Urteil des LSG Sachsen vom 23.01.2001

LSG Fss: erwerbsunfähigkeit, berufliche tätigkeit, rente, klinik, psychiatrisches gutachten, toilette, form, arbeitsmarkt, erwerbstätigkeit, behandlung

Sächsisches Landessozialgericht
Urteil vom 23.01.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Chemnitz S 8 An 551/96
Sächsisches Landessozialgericht L 4 RA 3/98
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 07.11.1997 und der Bescheid der
Beklagten vom 16.02.1995 aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 08.03.1996 in der
Form des Widerspruchsbescheides vom 04.10.1996 sowie des Bescheides vom 21.06.2000 verurteilt, der Klägerin ab
01.01.1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der
Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist nunmehr noch streitig, zu welchem Zeitpunkt der Leistungsfall der Erwerbsunfähigkeit
eingetreten ist.
Die am ... geborene Klägerin absolvierte in der Zeit vom 01.09.1958 bis zum 31.08.1960 eine Lehre als
Baumwollspinnerin und arbeitete nach erfolgreichem Abschluss in diesem Beruf bis Mitte 1964. Danach war sie als
Lohnrechnerin und vom 16.09.1968 bis 31.12.1991 als Lohnbuchhalterin tätig. Nachdem bereits ab 01.01.1992 im
Betrieb der Klägerin Kurzarbeit angeordnet wurde, wurde die Klägerin zum 10.10.1992 arbeitslos. Ab diesem Zeitpunkt
erhielt die Klägerin Arbeitslosengeld bzw. ab dem 08.12.1994 Arbeitslosenhilfe.
Am 09.12.1994 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw.
Erwerbsunfähigkeit. Die Klägerin bezog sich hierbei auf eine Behinderung seitens der Wirbelsäule sowie auf eine
chronische Reizblase.
Im Rahmen ihrer Ermittlungen zog die Beklagte das Gutachten einschließlich ärztlicher Befundunterlagen des
Arbeitsamtes ... bei. Die Gutachterin Frau Dipl.-Med ... kam auf Grund ambulanter Untersuchung vom 18.11.1994 zu
dem Ergebnis, dass die Klägerin überwiegend leichte bis zeitweise mittelschwere Arbeit vollschichtig verrichten
könnte. Arbeiten unter Nässe, Kälte, Zugluft, Temperaturschwankungen und häufiges Bü- cken sowie
Zwangshaltungen sollten allerdings vermieden werden. Des Weiteren führte Frau Dipl.-Med ... aus, dass bei der
Klägerin ein starker Leidensdruck durch chronische Reizblasenbeschwerden bestünde. Durch eine anlagebedingte
nervliche Fehlsteuerung bestehe seit Jahren eine chronische Reizblase. Eine urologische Behandlung sei über zehn
Jahre ohne wesentlichen Therapieerfolg durchgeführt worden. Die Klägerin sei nicht in der Lage, den Urin länger als
eine halbe Stunde anzuhalten. Es bestünde deshalb ein erheblicher psychischer Leidensdruck. Gleichzeitig bestünden
geringe Verschleißerscheinungen im Bereich der HWS und LWS, welche sich bei ständigen Bücken bzw. schweren
Heben von Lasten verschlechtern würden. Auf Grund dieser Gesundheitsstörungen sei die Klägerin für Tätigkeiten,
deren Ablauf nicht ständig unterbrochen werden könne sowie für Arbeiten in Gemeinschaftsbüros bzw. im öffentlichen
Publikumsverkehr nicht geeignet. Günstig wäre ein Einzelarbeitsplatz mit ständiger Möglichkeit zum Toilettengang.
Mit Bescheid vom 16.02.1995 lehnte die Beklagte entsprechend der Stellungnahme ihres beratenden Arztes den
Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit ab. Zwar bestünde
bei der Klägerin eine "chronische Reizblase mit psychischem Leidensdruck bei degenerativen
Wirbelsäulenveränderungen", doch sei sie noch in der Lage, in ihrem bisherigen Berufsbereich weiterhin vollschichtig
tätig zu sein. Darüber hinaus bestehe ein vollschichtiges Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen
Arbeitsfeldes. Daher sei sie weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig.
