Urteil des LSG Sachsen vom 20.01.2011

LSG Fss: aufschiebende wirkung, geschiedene frau, mitwirkungspflicht, entziehung, eingliederung, beschränkung, leistungsverweigerung, anfechtungsklage, auszahlung, rechtswidrigkeit

Sächsisches Landessozialgericht
Beschluss vom 20.01.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 5 AS 7971/10 ER
Sächsisches Landessozialgericht L 7 AS 804/10 B ER
I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 17. Dezember 2010
aufgehoben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom
23.11.2010 festgestellt.
II. Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Instanzen hat der Antragsgegner zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Antragsteller) wendet sich gegen die Entziehung zuvor
bewilligter Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) mit
Wirkung zum 01.12.2010.
Der Antragsteller stand bereits seit dem Jahr 2005 bis 31.07.2008 im Leistungsbezug nach dem SGB II bei dem
Antragsgegner und Beschwerdegegner (im Folgenden: Antragsgegner). Im Sommer 2008 erhielt der Antragsteller aus
dem Verkauf eines Hausgrundstücks durch seine geschiedene Frau einen Geldbetrag, dessen Höhe der
Antragsgegner aufgrund eines anonymen Hinweises mit ca. 70.000,00 EUR vermutet. Der Versuch, vom
Prozessbevollmächtigten des Antragstellers, welcher mit der Abwicklung betraut war, Auskunft über den
Verkaufserlös zu erhalten, blieb erfolglos (SächsLSG, Urteil vom 25.03.2010 - L 2 AS 391/09).
Auf seinen neuen Antrag vom 29.03.2010 hin bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller vorläufig mit Bescheid
vom 07.06.2010 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum April bis September 2010. Es sei ein Nachweis
vorzulegen, aus dem der Zufluss des Verkaufserlöses aus der Hausveräußerung ersichtlich sei.
Bei Antragstellung hatte der Antragsteller angegeben, lediglich über Vermögen in Höhe von 7.500,00 EUR sowie einen
PKW Baujahr 1993 zu verfügen. Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 30.08.2010 hin bewilligte der Antragsgegner
mit Bescheid vom 24.09.2010 Leistungen für den Zeitraum 01.10.2010 bis 28.02.2011. Die Bewilligung erfolgte
wiederum vorläufig. Es sei ein Nachweis vorzulegen, aus dem der Zufluss des Verkaufserlöses aus der
Hausveräußerung ersichtlich sei. Der Nachweis sei bis spätestens 10.10.2010 vorzulegen. Die Mitwirkungspflicht
ergebe sich aus § 60 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Sollte der Antragsteller seiner Mitwirkungspflicht nicht
vollumfänglich nachkommen, könnten die Leistungen entzogen werden, § 66 SGB I.
Mit Versagungs-/Entziehungsbescheid vom 23.11.2010 verfügte der Antragsgegner, die o.a. Leistungen würden ab
01.12.2010 ganz entzogen. Die Nachweise über den Zufluss des anteiligen Verkaufserlöses, die für die Prüfung der
Anspruchsvoraussetzungen zwingend benötigt würden, seien trotz Belehrung über die Rechtsfolgen nicht vollständig
vorgelegt worden. Dadurch sei der Antragsteller seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen und habe die
Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert. Über den dagegen eingelegten Widerspruch vom 07.12.2010 hat
der Antragsgegner nach Aktenlage noch nicht entschieden.
Am 07.12.2010 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Dresden (SG) Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt
und dabei angegeben, er verfüge nur noch über 650,00 EUR. Das SG hat das Begehren sachgemäß als Antrag auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 23.11.2010 ausgelegt und mit
der Begründung abgewiesen, der Bescheid des Antragsgegners vom 23.11.2010 erweise sich nach Aktenlage als
rechtmäßig, da der Antragsteller seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei. Nur durch die Angabe, wie viel
Geld im Jahre 2008 nach der Hausveräußerung durch die Ex-Frau an ihn geflossen sei und durch substantiierten
Vortrag, wann dieses Geld für welche Zwecke im Einzelnen verbraucht worden sei, könne der Antragsgegner die
Hilfebedürftigkeit des Antragstellers beurteilen. Pauschale Behauptungen reichten hierfür nicht aus.
