Urteil des LSG Schleswig-Holstein vom 19.12.2007

LSG Shs: örtliche zuständigkeit, stationäre behandlung, gewöhnlicher aufenthalt, rehabilitation, praktikum, arbeitsstelle, therapie, wohnung, rente, verpflegung

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht
Urteil vom 19.12.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Schleswig S 2 AS 364/05
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht L 11 AS 9/07
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozial- gerichts Schleswig vom 17. Januar 2007 wird
zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird
nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar bis 30. März 2005.
Der 1960 geborene Kläger beantragte am 28. Dezember 2004 bei der Beklagten Leistungen nach dem SGB II. Zum
damaligen Zeitpunkt befand er sich seit dem 14. April 2004 zur Rehabilitation in der Fachklinik für Suchttherapie "T "
(jetzt L ) in D auf F. Träger der Maßnahme war die damalige LVA Baden-Württemberg. Sie gewährte ihm im
Anschluss an seine Rehabilitation auf F , die bis 30. März 2005 andauerte, weitere stationäre Leistungen zur
medizinischen Rehabilitation in der Rehabilitationseinrichtung D e. V. in K. Von dem Landeswohlfahrtsverband Baden
erhielt der Kläger ab 1. Mai 2004 nach den Bestimmungen des damals noch geltenden Bundessozialhilfegesetzes "für
die Dauer der stationären Behandlung im T " Sozialhilfetaschengeld in Höhe von 89,70 EUR. Mit Bescheid vom 5.
April 2005 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab. Sie sei örtlich nicht zuständig, da
der Kläger nach Ablauf der Therapie nicht die Absicht habe, auf F seinen Wohnsitz zu nehmen. Vielmehr wolle er eine
dreimonatige stationäre Anschlusstherapie in K antreten. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt habe im Bereich des
Landratsamtes Emmendingen in Baden-Württemberg gelegen. Außerdem sei eine Leistungsgewährung
ausgeschlossen, weil der Kläger länger als sechs Monate arbeitsunfähig sei. Damit habe eine Leistungsgewährung
nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII) zu erfolgen. Den hiergegen erhobenen Widerspruch,
bezogen auf den Zeitraum 1. Januar bis 30. März 2005, begründete der Kläger damit, seinen gewöhnlichen Aufenthalt
könne man auch in einer Einrichtung wie der auf F begründen. Dort sei er auf unbestimmte Zeit gemeldet gewesen
und habe eine Mietzusage sowie eine Arbeitsstelle in Aussicht gehabt. Zu einer Anstellung sei es aber nicht
gekommen, weil die in Aussicht gestellte Arbeitsstelle auf eine halbe Stelle gekürzt worden sei. Daraufhin sei er zur
Nachsorgeeinrichtung nach K gewechselt. Er sei auch nicht für länger als sechs Monate arbeitsunfähig, da die neuen
Bestimmungen erst ab Januar 2005 Anwendung fänden und er seinen Antrag bis zum 30. März 2005 gestellt habe.
Mit Bescheid vom 24. Mai 2005 gewährte das Jobcenter Kiel dem Kläger Leistungen nach dem SGB II ab 5. April
2005.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 3. Mai 2005 zurück.