Hiergegen wandte sich die Klägerin mit Widerspruch vom 10.03.1995, da die Untersuchungen auf urologischem
Fachgebiet noch nicht abgeschlossen seien. Hierauf holte die Beklagte einen Befundbericht des behandelnden
Urologen Dr ... ein. Dieser teile mit Befundbericht vom 10.02.1995 mit, dass bei der Klägerin der dringende Verdacht
auf eine neurogene Blasenentleerungsstörung bestünde, wobei die Diagnostik noch nicht abgeschlossen sei. Dem
Bericht der Urologischen Klinik der ... vom 07.02.1995 ist zudem zu entnehmen, dass bei der Klägerin nach dem in
der Jetzt-Anamnese beschriebenen Beschwerdekomplex unter anderem auch eine Pollakisurie einhalb bis
einstündlich bei geringen Miktionsvolumina und eine Nykturie (drei Mal) vorliege. Inkontinenzzeichen wurden nicht
gefunden. Es wurde eine neurologische Abklärung der Beschwerden angeraten, wobei auch eine psychogene Ursache
diskutiert wurde. Des Weiteren holte die Beklagte im Widerspruchsverfahren ein orthopädisches Gutachten, erstattet
nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 27.07.1995, durch den Facharzt für Orthopädie Dr ... ein. Dieser
diagnostizierte ein vertebragenes Schmerzsyndrom aller drei Wirbelsäulenabschnitte bei degenerativen
Veränderungen. Zusammenfassend bestünde eine mäßige Einschränkung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben.
Die Klägerin könne noch eine leichte körperliche Tätigkeit ohne schweres Heben und Tragen in möglichst häufig
wechselnder Körperhaltung ausüben. Ungünstig seien Tätigkeiten unter Einfluss von Nässe, Kälte und Zugluft. Unter
diesen Voraussetzungen könne eine Beschäftigung vollschichtig ausgeübt werden, wobei die letzte Tätigkeit als
Lohnbuchhalterin aus orthopädischer Sicht weiterhin möglich sei. Dr ... empfahl jedoch ein urologisches
Zusatzgutachten. Zur weiteren Abklärung des medizinischen Leistungsvermögens holte die Beklagte ein
internistisches sowie ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten ein. Der Internist Dr ... gelangte auf Grund
ambulanter Untersuchung vom 29.09.1995 zu dem Ergebnis, dass unter den gegebenen marktwirtschaftlichen
Bedingungen eine berufliche Tätigkeit bei der geschilderten Symptomatik nicht vorstellbar sei. Bei der Klägerin
bestünde eine sogenannte Urge-Symptomatik mit nörgelndem Harndrang, der die Klägerin in kurzen Abständen immer
wieder zur Toilette treibe. Weiterhin würden durch die schlechte Blasenentleerung chronische Harnwegsinfekte erzeugt
werden. Dr ... lag bei der Begutachtung ebenfalls der Bericht der Urologischen Klinik der Universität Leipzig vom
12.09.1995 vor, wonach bei der Klägerin eine Blasenentleerungsstörung in Form einer ausgeprägten Detrusor-Externer
Sphinkter-Dyssynergie vorliegt.
Der Gutachter auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet Dr ... diagnostizierte nach ambulanter Untersuchung vom
08.01.1996 bei der Klägerin eine hypochondrisch-neurotische Störung bei intellektueller Unterentwicklung. Dr. Brauer
führte weiter aus, dass der Verdacht bestehe, dass bei der Entwicklung und Unterhaltung der Blasenstörung ein
neurotischer Überbau beteiligt sei. Die intellektuelle Leistungsfähigkeit sei so deutlich beeinträchtigt, das der Einsatz
der Klägerin in einem Büro nicht vorstellbar sei. Für leichte körperliche Arbeiten ohne wesentliche intellektuelle
Anforderungen erscheine sie aber vollschichtig einsetzbar.
Auf Grund des neurologisch-psychiatrischen Gutachtens gewährte die Beklagte mit Rentenbescheid vom 08.03.1996
eine Rente wegen Berufsunfähigkeit mit Wirkung ab 01.01.1995. Die Gewährung einer Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit wurde wiederum abgelehnt. Hiergegen legte die Klägerin am 15.04.1996 erneut Widerspruch ein.
