Behandlungsmethode könne dann bestehen, wenn festzustellen sei, dass die nach allgemeinem Standard
anerkannte Behandlungsmethode im konkreten Einzelfall ausscheide, weil der Versicherte evtl. diese
nachgewiesenermaßen nicht vertrage (a. a. O., Rdnr. 22). Mit dem vom BSG verwendeten Begriff "nicht vertragen"
verbindet der hier beschließende Senat das Eintreten von die Lebensqualität erheblich beeinträchtigenden
behandlungsbedingten weiteren Gesundheitsstörungen.
Nach den vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen sind die mit einer Dendritischen Zelltherapie verbundenen
Nebenwirkungen um ein Vielfaches geringer als bei einer Behandlung mit Zytostatika. Auftreten können vor allem
Fieber und grippeähnliche Symptome. Ferner kann es zu Tumorschwellungen (nicht zu verwechseln mit
Tumorprogression) kommen, zu Tumorschmerzen, zu Gelenkschmerzen und Tumorzerfallsyndromen. Diese sog.
Nebenwirkungen sind alle nicht vergleichbar mit denjenigen bei einer Zytostatikabehandlung.
Führen die anzustellenden Ermittlungen dazu, dass es für den Beschwerdeführer keine zumutbare Standardtherapie
gibt, ist festzustellen, ob mit der Dendritischen Zelltherapie eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf spürbare
Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verbunden ist. In einem für ein Eilverfahren erforderlichen Umfang steht das
nach Überzeugung des Senats fest. Der Beschwerdeführer hat zusammen mit seinem bei der Beschwerdegegnerin
gestellten Antrag Unterlagen vorgelegt, die für positive Wirkungen der Behandlung sprechen. Die Behandlung nützt
also mehr als dass sie schadet (so der Ansatz des BSG im Urteil vom 7. November 2006, a. a. O. Rdnr. 22 am
Ende). In der dem Antrag bei der Beschwerdegegnerin beigefügten Literaturaufstellung sind zahlreiche
Veröffentlichungen angeführt, die Behandlungen verschiedener Krebsarten mit Dendritischen Zellen betreffen und zu
einem großen Teil zumindest partielle Remissionen der Karzinome nennen. Hinsichtlich des Prostatakarzinoms sind
dort zwei Veröffentlichungen angeführt. Eine betraf 33 Patienten. Bei zwei von ihnen kam es zu einer kompletten
Remission, bei sechs zu teilweiser Remission, und bei einem blieb der Zustand unverändert, d. h. der Tumor wuchs
nicht weiter. Die andere Veröffentlichung betraf 37 Patienten. Bei einem ist eine vollständige Remission dokumentiert,
bei zehn teilweise Remissionen und bei acht blieb der Zustand unverändert. Im Internet findet man Veröffentlichungen
über die Dendritische Zelltherapie von Prostatakarzinomen. So hat die Firma Dendreon bei Prostatakarzinomen von
127 Patienten eine Dendritische Zelltherapie im Rahmen einer Phase 3-Studie doppelblind und plazebokontrolliert
beendet. Dabei ergab sich, dass sich im Durchschnitt durch die Dendritische Zelltherapie die Überlebenszeit um 4,5
Monate gegenüber Plazebo erhöht hatte. 34 % der Patienten, die mit der Zelltherapie behandelt worden waren, lebten
36 Monate nach der Therapie noch im Vergleich zu 11 % in der plazebokontrollierten Untersuchung. Das war Grund
dafür, dass die Arzneimittelzulassungsbehörde der USA (FDA) der Dendritischen Zelltherapie eine vorläufige
Bewilligung erteilte. Nach einer im Internet abgedruckten Veröffentlichung der Uniklinik Freiburg vom 24. Januar 2007
(Rhombos-Verlag) kam es bei einer Therapie mit Dendritischen Zellen bei der Hälfte der Patienten vorübergehend zu
einer Antitumorwirkung, eine tumorspezifische Reaktion des Immunsystems konnte erzielt werden. Beim
Beschwerdeführer selbst fand sich nach dem Bericht des Dr. N nach der vierten Impfung im August 2007 kein
Hinweis für einen Progress der Knochenmetastasierung.
Ob letztlich ein entsprechend der genannten Rechtsprechung des BSG eingeschränkter Wirksamkeitsnachweis
geführt werden kann, bedarf weiterer Ermittlungen. Diese sprengen den für das Eilverfahren zur Verfügung stehenden
zeitlichen Rahmen.
Die in der Verwaltungsakte in Auszügen enthaltene Stellungnahme der sozialmedizinischen Expertengruppe des MDK
vom März 2006, die zum Ergebnis kommt, bisher gebe es keinen klinischen Wirksamkeitsnachweis für die
Dendritische Zelltherapie, steht im Eilverfahren einer positiven Entscheidung nicht entgegen. Diese Stellungnahme ist
im Hauptsacheverfahren unter Berücksichtigung weiterer zugänglicher Quellen auszuwerten. Hier dagegen reichen die
o. g. Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Dendritische Zelltherapie zumindest "mehr nützt als schadet".
