Urteil des LSG Sachsen vom 09.02.2006

LSG Fss: erlöschen des anspruchs, drohende gefahr, hauptsache, behörde, botschaft, ausländer, rechtsmissbrauch, verbrauch, anerkennung, taschengeld

Sächsisches Landessozialgericht
Beschluss vom 09.02.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Chemnitz S 2 AY 3/05 ER
Sächsisches Landessozialgericht L 3 B 179/05 AY-ER
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 25. Juli 2005 wird zurückgewiesen. II. Die
Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zur
Hälfte zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die vorläufige Bewilligung von Leistungen nach § 2 Asylbe-werberleistungsgesetz
(AsylbLG).
Der am ...1970 geborene Beschwerdeführer (Bf.) ist irakischer Staatsangehöriger. Er reiste am 06.03.2002 in die
Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter. Seither erhält er
Leistungen in Form von Sachleis-tungen sowie ein monatliches Taschengeld in Höhe von 40,90 EUR auf der
Grundlage von § 3 AsylbLG.
Den Asylantrag lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge durch Bescheid vom
16.01.2003 ab und führte hierzu aus, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz und
Abschiebungshindernisse nach § 53 des Ausländergesetzes nicht vorlägen. Der Bf. werde aufgefordert, die
Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen; im Falle
der Klageerhebung ende die Aus-reisefrist einen Monat nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens.
Sollte der Kläger die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er abgeschoben.
Mit der hiergegen zum Verwaltungsgericht Chemnitz (VG) erhobenen Klage machte der Bf. die Feststellung des
Vorliegens von Abschiebungshindernissen nach § 53 Ausländerge-setz geltend. Diesen Antrag wies das VG durch
Urteil vom 08.10.2004 zurück. Ein Ab-schiebeschutz nach § 53 Abs. 1 und 4 Ausländergesetz könne nicht
beansprucht werden. Es bestehe jedoch aufgrund der derzeitigen Erlasslage für den Freistaat Sachsen und einer aus
individuellen Gründen erteilten Duldung für den Bf. ein vergleichbarer Schutz vor Ab-schiebung. Da der Bf. über kein
gültiges Reisedokument verfügte, wurde ihm durch das Landratsamt Zwickauer Land eine Duldung gemäß §§ 55, 56
Ausländergesetz i. V. m. § 5 Abs. 3 Nr. 1 AAZuVO zum Zwecke der Ausweisbeschaffung erteilt. Mit Bescheid vom
26.01.2005 des Regierungspräsidiums Chemnitz wurde der Bf. ver-pflichtet, bis zum 26.01.2006 alle erforderlichen
Vorbereitungen zur Ausstellung eines gültigen Reisepasses zu treffen.
Am 07.01.2005 beantragte der Bf. Leistungen nach § 2 AsylbLG i. V. m. dem SGB XII.
Dies lehnte die Beschwerdegegnerin (Bg.) durch Bescheid vom 02.03.2005 ab, da kein Abschiebungsschutz nach §
53 Abs. 1 und 4 Ausländergesetz bestehe.
Hiergegen legte der Bf. am 16.03.2005 Widerspruch ein, weil aufgrund der Erlasslage des Freistaates Sachsen ein
vergleichbarer Abschiebungsschutz bestehe. Zu diesem Wider-spruch liegt bislang noch keine Entscheidung vor.
Parallel hierzu hat der Bf. am 16.03.2005 die Leistungen nach § 2 Abs. 1, 2 i. V. AsylbLG i. V. m. dem SGB XII im
Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht Chemnitz (SG) geltend gemacht und zur Begründung auf
die unsichere Lage im Iran ver-wiesen, wodurch eine freiwillige Rückkehr nicht zumutbar sei. Da eine Ausreise im
nächs-ten Jahr nicht ausgeschlossen werden könne, sei eine schnelle Entscheidung erforderlich; er brauche das
Geld. Er habe sich bereits mit seiner Botschaft und seiner Familie im Irak in Verbindung gesetzt, um einen gültigen
Pass zu erhalten. Bemühungen, den Pass während des Asylverfahrens zu beantragen, könnten nicht verlangt werden,
zudem sei die Botschaft während des Krieges zeitweise geschlossen gewesen. Ferner sei es sein Recht, die
gesetzte Frist voll auszuschöpfen um ggf. bis dahin je nach Lage im Iran entsprechende weitere Anträge im Rahmen
des Asylverfahrensgesetzes zu stellen.