Nach ihrer Ansicht bestünde ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Eine ganztägige Beschäftigung auf
dem allgemeinen Arbeitsfeld sei ihr nicht möglich. Zur Blasenentleerung müsse sie durchschnittlich am Tag 30 Mal
die Toilette aufsuchen. Das mache es ihr auch unmöglich eine Büroarbeit auszuüben, da die häufigen
Unterbrechungen den Arbeitsablauf stören und von Arbeitgebern nicht geduldet werden würden. Dem Widerspruch war
ein Kalender über den Zeitraum Januar bis März 1996 beigefügt, in welchen die Klägerin die Häufigkeit des täglichen
Wasserlassens eingetragen hatte.
Auf Grund des Widerspruches veranlasste die Beklagte nochmals eine Begutachtung der Klägerin, diesmal auf
urologischem Fachgebiet durch Dr ... Bei der ambulanten Untersuchung vom 04.06.1996 klagte die Klägerin über eine
Pollakisurie und Nykturie (Miktionshäufigkeit: tags alle 30 Minuten/nachts drei bis vier Mal). Dr ... diagnostizierte eine
neurogene Blasenentleerungsstörung und gelangte zu der Auffassung, dass der Klägerin ein Einsatz als
Lohnbuchhalterin weiterhin vollschichtig möglich wäre. Des Weiteren sei die Klägerin einsatzfähig für leichte
körperliche Tätigkeiten, wobei eine Exposition von Kälte, Nässe oder Zugluft vermieden werden sollte und die
Möglichkeit des häufigeren Toilettenbesuches gewährleistet sein müsse.
Mit Widerspruchsbescheid vom 04.10.1996 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zwar könne die
Klägerin ihren bisherigen Hauptberuf nicht mehr ausüben, ihr Leistungsvermögen sei aber ausreichend, um die
während des Erwerbslebens erlangten Kenntnisse und Fähigkeiten in vollschichtiger Beschäftigung unter den üblichen
Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verwerten und hierdurch mehr als nur geringfügige Einkünfte zu
erzielen.
Mit der am 07.11.1996 vor dem Sozialgericht Chemnitz erhobenen Klage begehrte die Klägerin weiterhin die
Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Sie bezog sich auf ihren Widerspruch und hob hervor, dass sie
wegen ihrer gesundheitlichen Probleme nicht mehr in der Lage sei einer regelmäßigen Tätigkeit nachzugehen. Wie
bereits im Verwaltungsverfahren erwähnt, müsse sie mindestens 30 Mal täglich die Toilette aufsuchen. Eine Tätigkeit
unter diesen Umständen sei weder ihr noch einem potenziellen Arbeitgeber zumutbar.
Zur Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes zog das Sozialgericht Chemnitz die Akte des Arbeitsamtes
Chemnitz sowie eine Auskunft der Barmer Ersatzkasse bei. Ferner wurde vom Sozialgericht ein Befundbericht des
behandelnden Urologen Dr ... angefordert. Nach dem Befundbericht vom 14.01.1997 hat die Klägerin dem
behandelnden Urologen gegenüber geäußert, dass sie an häufigem Harndrang (teilweise halbstündlich) leide. Dr ...
stellte folgende Diagnosen: - neurogene Blasenentleerungsstörung, - sensibles Urge-Syndrom mit Urge-Inkontinenz, -
unausgeglichene Blasenentleerung, - Restharnbildung, - chronisch rezidivierender Harnwegsinfekt. Aus urologischer
Sicht seien seit Beginn der Behandlung im November 1994 keine neuen Leiden hinzugekommen oder weggefallen. Es
seien auch keine Veränderungen im Gesundheitszustand der Klägerin eingetreten. Darüber hinaus teilte er mit, dass
die bisher durchgeführten Therapien zu keiner Veränderung der Symptomatik geführt hätten. Man müsse feststellen,
dass die Klägerin mit ihren Beschwerden leben müsse, die Möglichkeit einer Besserung sei aus ärztlicher Sicht auf
absehbare Zeit nicht zu erwarten. Bei 30 bis 40 Miktionen pro Tag bei ständigem Harndrang sei an eine geregelte
Arbeit aus urologischer Sicht nicht zu denken. Dem Befundbericht beigefügt waren die Entlassungsberichte der
Zeisigwald Kliniken Bethanien - Urologische Klinik - Chemnitz vom 07.02.1995 und 16.06.1995 sowie der Bericht der
Universität Leipzig vom 12.09.1995 und der Klinik ... - Abteilung für Urologie - ... vom 26.06.1996 sowie der
Entlassungsbericht des Kreiskrankenhauses ... vom 16.10.1996.
Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 07.11.1997 abgewiesen. Die Klägerin sei nicht erwerbsunfähig. Sie
sei nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen trotz der chronischen Reizblasenbeschwerden in der Lage,
vollschichtig leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben. Voraussetzung sei lediglich, dass eine
Toilette in erreichbarer Nähe sei. Derartige Arbeitsplätze seien auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender
Anzahl vorhanden. Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit sei nicht erforderlich, da die Klägerin weder
an einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen leide, noch an einer schweren spezifischen
Leistungsbeeinträchtigung.
Gegen das der Klägerin mit Einschreiben vom 08.12.1997 zugestellte Urteil richtet sich die am 05.01.1998 eingelegte
Berufung. Zur Begründung verwies die Klägerin auf ihr Vorbringen im Klageverfahren. Ergänzend trug sie vor, dass
eine Besserung ihres Gesundheitszustandes nicht möglich sei. Da sie sehr viel trinken solle, entstehe ein so starker
Harndrang, dass sie kaum außer Haus gehen könne bzw. kaum ortsübliche Wege zurücklegen könne.
Der Senat hat im Rahmen der medizinischen Sachermittlung einen Befundbericht des behandelnden Urologen Dr ...
vom 01.04.1998 beigezogen. Dr ... verweist im Wesentlichen auf seinen Befundbericht vom Januar 1997. Eine
Änderung des Beschwerdebildes sei nicht eingetreten.
Darüber hinaus hat der Senat die Unterlagen des Arbeitsamtes Chemnitz beigezogen. Diese bestehen im
Wesentlichen aus dem Gutachten der Dipl.-Med ... vom 18.11.1994. Mit Beschluss vom 03.07.1998 wurde Dr ...,
Facharzt für Urologie, zum medizinischen Sachverständigen in diesem Rechtsstreit ernannt. Am 10.04.2000 ging das
Gutachten von Dr ... beim Landessozialgericht (LSG) ein. Der Gutachter führte aus, dass die Klägerin halbstündlich
Wasser lassen müsse, bei einer Nykturie von drei bis vier Mal. Außerdem sei es ihr unmöglich, den auftretenden
Harndrang zu unterdrücken. Die Klägerin sei nicht im Stande auch nur einer gewissen regelmäßigen Erwerbstätigkeit
nachzugehen. Der Harndrang stelle sich unabhängig von irgendeiner Form des Arbeitsmodus ein, wobei ihr Denken
ständig darauf ausgerichtet sei. Somit seien Konzentration, Reaktion, Steuerungsvermögen, aber auch Stresstoleranz
und Kommunikation soweit herab gesetzt, dass einer Erwerbstätigkeit nicht nachgegangen werden könne. Die Miktion
erfolge halbstündlich, das entspreche etwa den wiederholt angegebenen 30 Mal pro Tag. Diese ständige
Tätigkeitsunterbrechung lasse sich mit keiner Arbeit vereinbaren. Dieser Zustand habe bereits bei Antragstellung
bestanden. Insgesamt sei eine durchgängige kontinuierlich verlaufende Verschlechterung des Zustandes seit der
frühesten Kindheit zu vermerken. Dies ergebe sich aus den Vorgeschichten aller Begutachtungen sowie aus eigener
Beobachtung. Der Gutachter wies außerdem daraufhin, dass allein während der eingehenden Begutachtung die
Klägerin drei Mal zwingend miktionieren musste (innerhalb von eineinhalb bis zwei Stunden).
Darüber hinaus liegt dem Senat noch das Gutachten der Arbeitsamtsärztin Frau Dr ... vom 21.04.1999 vor.
Mit Schriftsatz vom 26.04.2000 erkannte die Beklagte den Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit
auf unbestimmte Zeit ab 01.11.1999 auf der Grundlage eines Leistungsfalles vom 30.10.1999 (Datum der
Begutachtung, bei der die Blasenstörung verifiziert wurde) an. Entsprechend dieses Anerkenntnisses erließ die
Beklagte am 21.06.2000 einen Ausführungsbescheid. Nach richterlichem Hinweis, dass die Untersuchung durch Dr ...
bereits am 29.09.1998 stattgefunden hatte, änderte die Beklagte ihr Anerkenntnis mit Schriftsatz vom 26.07.2000 ab.
