Urteil des LSG Sachsen vom 26.10.2000

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Sächsisches Landessozialgericht
Urteil vom 26.10.2000 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Chemnitz S 7 KN 541/97 U
Sächsisches Landessozialgericht L 6 KN 22/99 U
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 29.03.1999 wird zurückgewiesen. II.
Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. III. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob die im Zusammenhang mit einem Infarktgeschehen im Jahre 1994 aufgetretenen
Gesundheitsstörungen Folge eines Arbeitsunfalles vom 06.07.1984 sind.
An diesem Tag wurde der Kläger bei seiner Tätigkeit als Steiger unter Tage bei der SDAG Wismut zwischen Lok und
Mittelsattel eingeklemmt. Im Bergarbeiterkrankenhaus S ... wurde eine dislozierte Trümmerfraktur des linken
Schlüsselbeins und eine Fraktur des linken Schulterblattes ohne Dislokation festgestellt. Es fand sich außerdem eine
weitere Fraktur im Bereich des Acromions. Am 12.07.1984 fand eine Operation statt. Es wurden zwei Knochensplitter
entfernt und im Übrigen das Schlüsselbein mit Draht wieder in die anatomisch richtige Lage gebracht und zur Heilung
mit Draht fixiert (blutige Reposition mit Kirschnerdrahtfixation). Die Entlassung erfolgte am 24.07.1984, die
Drahtentfernung am 19.09.1985. Sowohl Operation als auch Nachbehandlung gestalteten sich komplikationslos.
Am 06.06.1994 stürzte der Kläger plötzlich ohne ersichtlichen Grund im Badezimmer und klagte danach über
anhaltende Kopfschmerzen. Neurologische Ausfallerscheinungen bestanden nicht. Er wurde von der Hausärztin unter
dem Verdacht auf eine Gehirnerschütterung behandelt. Am 08.06.1994 führte eine kurzzeitige Bewusstlosigkeit zu
einer rechtsseitigen Lähmung und Sprachstörungen. Der Kläger wurde daraufhin vom Notarzt in das
Universitätsklinikum D ... gebracht, die sofort durchgeführte CT-Aufnahme zeigte einen alten Kleinhirninfarkt, jedoch
keinen eindeutig abzugrenzenden frischen Infarkt. Am 13.06.1994 trat erneut eine kurzzeitige Bewusstlosigkeit mit
Hemiparese links auf. Die neurologische Symptomatik war jedoch nach wenigen Stunden rückläufig. Im CT vom
13.06.1994 zeigte sich ein großer Posteriorinfarkt rechts. Am 21.10.1994 wurde ein Verschluss der Arteria vertebralis
links eindeutig festgestellt. Als Grundlage wurde eine Hypoplasie vermutet. Demgegenüber wurde im ärztlichen
Entlassungsbericht der Klinik Bavaria K ..., wo sich der Kläger vom 14.11.1994 bis zum 13.12.1994 zu einer
Anschlussheilbehandlung befunden hatte, vermutet, dass der Verschluss der Arteria vertebralis links traumatischer
Genese sei. Es könne durchaus sein, dass der festgestellte Verschluss Folge des Unfalls von 1984 sei. Auch Dr. J
... vom Institut für Neuroradiologie im Klinikum B ...- ... war der Auffassung, dass der Befund im Sinne eines
erworbenen Verschlusses der Arteria vertebralis links gewertet werden müsse. Wenn auch die Arteria cerebelli
superior rechts anormal gedoppelt sei, so sei doch von einem angiographischen Bild her eine Anomalie im Sinne einer
Hypoplasie der Arteria vertebralis links unwahrscheinlich.
Auf den Antrag des Klägers, welcher seitdem an erheblichen Ausfallerscheinungen leidet und deswegen von der
Bundesknappschaft eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) erhält, gab die Beklagte mehrere medizinische
Fachgutachten in Auftrag. Prof. Z ... vom Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in D ... hielt zur Klärung des
Zusammenhangs Zusatzbegutachtungen auf den Gebieten Neurologie, Angiologie und Augenheilkunde für erforderlich.