Der Kläger hat am 31. Mai 2005 Klage beim Sozialgericht Kiel erhoben. Zur Begründung hat er ergänzend ausgeführt:
Für einen gewöhnlichen Aufenthalt auf F spreche das objektive Kriterium, dass er in der Einrichtung seinen Wohnsitz
angemeldet habe. Subjektiv habe er F zum neuen Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen nicht nur vorübergehend
begründet, weil er dort weiterhin beruflich tätig sein wollte. Während seines Aufenthaltes in der Einrichtung habe er
therapiebegleitend ein zehnwöchiges Praktikum in einer Tischlerei und ein sechswöchiges Praktikum an der
Psychiatrischen Fachklinik, jeweils mit acht Stunden täglicher Arbeitszeit, abgeleistet. Dort habe sich dann auch die
Perspektive auf eine Vollzeitstelle als Pflegehelfer in der Fachklinik ergeben. Dazu sei es allerdings nicht gekommen,
weil ihm letztlich nur eine halbe Stelle angeboten worden sei. Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten sei auch nicht
deshalb ausgeschlossen, weil er sich zum Zeitpunkt der Antragstellung in der stationären Einrichtung des T
aufgehalten habe. § 109 SGB XII, wonach der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung nicht als gewöhnlicher
Aufenthalt gelte, sei auf das SGB II nicht anzuwenden. Dort fehle es an einer solchen Regelung. Er sei auch während
des Aufenthalts in der Einrichtung nicht arbeitsunfähig gewesen, wie bereits seine dort absolvierten Praktika zeigten.
Vor dem Besuch der Suchtklinik auf F habe er bereits eine Entgiftung hinter sich gebracht, so dass eine körperliche
Abhängigkeit nicht mehr gegeben gewesen sei. Ihm stehe die beantragte Grundsicherungsleistung auch nach den
Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu. Die Beklagte habe sich nämlich über einen Monat Zeit
gelassen, um ihm weitere Unterlagen zur Bearbeitung des Antrags zukommen zu lassen. Die Ablehnung sei erst am
5. April 2005 erfolgt. Aufgrund der damit einhergehenden Lücke im Krankenversicherungsschutz sehe er sich nun mit
Medikamentenrechnungen in Höhe von derzeit 4.787,42 EUR konfrontiert. Vorzuwerfen sei der Beklagten, ihn nicht
über einen notwendigen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII aufgeklärt zu haben.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 5. April 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 3. Mai 2005
aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebens- unterhaltes
nach dem SGB II zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat vorgetragen: In einer stationären Einrichtung wie der Fachklinik T sei es nach der ständigen
verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht möglich, einen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen. Im Übrigen
schließe § 7 Abs. 4 SGB II einen Leistungsanspruch für Personen aus, die länger als sechs Monate in einer
stationären Einrichtung untergebracht seien. Die Prognose über die Dauer des Einrichtungsaufenthaltes sei zu Beginn
einer Maßnahme zu treffen. Begonnen habe die Maßnahme am 14. April 2004. Auch die Einrichtung D e. V. in K sei
eine stationäre Einrichtung im Sinne dieser Vorschrift. Damit sei der Kläger insgesamt 14 1/2 Monate ohne
Unterbrechung in stationären Einrichtungen untergebracht gewesen. § 7 Abs. 4 SGB II normiere einen Zeitraum und
nicht etwa eine Frist, die nach Auffassung des Klägers erst mit Inkrafttreten des SGB II am 1. Januar 2005 zu laufen
begonnen habe. Dies entspreche auch der bisherigen sozialgerichtlichen Rechtsprechung.
Das Sozialgericht Kiel hat mit Beschluss vom 10. Juni 2005 den Rechtsstreit an das Sozialgericht Schleswig
verwiesen. Das Sozialgericht Schleswig hat nach entsprechendem Hinweis an die Beteiligten die Klage mit
Gerichtsbescheid vom 17. Januar 2007 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Dem Anspruch stehe bereits der
über sechs Monate dauernde Aufenthalt in der Fachklinik für Suchttherapie entgegen. Zwar handele es sich bei dieser
Fachklinik nicht um ein Krankenhaus im Sinne des § 107 Abs. 1 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs,
sondern um eine Rehabilitationseinrichtung im Sinne des Absatzes 2 der Vorschrift. Auch Letztere erfasse jedoch § 7
Abs. 4 SGB II in seiner bis zum 31. Juli 2006 geltenden Fassung. Sinn des Gesetzes sei es, diejenigen von
Leistungen nach dem SGB II auszuschließen, die entweder nach § 8 SGB II nicht erwerbsfähig seien oder aufgrund
einer länger als sechs Monate andauernden stationären Behandlung dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stünden.