Nunmehr wurde von einem Leistungsfall vom 29.09.1998 ausgegangen.
Mit diesem Anerkenntnis erklärte sich die Klägerin nicht einverstanden, da Anerkennung einer Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit ab Beginn der Berufsunfähigkeitsrente beantragt worden sei. Ausschlaggebend könne nicht das
Gutachten von Dr ... sein, da die Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes bereits lange vorher vorlagen, auch
schon bei Antragstellung.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 07.11.1997 und den Bescheid der Beklagten vom 16.02.1995 aufzuheben
und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 08.03.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
04.10.1996 sowie des Bescheides vom 21.06.2000 zu verurteilen, ab 01.01.1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufungsklage zurückzuweisen.
Die Beklagte ist zwar im Laufe des Berufungsverfahrens zu der Ansicht gelangt, dass bei der Klägerin
Erwerbsunfähigkeit vorliegt. Im Ergebnis der Beweisaufnahme sei jedoch von einem Leistungsfall vom 29.09.1998
auszugehen. Erst bei der Begutachtung durch Dr ... sei die Häufigkeit der Miktion objektiviert worden, was bei den
vorangegangenen Begutachtungen nicht der Fall gewesen wäre. Daher könne die Erwerbsunfähigkeit nicht mit einem
früheren Rentenbeginn anerkannt werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten
aus beiden Rechtszügen und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte und im Übrigen zulässige Berufung (§ 143 Sozialgerichtsgesetz - SGG) ist auch
begründet.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab dem 01.01.1995. Insoweit
waren die streitgegenständlichen Bescheide vom 16.02.1995 und 08.03.1996 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 04.10.1996 und der Bescheid vom 21.06.2000 rechtswidrig und daher - wie das Urteil
des Sozialgerichts - aufzuheben bzw. abzuändern.
Dass die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 44 SGB VI (in der Fassung
des Gesetzes bis 31.12.2000) hat, wird seit dem 26.04.2000 auch von der Beklagten anerkannt. Streitig ist letzlich
nur noch, ob der Leistungsfall vor dem 30.10.1999 bzw. 29.09.1998 (modifiziertes Anerkenntnis der Beklagten vom
26.07.2000) eingetreten ist. Gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sind Versicherte erwerbsunfähig, die wegen Krankheit
oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit
auszuüben oder Arbeitsentgeld oder Arbeitseinkommen zu erzielen, dass monatlich 630,00 DM übersteigt.
Erwerbsunfähigkeit liegt nach der Rechtsprechung des BSG auch dann vor, wenn trotz vollschichtiger
Einsatzfähigkeit des Versicherten der Arbeitsmarkt aus bestimmten definierten Gründen verschlossen ist. Nach der
Begründung der Beklagten in dem Bescheid vom 21.06.2000 waren für die grundsätzliche Zuerkennung einer Rente
wegen Erwerbsunfähigkeit die Verhältnisse des Arbeitsmarktes ausschlaggebend. Trotz vollschichtiger
Einsatzfähigkeit kann nämlich Erwerbsunfähigkeit vorliegen, wenn durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche
Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung die Arbeitsfähigkeit gemindert ist oder
Verweisungstätigkeiten nicht unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen ausgeübt werden können. In diesen Fällen
kann der Arbeitsmarkt ausnahmsweise als verschlossen gelten. Das BSG (SozR 2200, § 1246 Nr. 137) hat einen so
genannten Verschlossenheitskatalog aufgestellt, worunter auch die Konstellation zu fassen ist, dass zwar die
Vollzeittätigkeit ausgeübt werden kann, aber nicht unter in Betrieben üblichen Bedingungen (vgl. BSG SozR 2200, §
1246 Nr. 19, 22). Bei der Klägerin ist davon auszugehen, dass sie nicht vorgesehene zusätzliche Arbeitspausen
benötigt, die einer Beschäftigung unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen entgegen stehen. Dies beschreibt auch
Dr. Mehlhorn in seiner Stellungnahme von 30.10.1999. Nach den Ausführungen des Gutachters muss die Klägerin
halbstündlich Wasser lassen, was sich mit keiner Arbeit vereinbaren ließe. Auch ist ihr Denken nach Aussage des
medizinischen Sachverständigen ständig auf die Miktion gerichtet, weshalb Konzentration, Reaktions- und
Steuerungsvermögen herabgesetzt seien. Nach diesen Ausführungen des Gutachters fallen bei der Klägerin
mindestens 15 Unterbrechnungen der Tätigkeit pro Arbeitsschicht an, um dem Harndrang nachzugehen. Auch bei
relativ kurzen Pausen in einer derartigen Anzahl bestehen Zweifel, ob entsprechende Arbeitsplätze vorhanden sind
(vgl. BSG Urteil vom 19.08.1997, Aktz. 13 RJ 11/96). Diese Einschätzung führte wohl auch zum Anerkenntnis der
Beklagten vom 26.04.2000 bzw. 26.07.2000, die sich zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit nicht in der
Lage sah.