Sollte der Zusammenhang zwischen dem Unfall 1984 und dem Arteria-vertebralis-Verschluss von 1994 abgelehnt
werden, so sei die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 0 v. H., im Falle der Bejahung des Zusammenhangs werde
eine sehr hohe MdE resultieren. Von neurologischer Seite (Prof. R ...) wurde eingeschätzt, dass die vorhandenen
neurologischen Ausfälle sehr wohl auf eine traumatische Dissektion der linken Arteria vertebralis mit nachfolgender
Embolusablösung zurückgeführt werden könnten. Als Ursache dieser Dissektion komme jedoch nicht das im Jahr
1984 erlittene Trauma, sondern der Badezimmerunfall vom 06.06.1994, (Anstoßen mit dem Kopf gegen die Tür) in
Frage. Prof. S ... von der Augenklinik des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus äußerte die Auffassung, dass ein
Zusammenhang zwischen dem Unfallgeschehen 1984 und dem erst 10 Jahre später erlittenen Apoplex als
unwahrscheinlich anzusehen sei. Das angiologische Gutachten von Prof. D ... kommt auf Grund von mehreren
Dopplersonographien zu dem Ergebnis, dass die Arteria basilaris, die normalerweise von der rechten und linken
Arteria vertebralis gespeist wird, ein völlig normales Perfusionsmuster zeige. Dies hänge damit zusammen, dass die
rechte Arteria vertebralis eine kompensatorisch kräftige Perfusion aufweise, gewissermaßen also die Funktion der
linken Arteria vertebralis mit übernommen habe. Ein Zusammenhang des Infarktgeschehens mit dem Arbeitsunfall
von 1984 könne nicht sicher hergestellt werden. Diese Gutachten wurden daraufhin Prof. B ... von den
Berufsgenossenschaftlichen Kliniken B ... in B ... zur abschließenden Stellungnahme vorgelegt. Dr. B ... ist der
Auffassung, dass der beschriebene Hirninfarkt rechts nicht im direkten Versorgungsgebiet der Arteria vertebralis links
liege und somit auch nicht im Zusammenhang mit dem Gefäßverschluss zu sehen sei.
Mit Bescheid vom 09.01.1997 lehnte die Beklagte Entschädigung wegen des Arbeitsunfalles vom 06.07.1984 ab. Die
Schlüsselbeinfraktur sei folgenlos ausgeheilt, das Infarktgeschehen stehe nicht im Zusammenhang mit dem
Arbeitsunfall. Der dagegen erhobene Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 06.11.1997).
Im sich anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Chemnitz wurden gutachterliche Stellungnahmen
vom Klinikum B ... B ... beigezogen; Privatdozent Dr. M ... stellte fest, dass zur Ursache des Gefäßverschlusses
vom angiographischen Bild her keine sichere Aussage erfolgen könne. Dagegen hielt Privatdozent Dr. Z ... von
derselben Einrichtung einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem stattgehabten Trauma von 1984 und dem
Vertebralisverschluss links für wahrscheinlich, wobei auch eingeschränkt wird, dass das Angiographiebild lediglich
"eher" für einen erworbenen als einen angeborenen Verschluss spreche.
Mit Urteil vom 29.03.1999 hat das SG Chemnitz die Klage abgewiesen: Ein Zusammenhang zwischen dem
Unfallereignis und den Infarkten 10 Jahre später sei nicht wahrscheinlich.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers.
Er rügt, dass das SG die Einschätzung von Herrn Dr. med K ... nicht genügend beachtet habe, wonach ein
ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfallereignis und dem Vertebralisverschluss links wahrscheinlich sei. Zu dem
Kausalzusammenhang zwischen Vertebralisverschluss und Infarktgeschehen habe Dr. K ... nur deswegen keine
eindeutigen Aussagen machen können, weil ihm die Behandlungsunterlagen des Bergarbeiterkrankenhauses S ...