Damit komme es auch nicht auf das Inkrafttreten des SGB II für die Beurteilung der Sechsmonatsfrist an.
Gegen den ihm am 8. Februar 2007 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 8. März 2007 bei dem
Schleswig-Holsteini¬schen Landessozialgericht eingelegte Berufung des Klägers. Zur Begründung trägt er ergänzend
vor: Bei der Einrichtung T handele es sich um keine stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II, allenfalls
um eine teilstationäre Einrichtung, da ansonsten eine Praktikumstätigkeit nicht möglich gewesen wäre. Teilstationäre
Einrichtungen erfasse § 7 Abs. 4 SGB II jedoch nicht. Im Übrigen habe das Sozialgericht nicht ausreichend die
verzögerte Bearbeitung der Anträge im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs berücksichtigt. Die
seinerzeitige Sachbearbeiterin hätte ihn in seiner speziellen Situation zur Vermeidung von Versorgungslücken parallel
auf einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII hinweisen müssen. In dem Falle wäre er der
Aufforderung sofort nachgekommen.
Der Kläger beantragt schriftlich sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Schleswig vom 17. Januar 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 5.
April 2005 in der Fassung des Widerspruchsbe- scheides vom 3. Mai 2005 aufzuheben und die Beklagte zu
verurteilen, ihm vom 1. Januar bis 30. März 2005 Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie sieht sich durch die angefochtene Entscheidung bestätigt.
Dem Senat liegen die Verwaltungsakten der Beklagten und die Gerichtsakte vor, auf deren Inhalt wegen weiterer
Einzelheiten verwiesen wird.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Zutreffend hat es die Beklagte
abgelehnt, dem Kläger Leistungen nach dem SGB II für die streitgegenständliche Zeit zu gewähren. Der diese
Entscheidung bestätigende Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden. Dem Anspruch des
Klägers stehen mehrere Gründe entgegen.
So bestimmt § 7 Abs. 4 SGB II, dass Leistungen nach diesem Buch nicht erhält, wer für länger als sechs Monate in
einer stationären Einrichtung untergebracht ist oder Rente wegen Alters bezieht. Was eine vollstationäre Einrichtung
ist, definiert die Vorschrift nicht näher. In Literatur und Rechtsprechung wird unter einer stationären Einrichtung eine
auf Dauer angelegte Kombination sächlicher und persönlicher Mittel verstanden, die zusammengefasst sind zu einem
besonderen konzeptionellen Zweck und unter der Gesamtverantwortung eines (Einrichtungs-)Trägers zwecks
ganzheitlicher Betreuung steht (vgl. Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 7 Rz. 74 unter Hinweis auf
BVerwGE 95, 150; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, Stand VII/06, K § 7 Rz. 28a; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB
II, 2005, § 7 Rz. 34). Im Krankenversicherungsrecht grenzt sich die stationäre Behandlung von der ambulanten
Behandlung insbesondere durch den Aufenthalt über Nacht einschließlich Verpflegung ab, da durch sie die
Eingliederung augenfällig wird (z. B. BSG, Urt. v. 28. Februar 2007 B 3 KR 17/06 R, SozR 4-2500 § 39 Nr. 8).
Der Senat geht in Übereinstimmung mit dem Sozialgericht davon aus, dass es sich bei der Fachklinik für
Suchttherapie T nach den vorgenannten Grundsätzen um eine stationäre Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II
handelt, da Inhalt der Therapie dort die ganzheitliche Betreuung des Klägers, gerichtet auf ein suchtfreies Leben, war.