Entgegen der Ansicht der Beklagten besteht dieser Leidenszustand der Klägerin zur Überzeugung des Senats jedoch
mindestens seit Antragstellung, so dass bereits hier der Leistungsfall der Erwerbsunfähigkeit unter dem
Gesichtspunkt der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes gegeben war mit der Folge, dass antragsgemäß bereits ab
01.01.1995 gemäß § 99 Abs. 1 SGB VI Leistungen zu gewähren sind. Die hohe Miktionsfrequenz, welche zu den
häufigen betriebsunüblichen Arbeitspausen führt, wird durchgehend in nahezu jedem Gutachten und Befundbericht
beschrieben. Bereits die im Verwaltungsverfahren vorliegenden Befunde zeigen ein Bild, das mit dem
Untersuchungsbefund bei der gerichtlichen Begutachtung vergleichbar ist: In der Verwaltungsakte (Blatt 36 ff.)
befindet sich das arbeitsamtsärztliche Gutachten vom 18.11.1994. Bereits hier findet sich der Hinweis, dass die
Klägerin nicht in der Lage sei, den Urin länger als eine halbe Stunde anzuhalten. Das Leistungsvermögen der Klägerin
wird derart beschrieben, dass eine leichte körperliche Arbeit möglich sei, möglichst Einzelarbeitsplatz mit ständiger
Möglichkeit zum Toilettengang. Auch nach dem Arztbrief der Urologischen Klinik ... vom 07.02.1995 bestand bei der
Klägerin anamnestisch eine Pollakisurie einhalb- bis einstündlich bei geringen Miktionsvolumina. Auch bei der
Begutachtung durch Dr. Slonina am 29.09.1995 wurde eine chronische Blasenstörung angegeben, mit der
Notwendigkeit, bis zu drei Mal pro Stunde eine Toilette aufzusuchen sowie eine Nykturie von fünf Mal pro Nacht,
gelegentlich mehr. In der Epikrise wies Dr ... darauf hin, dass er sich unter den gegebenen marktwirtschaftlichen
Bedingungen eine berufliche Tätigkeit bei der geschilderten Symptomatik nicht vorstellen könne. Bei der neurologisch-
psychiatrischen Begutachtung am 08.01.1996 wies die Klägerin ebenfalls darauf hin, dass sie pro Tag zirka 30 Mal
austreten müsse. Eine ähnliche Miktionshäufigkeit beschrieb die Klägerin bei der urologischen Begutachtung am
04.06.1996 (Miktionshäufigkeit: tags alle 30 Minuten/nachts drei bis vier Mal, Möglichkeiten, die Blasenentleerung
herauszuzögern, bestehe nicht, nach 30 Minuten muss die Blase entleert werden). Auch hier findet sich in der
epikritischen Zusammenfassung des Gutachters der Hinweis, dass eine Möglichkeit des häufigeren
Toilettenbesuches gewährleistet sein muss. In der Klageschrift vom 07.11.1996 wies die Klägerin ebenfalls darauf hin,
dass sie mindestens 30 Mal täglich die Toilette aufsuchen müsse. Das gleiche äußerte die Klägerin bei einer
Untersuchung in der Klinik ... am 25.06.1996, unter Vorlage eines Miktionsprotokolls. Ein ähnliches Beschwerdebild
teilte Dr ... in seinem Befundbericht vom 14.01.1997 mit (nächtliches Wasserlassen drei Mal, häufigerer Harndrang
teilweise einhalbstündlich). Auch bei der Aufnahme in die urologische Klinik des Krankenhauses ... am 18.09.1996
hatte die Klägerin eine ähnlich starke Miktionsfrequenz beschrieben. Die gleichen Aussagen finden sich auch in dem
Befundbericht von Dr ... vom 01.04.1998 sowie bei der ambulanten Untersuchung im Rahmen der Begutachtung am
29.09.1998. Jedoch wurden nicht nur im Wesentlichen immer die gleichen Beschwerden geschildert, auch eine