Diesen Antrag hat das SG durch Beschluss vom 25.07.2005 abgelehnt. Ein Anordnungs-grund sei nicht gegeben, da
der Bf. ein monatliches Taschengeld und Sachleistungen zur Verpflegung erhalte. Der bloße Vortrag des Bf., er
brauche das Geld, sei nicht ausreichend zur Begründung eines Anordnungsgrundes. Zudem sei auch ein
Anordnungsanspruch zweifelhaft, denn der Bf. habe keinerlei Nach-weise über Aktivitäten zur (Wieder-)Beschaffung
seines Passes vorgelegt.
Hiergegen hat der Bf. am 25.08.2005 Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat er vorgetragen, er habe dem SG
mehrfach dargelegt, dass er in An-wesenheit der Sozialarbeiterin die Botschaft angerufen habe. Zwischenzeitlich habe
er aus dem Irak über seine Familie die notwendigen Unterlagen erhalten und diese am 23.09.2005 der Botschaft
vorgelegt. Wann er den Pass erhalte, könne er derzeit nicht sagen. Eine dringende Entscheidung sei geboten, denn er
habe geplant, die Leistungen nach § 2 AsylbLG im Rahmen des gesetzlich Zulässigen für die Rückkehr anzusparen.
Von den zirka 40 EUR könne er demgegenüber nichts ansparen.
Am 26.09.2005 hinterlegte schließlich der Bf. einen auf ihn ausgestellten gültigen Reisepass bei der Bg. Ab dem
01.11.2005 bewilligte diese die begehrten Leistungen nach § 2 AsylbLG.
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Akten dem LSG zur Entscheidung vorgelegt.
Der Beschwerdeführer beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 25. Juli 2005 aufzuheben und die Beschwerdegegnerin zu
verpflichten, ihm für die Zeit vom 07.01.2005 bis 31.10.2005 im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig
Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren.
Die Beschwerdegegnerin beantragt sinngemäß,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Zu den weiteren Einzelheiten des Verfahrens wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszü-ge, die Verwaltungsakte der
Bg. sowie die abgelichteten Auszüge der Ausländerakte ver-wiesen.
II. 1. Die statthafte Beschwerde ist zulässig gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Beschwerde ist jedoch ? in der Hauptsache – nicht begründet.
Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf
den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die
Verwirklichung eines Rechts des Bf. vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen
sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zu-lässig, wenn eine
solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. In Betracht kommt hier nur eine
Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG. Denn dem Antragsteller geht es nicht um die Sicherung eines
bereits bestehenden Zustan-des, sondern um die Gewährung einer Leistung.
Ein Anspruch des Bf. auf eine entsprechende Regelungsanordnung ist dann gegeben, wenn der angefochtene
Bescheid nach summarischer Prüfung mit Wahrscheinlichkeit rechtswidrig ist (Anordnungsanspruch) und wenn ohne
den Vollzug der Verwaltungsentscheidung wesentliche Nachteile abgewendet werden oder eine drohende Gefahr
verhindert wird (Anordnungsgrund). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in
sozialgerichtlichen Verfahren einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, wenn dem Betroffenen ein Abwarten bis zur
Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar wäre und möglicher-weise irreversible Nachteile drohen
(Bundesverfassungsgerichtsentscheidung – BVerfGE 46, 166).
Zumindest seit dem 01.11.2005 kann ein Anordnungsgrund nicht (mehr) angenommen werden, denn seit diesem
Zeitpunkt erhält der Bf. die begehrten Wahlleistungen.
Für die vorausgegangene Zeit – in diesem Fall auch nicht ab der Antragstellung bei Gericht – kann ein
Anordnungsgrund bereits deshalb nicht bestehen, weil mit der Gewährung und dem Verbrauch der Sachleistungen auf
der Grundlage von § 2 AsylbLG, wegen der hierdurch eingetretenen Bedarfsdeckung der eventuelle Rechtsanspruch
des Bf. auf Geld-leistungen bzw. auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Bg. nach § 2 Abs. 2 AsylbLG
unwiederbringlich erloschen ist (vgl. Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Bautzen vom 11. September 2002 ?
Aktenzeichen 4 BS 228/02 ?, JURIS, Seite 3). An dieser Stelle kann daher zunächst dahingestellt bleiben, ob ggf.
früher – vor Gewäh-rung der Barleistungen – ein Anordnungsgrund und ? ggf. – auch ein Anordnungsanspruch
gegeben gewesen wäre.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Hierbei war zu berücksichtigen, dass auf der Grundlage des Akteninhalts für den Bf. früher sowohl ein
Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch, zumindest hinsichtlich einer ermessensfehlerfreien
Entscheidung der Behörde, gegeben gewesen wäre.
