Urteil des LSG Sachsen vom 25.02.2008

LSG Fss: aufschiebende wirkung, konstitutive wirkung, ex nunc, ex tunc, vorläufiger rechtsschutz, allgemeines verwaltungsrecht, vollstreckung, verwaltungsakt, vollziehung, behörde

Sächsisches Landessozialgericht
Beschluss vom 25.02.2008 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Leipzig S 17 U 63/06 LW-ER
Sächsisches Landessozialgericht L 6 B 262/07 U-LW-ER
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 23.04.2007 wird zurückgewiesen. II. Die
Beteiligten haben einander auch für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrte vorläufigen Rechtsschutz gegen Teil 1 des Beitragsnachforderungsbescheides der
Antragsgegnerin vom 18.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.04.2006, mit welchem Beiträge
zur gesetzlichen Unfallversicherung für die Jahre 1995 bis 1999 nachgefordert wurden.
Der an das Sozialgericht Leipzig gerichtete Antrag, insoweit die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 86b Abs.
1 Satz 1 Nr. 1 SGG anzuordnen, wurde mit Beschluss vom 23.04.2007 zurückgewiesen. Nach der Auffassung des
Sozialgerichts ist bei summarischer Prüfung ein Erfolg der Klage des Antragstellers gegen Teil 1 des Bescheides vom
18.11.2005 hinsichtlich der Beitrags-forderung für die Umlagejahre 1995 bis 1999 nicht wahrscheinlicher als ein
Misserfolg.
Mit der Beschwerde hat der Kläger im Wesentlichen geltend gemacht, dass bei einer Beitragsnachforderung, die sich
auf §§ 48, 45 SGB X stütze, Widerspruch und Klage aufschiebende Wirkung haben müssten.
Die Forderungen aus dem streitgegenständlichen Bescheid wurden entsprechend einer Stundungsvereinbarung bis
zum 15.09.2007 vollständig ausgeglichen.
Der Antragsteller hat daraufhin das Verfahren nicht für erledigt erklärt, sondern dargelegt, dass im Falle einer
nachträglichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung die Antragsgegnerin zur Rückzahlung der bereits beglichenen
Forderungen verpflichtet wäre.
II.
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.
Das eigentliche Anordnungsverfahren nach § 86b Abs. 1 Ziff. 2 SGG hat sich erledigt, da der angefochtene
Verwaltungsakt bereits vollzogen wurde. Eine Fortsetzung des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes in der
Beschwerdein-stanz ist daher theoretisch unter drei Gesichtspunkten denkbar:
- ein Fortsetzungsfeststellungsverfahren in dem Sinne, dass das Beschwerdegericht ausspricht, dass die
aufschiebende Wirkung hätte angeordnet werden müssen, - ein Folgenbeseitigungsverfahren in dem Sinne, dass das
Gericht die Beklagte zur Wiederauszahlung der "rechtswidrig erlangten" Leistungen verurteilt, - ein Verfahren nach §
86 Abs. 1 Satz 2 SGG.
Ein Fortsetzungsfeststellungsantrag ist im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nicht zulässig (vgl. Meyer-
Ladewig/Keller SGG, 8. Auflage, § 86b Rd.-Nr. 9b). Mit dem vorläufigen Charakter einstweiliger Anordnungen ist es
nicht vereinbar, Regelungen für einen theoretisch in der Zukunft liegenden Fall (Stichwort: Wiederholungsgefahr) zu
treffen. Die Feststellung, dass eine bereits vollzogene Vollstreckung bzw. der Vollzug eines Verwaltungsaktes
rechtswidrig waren, wäre systemwidrig: Beugt sich der Adressat freiwillig, so kann dieses Verhalten nicht als
rechtswidrig hingestellt werden, auch wenn sich nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens herausstellt, dass der
zugrunde liegende Verwaltungsakt in der Tat materiell rechtswidrig war. Geschieht der Vollzug unter Inanspruchnahme
des Verwaltungszwanges, so stehen dem Adressaten eine Reihe spezieller Rechtsbehelfe gegen unzulässige
Vollstreckungsmaßnahmen zur Seite. Speziell auf die Inanspruchnahme einstweiligen Rechtsschutzes bezogen
(Anordnung der aufschiebenden
Wirkung) gilt jedenfalls, dass eine Vollstreckung von Verwaltungsakten, die vom Typ her sofort vollziehbar ist, nie
rechtswidrig ist, solange nicht ein Gericht die aufschiebende Wirkung angeordnet hat. Aus Gründen der Rechtsklarheit
muss einer solchen Anordnung (wenn sie nicht ausnahmsweise analog § 86b Abs. 1 Ziff. 2 SGG lediglich
feststellende Wirkung hat, also klarstellt, dass der Verwaltungsträger aufgrund unrichtiger Subsumtion von einer
sofortigen Vollziehbarkeit ausgegangen ist) konstitutive Wirkung zukommen. Die Anordnung der aufschiebenden
Wirkung erfolgt also, wie sich auch bereits aus der Gesetzesformulierung ergibt, ex nunc (a.a.: M.-L./Keller a.a.O. §
86b Rd.-Nr. 19).