Veränderung im Befund ist nicht ersichtlich. Die von der Klägerin geschilderte Miktionshäufigkeit wurde von allen
behandelnden Ärzten in den letzten Jahren nie angezweifelt und war Anlass für eine ausführliche Diagnostik. Lediglich
hinsichtlich der Ursache des Harndranges gab es verschiedene Ansatzpunkte. So wurden urologische und neurogene
Ursachen diskutiert sowie eine gewisse psychogene Überlagerung. Nie wurde aber der Harndrang als solcher
angezweifelt. Auch nach dem Befundberichten des behandelnden Urologen Dr. Rumohr ist von einem unveränderten
Befund auszugehen. Lediglich 1989 kam es auf Grund einer Unterleibsoperation zu einer entscheidenden
Veränderung. Bis zu diesem Zeitpunkt litt die Klägerin ausweislich der Behandlungsunterlagen an einer
Harninkontinenz. Bei Dr ... befindet sich die Klägerin bereits seit November 1994 in Behandlung. In dem Befundbericht
vom 14.01.1997 für das Sozialgericht Chemnitz verneint er ausdrücklich Veränderungen im Gesundheitszustand der
Klägerin aus urologischer Sicht.
Der Hinweis der Beklagten, dass der Harndrang erstmals durch das Gutachten von Dr ... objektiviert worden sei,
weshalb der Leistungsfall auf den 29.08.1998 gelegt wird, erscheint nicht stichhaltig. Allein der Anmerkung von Dr ...,
wonach die Klägerin bei der zirka eineinhalb- bis zweistündigen Untersuchung drei Mal miktionieren musste, kann kein
höherer Beweiswert zukommen, als den in sich schlüssigen Äußerungen aller vorher behandelnden und
begutachtenden Ärzte. Die "Objektivierung" des Harndranges an sich erscheint aus sich heraus bereits schwierig.
Letztlich wird hier der sorgfältigen Anamneseerhebung eine entscheidende Bedeutung zukommen. Nach den
verschiedenen Anamneseerhebungen lag die Miktionsfrequenz der Klägerin jedoch durchgehend seit mindestens 1994
bei zirka 30 Mal pro Tag. Hierauf weist Dr ... in seinen "Gutachtensversuchen" hin (Beweiserhebungsfragen III.5.).
Dass Dr ... darüber hinaus neue urologische Untersuchungsergebnisse gewonnen hat, ist seinen Ausführungen nicht
zu entnehmen. Dagegen liegt ein Bericht der urologischen Klinik der ... Kliniken ... in ... vom 07.02.1995 vor, welcher
eine Zystomanometrie mit abdominalen Druckmessungen und simultanen Beckenboden-EMG beschreibt. Bereits hier
wurde das Bild eines ungenügenden intravesikalen Druckaufbaues während der gesamten Untersuchung beschrieben,
wobei es schon frühzeitig zu einem imperativen Harndrang kam. Soweit der Harndrang einer Objektivierung zugänglich
ist, dürfte es sich bei dieser Untersuchungsmethode um das geeignete Mittel gehandelt haben.
Im Zusammenhang mit den widerspruchsfreien anamnestischen Angaben der Klägerin und der vorliegenden
Krankengeschichte muss der Leistungsfall daher bereits für den Zeitpunkt der Antragstellung angenommen werden.
Weitere Ermittlungen in medizinischer Hinsicht für den zurückliegenden Zeitraum erscheinen nicht sachdienlich, da
eine umfangreiche Dokumentation der Krankengeschichte der Klägerin vorliegt, die nur zu der Schlussfolgerung führen
kann, dass bei der Klägerin seit Antragstellung Erwerbsunfähigkeit besteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).