nicht zur Verfügung gestanden hätten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Chemnitz vom 29.03.1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 09.01.1997 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 06.11.1997 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Verletztenrente auf
Grund der Folgen der Schlaganfälle nach dem Arbeitsunfall vom 06.07.1984 zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Dem Gericht liegen neben den Gerichtsakten beider Instanzen die Verwaltungsakten der Beklagten vor.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG die angefochtenen Bescheide der Beklagten
bestätigt. Auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils wird Bezug genommen, § 153 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Kläger kann eine Entschädigung für die Folgen des Multiinfarktgeschehens nicht verlangen, da ein
Zusammenhang zu dem Arbeitsunfall vom 06.07.1984 nicht wahrscheinlich ist. Besteht die Wahrscheinlichkeit wie
hier - in einer mehrgliedrigen Kausalkette -, so "addieren" sich die Grade der Wahrscheinlichkeit im negativen Sinne:
Die Kausalzusammenhänge der Einzelglieder mit einem Faktor von jeweils kleiner als eins sind zu multiplizieren;
wenn also auch nur zweimal eine voneinander abhängige überwiegende Wahrscheinlichkeit (zweimal 55 %) gegeben
ist, so ist der Gesamtzusammenhang unwahrscheinlich (Wahrscheinlichkeit: 0,3025).
Im vorliegenden Fall ist die erste Stufe der Kausalkette der mögliche Zusammenhang zwischen Gefäßverschluss und
Unfall. Hier ist auf Grund der Lokalisation in der Tat eine starke Vermutung indiziert: Entweder während des
Unfallgeschehens oder bei den nachfolgenden Operationen kann es zu einer Dissektion der Arteria vertebralis links
gekommen sein, die nämlich im unmittelbaren Gebiet der Trümmerfraktur und vor allen Dingen im unmittelbaren
Gebiet der Operation liegt. Eine solche Verletzung kann zum Arterienverschluss führen.
Diese im wörtlichen Sinne "nahe liegende" Erklärung darf aber nicht dazu führen, die Frage, ob überhaupt eine
traumatische Okklusion vorliegt, ohne weitere Prüfung zu bejahen. Eine traumatische Okklusion wurde in dem
Gutachten - vor allen Dingen unter dem Eindruck des Geschehens vom 06.07.1984 - immer wieder für "möglich"
gehalten; medizinisch-wissenschaftlich ließ sich aber allein aus den bildgebenden Verfahren und den unmittelbaren
Untersuchungsmethoden gerade kein sicherer Anhalt für eine traumatisch bedingte Okklusion finden. Es trifft nun zu,
dass bei dem Kläger trotz der doppelt ausgebildeten Kleinhirnarterie (Anomalie) wenig für eine angeborene Okklusion
der Arteria vertebralis spricht, ausgeschlossen werden kann aber dies nicht völlig. Der Umstand, dass
Alternativerklärungen nicht zum Greifen nahe sind, erhöht nun aber nicht auf der anderen Seite die Wahrscheinlichkeit
der übrig gebliebenen bislang mehr oder weniger einzigen Erklärungen. Wenn im Bereich der haftungsausfüllenden
Kausalität keine Ursache erwiesen oder zumindest wahrscheinlich ist, kann nicht aus der Unbeachtlichkeit einer
unfallfremden Ursache auf die Zwangsläufigkeit eines Kausalzusammenhangs zur versicherten Tätigkeit geschlossen
werden (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.1991, 2 RU 31/90, Breith. 1992, 285). Schon die traumatische Verursachung des
Arterienverschlusses ist somit nicht wahrscheinlich, obwohl sie nahe liegend ist. Schon auf dieser Ebene muss daher
gesagt werden, dass die Folgen der objektiven Beweislosigkeit denjenigen treffen, der aus der Wahrscheinlichkeit
zwischen Arbeitsunfall und Körperschaden ein Recht herleiten will (vgl. Brackmann, Handbuch der
Sozialversicherung, 11. Auflage S 480 m. w. N.), also der Kläger.