Ein der Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechender Ausspruch wäre also sachlich falsch – die Vollstreckung aus
gemäß § 86a Abs. 2 sofort vollziehbaren Verwaltungsakten ist solange nicht rechtswidrig, wie nicht die sofortige
Vollziehung entweder durch Behördenentscheidung nach § 86a Abs. 3 Satz 1 SGG oder durch Gerichtsentscheidung
dispensiert ist – und darüber hinaus ließe sich auch kaum ein Interesse des Klägers an einer solchen Feststellung
konstruieren, denn aus ihr würden sich weder mittelbar noch unmittelbar rechtliche Vorteile für den Adressaten
ergeben. Es ist daher einhellige Meinung, dass ein Fortsetzungsfeststellungsantrag im Rahmen einer einstweiligen
Anordnung unzulässig ist (Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 3. Aufl. Rd.-Nr.
319 m. w. N., BVerwG, Entscheidung vom 27.01.1995 - 7 VR 16/94 -). Aus diesen Gründen kommt auch eine
Umdeutung des Antrags nach § 86a Abs. 2 Ziff. 2 SGG in einen Fortsetzungsfeststellungsantrag nicht in Betracht
(LSG Niedersachsen-Bremen, Entscheidung vom 09.09.2002 - L 4 LR 141/02 ER -).
Der Antragsteller hat seinen Antrag aufrechterhalten, da er eine Wiederauskehrung der aufgrund des angefochtenen
Verwaltungsaktes inzwischen geleisteten Beträge begehrt. In diesem Zusammenhang lässt sich also an eine analoge
Anwendung von § 131 Abs. 1 Satz 1 SGG – bzw. § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO (Folgenbeseitungsanspruch) denken.
Auch diese Analogiebildung ist allerdings unzulässig.
Nach einhelliger Rechtsprechung (vgl. VG Stuttgart, Entscheidung vom 01.07.2007 - 11 K 2173/03 -; OVG Münster,
Entscheidung vom 27.10.2004 - 1 B 1329/04 -; BVerwG, Ent-scheidung vom 16.09.1977 - VIIC 13./76 -) ist die
Folgenbeseitigung dem Hauptsachepro-zess vorbehalten. Auch hier gilt, dass es keinen Ansatzpunkt gibt, eine
Vollziehung als rechtswidrig anzusehen, solange sie aufgrund eines vollziehbaren Verwaltungsaktes erfolgt ist.
Ansatzpunkt wäre also allenfalls die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst, die aber gerade im Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes nicht festgestellt werden kann. Der Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch setzt daher
stets voraus, dass der vollzogene Verwaltungsakt zwischenzeitlich aufgehoben worden ist (Maurer, Allgemeines
Verwaltungsrecht § 29 Rd.-Nr. 8).
Der Senat verkennt nicht, dass der Antragsteller durchaus ein berechtigtes Anliegen vertritt, wenn er darauf hinweist,
dass es die Behörde nicht in der Hand haben darf, ein Verfahren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch
möglich schnelle Vollstreckung unzulässig zu machen. Der Gesetzgeber hat dieses Problem gesehen und mit dem 6.
SGG-Änderungsgesetz durch § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG eine Handhabe gegeben, durch Gerichtsanordnung sehr wohl
die angestrebte Wiederauszahlung zu erreichen. In den Materialien heißt es dazu (BR-Drucks 132/01 Seite 52): "Satz
2 stellt sicher, dass das Gericht einem Bestreben, vollendete Tatsachen zu schaffen, entgegenwirken kann; dabei
werden vollzogene und freiwillig befolgte Verwaltungsakte gleich behandelt". Grundsätzlich hat die Behörde ein
Vollzugsermessen. So steht es beispielsweise der Finanzverwaltung frei, auch bei der Eintreibung hinterzogener
Steuern Ratenzahlungen zu vereinbaren, eine Pflicht zur Vollstreckung besteht nicht (vgl. Finanzgericht München,
Urteil vom 28.05.1998 - 13 K 1411/97 -). Von diesem Vollzugsermessen hat im vorliegenden Fall die Antragsgegnerin
auch Gebrauch gemacht, indem sie dem Antragsteller Ratenzahlung eingeräumt hat. Grundsätzlich ist ein solches
behördliches Ermessen – wie jedes behördliche Ermessen – von den Gerichten nur auf Ermessensfehler zu
überprüfen.