Zwar ist es zutreffend, dass nach § 2 Abs. 2 AsylbLG die zuständige Behörde hinsichtlich der Form der Leistung eine
Ermessensentscheidung zu treffen hat. Im Falle einer ermes-sensfehlerhaften Entscheidung der Behörde kann der
betroffene Leistungsberechtigte des-halb regelmäßig nur eine Verbescheidung verlangen. Eine so genannte
Ermessensreduzie-rung auf Null ist ? zumindest nach den bislang bekannten Umständen – nicht eingetreten. Der Bf.
hätte damit früher einen Anordnungsgrund geltend machen können. Zwar darf das Gericht entsprechend dem Wesen
und Zweck der einstweiligen Anordnung gemäß § 86 b SGG grundsätzlich nicht vorweg nehmen, was erst im
Hauptsacheverfahren erreicht wer-den könnte. Im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Artikel 19 Abs. 4
Grundgesetz gilt dieses Verbot der (auch nur vorläufigen) Vorwegnahme der Hauptsache aber aus-nahmsweise dann
nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung effektiven Rechts-schutzes notwendig ist, insbesondere wenn
ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher
Beseitigung die Entschei-dung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom
25.10.1988, NJW 1989, 827 und Beschluss vom 19.10.1977 NJW 1978, 693). Ein solcher unwiederbringlicher
Rechtsverlust war hier durch das mit dem Verbrauch der Sachleistung verbundene Erlöschen des Anspruchs auf
ermessensfehlerfreie Entscheidung durch die Bg. gegeben. Dies gilt auch dann, wenn das Ergebnis der
Ermessensausübung noch offen ist, weil ? wie im vorliegenden Fall – keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt
und die Behörde bislang ihr Ermessen nicht rechtmäßig ausgeübt hat. Die einstweilige Anordnung kann dann auf die
Verpflichtung zur Neuverbescheidung gerichtet sein, wenn ein berech-tigtes Interesse daran besteht, dass die
Behörde möglichst frühzeitig eine (erneute) Ermessensentscheidung trifft (vgl. OVG Bautzen, a. a. O., m. w. N.).
Auch ein Anordnungsanspruch wäre insoweit zunächst gegeben gewesen. Der Bf. hätte einen Anspruch auf
ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Gewährung einer Barleis-tung gemäß § 2 Abs. 1 und 2 AsylbLG gehabt,
denn diese Leistung wäre nicht bereits mangels Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen entfallen. Zugunsten des
Bf., jeden-falls ab 06.03.2005, wäre § 2 Abs. 1 AsylbLG in der ab dem 01.01.2005 geltenden Fassung anzuwenden
gewesen. Abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG ist das Zwölfte Buch So-zialgesetzbuch (SGB XII) nach dieser
Vorschrift auf diejenigen Leistungsberechtigten ent-sprechend anzuwenden, die über eine Dauer von mindestens 36
Monaten Leistungen nach § 3 erhalten haben und die Dauer des Aufenthaltes nicht rechtsmissbräuchlich selbst beein-
flusst haben. Dies war beim Bf. ab 06.03.2005 der Fall. Ein Rechtsmissbrauch kann nicht schon dann angenommen
werden, wenn Ausländer lediglich ihrer bestehenden Ausreise-pflicht nicht nachkommen. Der Staat kann dem ? ggf. –
mit Abschiebemaßnahmen hinrei-chend begegnen. Von einem Rechtsmissbrauch i. S. von § 2 Abs. 1 AsylbLG n. F.
kann erst dann ausgegangen werden, wenn der Ausländer etwa versucht, eine Rechtsposition unter Vorspiegelung
falscher Tatsachen zu erlangen oder auszunutzen (Beschluss des SG Hannover vom 20.01.2005, Aktenzeichen S 51
AY 1/05 ER, InfAuslR 2005, 158/159). Auch wenn die Bg. dies hier aufgrund der Behauptung des fehlenden Passes,
zeitweilig vermutet haben mag, kann letztlich ein solcher Tatbestand nicht verifiziert werden. Viel-mehr hat der Bf.
ersichtlich an der Beibringung eines gültigen Reisepasses mitgewirkt.
Dieser Beschluss ist abschließend, § 177 SGG.