Da nach dem Dargelegten in diesem Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sachlage nicht möglich erscheint,
der Ausgang des Hauptsacheverfahrens somit offen ist, bedarf es nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (zuletzt im Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05, a.a.O.) einer Folgenabwägung.
Hierbei sind nach diesem Beschluss die grundrechtlichen Belange des Beschwerdeführers umfassend in die
Abwägung einzubeziehen, denn, so das Bundesverfassungsgericht, "die Gerichte müssen sich schützend vor die
Grundrechte des Einzelnen stellen". In Übereinstimmung mit dem LSG Berlin-Bran¬denburg (Beschluss vom 1.
Dezember 2005 - L 1 B 1039/05 KR ER, zu finden in juris, er betrifft ebenfalls eine Dendritische Zelltherapie) führt
diese Abwägung des Senats zu einer für den Beschwerdeführer positiven Entscheidung. Er hat glaubhaft gemacht,
dass er die Kosten der Behandlung nicht tragen kann. Er verträgt offensichtlich die Behandlung gut, ansonsten würde
Dr. N in seinem Bericht vom 11. September 2007 deren Fortsetzung nicht für dringend angezeigt halten. Die
Knochenmetastasierung scheint zurzeit zum Stillstand gekommen zu sein. Es kann nicht ausgeschlossen werden,
dass die Krankheit ohne die streitige Behandlung weiter fortschreiten würde. Da die Gerichte nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besonders zum Grundrechtsschutz des Einzelnen aufgerufen sind,
hier ist insbesondere der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) relevant, muss
der Umstand, dass die Beschwerdegegnerin bei einem für den Beschwerdeführer negativen Ausgang des
Hauptsacheverfahrens nur wenig Aussicht auf Rückzahlung der in Ausführung dieses Beschlusses aufzuwendenden
Zahlungen hat, hinter den Interessen des Beschwerdeführers zurücktreten.
Der Senat hat die Verpflichtung der Beschwerdegegnerin zur Kostenübernahme auf die von Dr. N bisher
durchgeführten Behandlungen mit Dendritischen Zellen sowie die in seinem Bericht vom 11. September 2007
aufgeführten weiteren sechs Impfungen begrenzt. Nach den dann durchgeführten elf Impfungen muss durch einen
nicht im Institut des Dr. N tätigen Arzt festgestellt werden, ob die Behandlung tatsächlich zumindest zu einem
Stillstand der Krebserkrankung geführt hat. Nur wenn das feststeht, und das Hauptsacheverfahren bis dahin noch
nicht zu einem anderweitigen (Zwischen-)Ergebnis gekommen ist, könnte die Beschwerdegegnerin zu weiteren
Leistungen, bezogen auf die streitige Therapie, verpflichtet sein, falls die streitige Therapie dann noch fortgesetzt
werden muss.
Aus den von Dr. N mitübersandten Rechnungskopien ergibt sich, dass die Dendritische Zelltherapie von ihm
kombiniert wurde mit einer Tiefen-Hyperthermiebehandlung. Nach dem Akteninhalt ist nicht zu erkennen, dass die
letztgenannte Behandlung ein Teil der Dendritischen Zelltherapie ist. Vielmehr stehen beide Therapien nebeneinander.
Die Übernahme der Kosten für die Hyperthermie-Behandlung ist vom Beschwerdeführer bisher bei der
Beschwerdegegnerin nicht beantragt worden. Hierüber gibt es keine - ablehnende - Verwaltungsentscheidung. Das
Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist ausdrücklich ausschließlich auf die Kosten der
Dendritischen Zelltherapie bezogen. Aus diesen Gründen erstreckt sich die Entscheidung des Senats nicht auf die
anteiligen Kosten für die Hyperthermie-Behandlung. Es wird darauf hingewiesen, dass die Hyperthermie in der Anlage
B der Richtlinien zur Bewertung medizinischer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (Ziffer 14 und 42), also als
vom Gemeinsamen Bundesausschuss ausdrücklich nicht anerkannt, aufgeführt ist. Damit soll nach dem Urteil des
BSG vom 7. November 2006 (B 1 KR 24/06 R) der Nachweis hinreichender Erfolgsaussicht dieser Therapie
regelmäßig nicht mehr möglich sein.
Der Senat weist ferner abschließend zur Vermeidung von Missverständnissen darauf hin, dass mit diesem Beschluss
nicht generell über eine Verpflichtung der gesetzlichen Krankenkassen zur Gewährung von bisher nicht anerkannten
Therapien zur Krebsbehandlung entschieden worden ist. Maßgeblich ist immer der Einzelfall. Das gilt sowohl
hinsichtlich des Anordnungsgrundes als auch bezüglich des Anordnungsanspruches.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus den §§ 183, 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Littmann Timme Dr. Goedelt