Hier setzt nun jedoch § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG an: In dieser besonderen Situation ist das Gericht ermächtigt, sein
eigenes Ermessen an die Stelle des Behördenermessens zu setzen. Die Anordnung nach § 86 Abs. 1 Satz 2 ist eine
Anordnung sui generis, die sich unabhängig von dem erledigten Verfahren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung
lediglich mit der Frage befasst, auf welcher Seite die streitbefangenen Beträge einstweilen zu verbleiben haben. Der
Übergang von dem Antrag nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Ziff. 2 SGG zu dem nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG ist auch
noch in der Beschwerdeinstanz möglich (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.01.2003 – L 3 KA
308/02 ER – Breith. 2003, 265). Bei der Ausübung dieses Ermessens geht es nicht mehr darum, ob ein Fall vorliegt,
der in einem solchen Maße untypisch ist, dass die gesetzliche Regelung (der sofortigen Vollziehbarkeit) nicht der
Billigkeit entspricht, vielmehr geht es um die Frage, ob – z. B. aus Op-portunitätsgesichtspunkten – die formell
rechtmäßige Vollziehung wieder ganz oder teilweise rückgängig gemacht werden sollte. Hierbei spielen also – ähnlich
wie bei der Ein-treibung hinterzogener Steuern – die Gesichtspunkte eine Rolle, dass es nicht im Interesse der
Behörde sein kann, die Existenz des Steuer- bzw. Beitragsschuldners durch eine rücksichtslose Vollstreckung zu
vernichten oder ernstlich zu gefährden. Der Senat sieht keine Anhaltspunkte, in dieser Frage eine andere
Ermessensentscheidung zu treffen, als die Beklagte sie getroffen hat. Die Ratenzahlung ist, wie der Antragsteller
auch selbst dargelegt hat, offenbar durch Aufnahme weiterer Kredite geglückt. In dieser Situation ist auch im Hinblick
auf Mitbewerber dahingehend abzuwägen, inwiefern der Antragsteller einen ungerechtfertigten Vorteil erwirbt, wenn er
die Beiträge, auf die die Antragsgegnerin einen Anspruch zu haben meint, wieder zurück erhält bzw. inwiefern er einen
ungerechtfertigten Nachteil erleidet, wenn er die Beiträge, die er meint nicht zahlen zu müssen, gleichwohl – vorläufig
– zu leisten hat. In diesem Zusammenhang spielt es eine entscheidende Rolle, dass der Antragsteller im Grunde
hauptsächlich verwaltungsverfahrensrechtliche Gründe gegen die Nacherhebung von Beiträgen geltend macht. Dass
die von der Beklagten berechneten Beiträge für die Vergangenheit nie hätten gezahlt werden müssen, hat er nicht
behauptet. Unter Zugrundelegung des Sach- und Streitstandes ist daher eher von einem ungerechtfertigen Vorteil –
auch im Hinblick auf Mitbewerber – auszugehen, wenn der Antragsteller mit den eingezo-genen Beiträgen weiter
wirtschaften könnte. Dies gilt auch und ausdrücklich für den Fall, dass sich im Hauptsachverfahren herausstellt, dass
tatsächlich aus verwaltungsverfahrensrechtlichen Gründen eine Rückzahlung zu erfolgen hat. Der Senat teilt nicht die
Auffassung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, wonach es sich bei dem in § 86b Abs. 1 Satz 2
formulierten Anspruch um einen so genannten "un-selbständigen Folgenbeseitigungsanspruch" handele (vgl.
Entscheidung vom 07.05.2007 - L 7 B 97/06 KA-ER -). Teilweise wird auch in der Kommentarliteratur vertreten, dass
die Anordnungen der aufschiebenden Wirkung Voraussetzung für eine Entscheidung nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG
sei (Adolf in Hennig SGG § 86b Rd.-Nr. 13). Hiergegen spricht aber schon die Gesetzessystematik. § 86b Abs. 1 Satz
2 ist nicht als Annex zu § 86b Abs. 1 Satz 1 Ziff. 2 konstruiert, sondern steht selbstständig neben den drei
Alternativen des Satz 1. Wäre ein unselbständiger Folgenbeseitigungsanspruch gemeint, so wäre, abgesehen von der
erwähnten systematischen Unkorrektheit, auch nicht nachvollziehbar, warum dann noch einmal die Ausübung von
Ermessen möglich sein sollte: Unselbstständiger Folgenbeseitigungsanspruch heißt, dass sich aus der nachträglichen
Anordnung der aufschiebenden Wirkung (die dann eine ex tunc-Wirkung haben müsste) sich ohne Weiteres der
Folgenbe-seitigungsanspruch ergibt. Hiervon ging ja auch der Anspruchsteller aus. Das Gericht war jedoch – wegen
der klaren Rechtslage und nicht wegen vollendeter Tatsa-chen – gehindert, nachträglich die aufschiebende Wirkung
anzuordnen. Ist ein auf eine Geldleistung gerichteter Verwaltungsakt vollzogen, so hat der ihm immanente Befehl,
eine bestimmte Summe zu zahlen, auch seine Wirkung verloren, das Schuldverhältnis ist gewis-sermaßen durch
Erfüllung erloschen. Die Anordnung einer "Bremse" für diesen Befehl ist also nicht mehr möglich. Was die vollendeten
Tatsachen angeht, welche die Beklagte während des schwebenden Klageverfahrens geschaffen hat, so finden diese
die Billigung des Senats.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht weiter anfechtbar, § 177 SGG.