Gegen diesen seinem Prozessbevollmächtigten am 20.12.2010 zugestellten Beschluss richtet sich die am 21.12.2010
eingegangene Beschwerde, mit welcher der Antragsteller seinen eidesstattlich versicherten Vortrag wiederholt und
vertieft. Das Haus, das veräußert wurde, habe der geschiedenen Ehefrau des Antragstellers gehört. Diese habe es im
Jahre 2008 veräußert. Da der Antragsteller einen vertraglichen Anspruch auf Eintragung einer Auflassungsvormerkung
im Grundbuch zur Sicherung eines Rückauflassungsanspruches gehabt habe, habe die Ehefrau dem Antragsteller das
Recht vor Veräußerung des Hausgrundstückes abgekauft. Die Geldzahlung habe er zur Schuldentilgung verwandt. Die
Zahlung sei zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem keine Leistungen beantragt waren oder gewährt worden seien. In den
Besitz des Geldes sei er nicht gekommen. Eine Verfügungsbefugnis hierüber habe er nicht erlangt. Seit Juli 2010 sei
der Betrag verbraucht.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 17.12.2010 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung des
Widerspruchs vom 07.12.2010 gegen den Versagungs- und Entziehungsbescheid vom 23.11.2010 festzustellen,
hilfsweise anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf die Begründung des angefochtenen Beschlusses des SG. Auch unter Berücksichtigung des
Hinweises des Senats vom 18.01.2011, wonach von der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den
Versagungs-/Entziehungsbescheid auszugehen sei, werde daran festgehalten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte sowie die
vorgelegten Behördenvorgänge des Antragsgegners.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Der Widerspruch des Antragstellers vom 07.12.2010 gegen den Versagungs-/Entziehungsbescheid des
Antragsgegners vom 23.11.2010 hat aufschiebende Wirkung, da keiner der Ausnahmefälle des § 86a Abs. 2 SGG
gegeben ist. Insbesondere liegt nicht, wie der Antragsgegner offenbar meint, der Fall des § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG vor,
wonach die aufschiebende Wirkung in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen entfällt. Denn § 39 Nr. 1
SGB II (in der ab 01.01.2009 geltenden Fassung des Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen
Instrumente vom 21.12.2008, BGBl. I, Seite 2917) ist nicht einschlägig. Nach dieser Vorschrift haben Widerspruch
und Anfechtungsklage lediglich gegen Verwaltungsakte, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende
aufheben, zurücknehmen, widerrufen oder herabsetzen oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten des
erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bei der Eingliederung in Arbeit regeln, keine aufschiebende Wirkung. Die Versagung
oder Entziehung von Leistungen nach § 66 SGB I wird mithin von den in § 39 Nr. 1 SGB II bezüglich einer
Leistungsverweigerung abschließend aufgeführten Fallvarianten nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm nicht erfasst
(vgl. auch Groth in GK-SGB II, § 39 RdNr. 25, Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, K § 39 RdNr. 75, ferner
Coseriu/Holzhey in Linhart/Adolph, SGB II, § 39 RdNr. 10). Die Vorschrift stellt eine Beschränkung des
Rechtsschutzes dar und darf daher nicht erweiternd ausgelegt werden (Conradis in LPK, SGB II, § 39 RdNr. 11). Bei
der Versagung und Entziehung nach § 66 SGB I handelt es sich auch um etwas grundsätzlich anderes als die in § 39
Nr. 1 SGB II angesprochenen Fallgestaltungen, denn im Unterschied zu den dort angesprochenen Alternativen wird in
einem Verfahren nach § 66 SGB I über die Anspruchsvoraussetzungen der Leistungen gerade nicht entschieden (vgl.
BSG, Urteil vom 17.04.1986, 7 RAR 91/84, Bundesverwaltungsgericht, BVerwGE 71, 8, 10 f., LSG Baden-
Württemberg, Beschluss vom 08.04.2010 - L 7 AS 304/10 ER-B).
Da der Antragsgegner die aufschiebende Wirkung des rechtzeitig eingelegten Widerspruchs des Antragstellers
missachtet und seit 01.12.2010 die mit Bescheid vom 24.09.2010 für den aktuellen Bewilligungszeitraum Oktober
2010 bis Februar 2011 bewilligten Leistungen nicht auszahlt, hält es der Senat in entsprechender Anwendung des §
86b Abs. 1 SGG für geboten, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs festzustellen (vgl. hierzu SächsLSG,
Beschluss vom 03.07.2009 – L 7 B 243/08 AY-ER, RdNr. 20, 21 m.w.N. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom
02.07.2004, L 13 RJ 2467/04 ER-B, Beschluss vom 08.04.2010 - L 7 AS 304/10 ER-B, Keller in Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, § 86b RdNr. 15 SGG, 9. Aufl. 2008).
Dabei geht der Senat davon aus, dass der Antragsgegner sich entsprechend seiner sich aus Artikel 20 Abs. 3
Grundgesetz ergebenden Bindung an Gesetz und Recht verhalten wird und unter Beachtung der aufschiebenden
Wirkung des Widerspruchs die Auszahlung der Leistungen für Dezember 2010, Januar 2011 und demnächst Februar
2011 vornehmen wird, so dass es keiner einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG bedarf.
Selbst für den Fall, dass der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hätte, wäre vorliegend im Übrigen die
Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch den Senat gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG erfolgt. Denn es spricht
Überwiegendes für die Rechtswidrigkeit des Versagungs-/Entziehungsbescheides vom 23.11.2010, weil die
Tatbestandsvoraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I nicht vorliegen. Soweit der Antragsgegner vom
Antragsteller gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 1 SGB I verlangt hat, Nachweise über den Zufluss seines anteiligen
Verkaufserlöses für das Grundstück Z St 26 in P vorzulegen, handelt es sich dabei um keine Tatsache, die für die
Leistung erheblich ist. Denn erheblich für den Leistungsanspruch des Antragstellers nach dem SGB II sind dessen
aktuelle Vermögensverhältnisse und nicht die Vermögensverhältnisse, die möglicherweise vor zwei Jahren bestanden
haben. Seine aktuellen Vermögensverhältnisse hat der Antragsteller im Leistungsantrag vom 29.03.2010 erklärt.
Solange der Antragsgegner keine greifbaren Anhaltspunkte dafür hat, dass diese aktuell erklärten
Vermögensverhältnisse nicht den Tatsachen entsprechen, handelt es sich bei der streitigen Mitwirkungsverpflichtung
um eine solche, die gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I nicht besteht, weil ihre Erfüllung nicht in einem angemessenen
Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung steht. Mangels Bestehen dieser konkreten
Mitwirkungsverpflichtung kann die Versagung/Entziehung nach § 66 Abs. 1 SGB I auch nicht auf eine Verletzung
dieser Mitwirkungspflicht gestützt werden, weshalb der Bescheid rechtswidrig ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.