Davon abgesehen ist auch ein Zusammenhang zwischen dem Arterienverschluss und dem Infarktgeschehen eher
unwahrscheinlich. Dies hängt damit zusammen, dass der Ausfall der Arteria vertebralis links durch die Übernahme der
entsprechenden Funktionen durch die Arteria vertebralis rechts kompensiert werden konnte, wie dopplersonographisch
nachgewiesen wurde. In der Arteria basilaris herrschten normale Druck- und Perfusionsverhältnisse; eine Blutleere im
durch diese Arterie versorgten Kleinhirngebiet wäre also allein durch den Ausfall der Arteria vertebralis links nicht zu
erklären. Freilich ist auf der anderen Seite die in diesem Verfahren auch geäußerte Ansicht, ein Zusammenhang
könne schon deshalb nicht bestehen, weil das Infarktgeschehen im Cerebellum rechts lokalisiert ist, ausgefallen aber
die Arteria vertebralis links war, medizinisch nicht haltbar: Eine laterale Zuordnung besteht insoweit nicht, da die
beiden Vertebralaterien in die Arteria basilaris einmünden und von dort aus erst das Kleinhirn mit Blut versorgen.
Nicht unerwähnt bleiben soll die Möglichkeit, dass durch den bekannten Arterienverschluss, der sich dann schon kurz
nach dem Unfall manifestiert haben müsste, es zu einer chronischen Unterversorgung des Kleinhirns gekommen ist,
welche dann die auch dem Kläger unbemerkt gebliebenen und anlässlich des CT vom 13.06.1994 erst entdeckten
mehreren Kleinhirninfarkte ausgelöst hat. Gegen diese Unterversorgung spricht - wie gesagt - der angiologisch
festgestellte Perfusionsbefund der Arteria basilaris; auf der anderen Seite ist damit ja nicht erwiesen, dass dies auch
in der Vergangenheit immer so war. Bezweifelt werden darf, ob die Arteria vertebralis rechts auch in
Belastungssituationen in der Lage war, die Funktion der Arteria vertebralis links wirklich vollkompensierend zu
übernehmen. Obwohl also auch ein über diesen Gedanken herzuleitender Kausalzusammenhang nicht von vornherein
von der Hand zu weisen ist, so bleibt es doch letztlich Spekulation; keinesfalls kann von einer Wahrscheinlichkeit die
Rede sein.
Die dritte Möglichkeit besteht darin, dass durch eine traumatisch ausgelöste arterielle Dissektion, also die Aufspaltung
zwischen media und intima, sich Thrombosen gebildet haben, welche dann zu Durchblutungsstörungen der hinteren
Hirnanteile führen. Diese Möglichkeit wird neuerdings in der Unfallchirurgie - durchaus auch bei Schleudertraumen -
diskutiert; von dieser Möglichkeit ist auch das SG unter Verweis auf Mehrhoff-Mohr, Unfallbegutachtung, 10. Auflage
S. 173 ausgegangen. Ein solcher Zusammenhang kann aber, wie das SG zu Recht hervorgehoben hat, nach zehn
Jahren nicht mehr angenommen werden. Eine Zeitverzögerung von Wochen oder "gar Monaten" wird diskutiert
(Mehrhoff-Mohr a. a. O.), ein Zusammenhang von über zehn Jahren ist aber nach der medizinischen Literatur so gut
wie ausgeschlossen.
Ganz allgemein kann darüber hinaus auch gesagt werden, dass der zeitliche Zusammenhang zwischen
apoplektischem ischämischen Insult und einem Trauma als mögliche Ursache generell eine zentrale Rolle spielt.
Nach Marx (Medizinische Begutachtung, 6. Auflage, 1992, Seite 194) ist ein ursächlicher Zusammenhang nur
wahrscheinlich bei einer Latenzzeit von Stunden bis zu maximal vier Wochen. Ein Zusammenhang bei einer
Latenzzeit von mehreren Jahren oder Jahrzehnten wird nur bei Schädel-Hirn-Traumen diskutiert, nicht aber bei
Traumen der hirnversorgenden Gefäße (Marx a. a. O., vgl. Fritze, Die ärztliche Begutachtung 5. Auflage 1996, Seite
707).
Demnach lässt sich ein wahrscheinlicher Kausalzusammenhang zwischen den Infarktgeschehen und dem
Arbeitsunfall nicht begründen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG sind
nicht ersichtlich.