Davon ging neben dem Leistungsträger auch der Kläger aus, der in seiner Klageschrift ausdrücklich ausgeführt hat,
seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der stationären Einrichtung vom T gehabt zu haben. Die vom Kläger durchgeführten
Praktika stehen dem nicht entgegen, wie er nunmehr meint. Vielmehr ist gerade ein solches Praktikum, wie die
Internetdarstellung der Fachklinik (s. dort unter www.life-challenge.de) zeigt, ausdrücklicher Inhalt der sog. "Phase 4
Adaptionsphase". Der Kläger irrt, wenn er meint, vollstationär setze den ganztägigen Aufenthalt in der Einrichtung
voraus. Maßgebend ist vielmehr der ganzheitliche und ganztägige Betreuungszweck, der auch oder gerade in einer
solchen externen Maßnahme Ausdruck finden kann (vgl. auch Brühl/Schoch, a. a. O.).
Darüber hinaus hatte der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in der Klinik oder auf F mit der Folge, dass eine
örtliche Zuständigkeit der Beklagten für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II gemäß § 36 SGB II nicht
bestand. Ob ein Leistungsberechtigter einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, richtet sich nach § 30 Abs. 3
Satz 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat danach jemand dort, wo er sich unter
Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend
verweilt. Dabei sind in erster Linie objektive Lebensumstände und das zeitliche Element ("nicht nur vorübergehend")
maßgebend. Eine Person begründet dann den gewöhnlichen Aufenthalt, wenn sie den Willen hat, diesen Ort oder
dieses Gebiet bis auf Weiteres, also nicht nur vorübergehend oder besuchsweise, zum Mittelpunkt der
Lebensbeziehung zu machen, und diesen Willen auch verwirklicht. Daran fehlt es generell in einer Einrichtung wie der
vorliegenden, die auf einen zeitlich begrenzten wenn auch längere Dauer umfassenden Aufenthalt gerichtet ist. Dass
der Kläger nach seinem Vortrag die Aufnahme einer Tätigkeit auf F beabsichtigte, ändert daran nichts. Denn aus
seiner (subjektiven) Planung, ein Arbeitsverhältnis aufzunehmen und eine Wohnung anzumieten, wurde nichts. Dieser
(subjektive) Wille des Klägers manifestierte sich (objektiv, z. B. Anmietung einer Wohnung) in keinster Weise. In dem
Fall kommt den vorrangigen objektiven Merkmalen die höhere Bedeutung zu. Jedenfalls lagen keine "erkennbaren"
Umstände vor, die darauf schließen ließen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet länger verweilen wollte.
Auch aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch vermag der Kläger seinen Klageanspruch nicht herzuleiten. Er
rügt gegenüber der Beklagten eine verzögerte Sachbearbeitung und unzulängliche Aufklärung, andernfalls hätte er
parallel einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII gestellt. Leistungen nach diesem Gesetzbuch kann der
Kläger jedoch nicht gegenüber der Beklagten geltend machen. Hierfür ist vielmehr der Träger der Sozialhilfe
zuständig, der sich ggf., bei Vorliegen der Voraussetzungen, das Fehlverhalten anderer Verwaltungsträger zurechnen
lassen muss. Und für einen Anspruch aus Amtspflichtverletzung wegen eines Fehlverhaltens eines Bediensteten der
Beklagten ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten ausgeschlossen (Art. 34 Satz 3 Grundgesetz). Zudem vermag
der Senat keine Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten der Beklagten zu erkennen. Sie forderte mit Schreiben vom 1.
Februar 2005 den Kläger zur Vorlage von Unterlagen auf und wiederholte dies am 7. Februar 2005. Wann diese
Unterlagen bei ihr eingingen, wird aus den Verwaltungsakten nicht deutlich. Im Laufe des gleichen Monats führte die
Beklagte aber Ermittlungen durch. Auf das Schreiben der Einrichtung auf F vom 14. März 2005, in dem auf die
Problematik der Krankenversicherung verwiesen wurde, erging der Ablehnungsbescheid vom 5. April 2005. Darin liegt
keine verzögerte Sachbearbeitung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Gründe für eine Revisionszulassung liegen nicht vor.