Urteil des LSG Sachsen vom 29.03.2001

LSG Fss: krankenversicherung, grundsatz der gleichbehandlung, europäische union, versicherungspflicht, eugh, leistungsbezug, freizügigkeit, akte, arbeitslosenhilfe, arbeitsstelle

Sächsisches Landessozialgericht
Urteil vom 29.03.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 17 AL 1149/98
Sächsisches Landessozialgericht L 3 AL 171/99
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 27. September 1999 wird
zurückgewiesen, soweit die Klage nicht zurückgenommen wurde. II. Die Beklagte hat dem Kläger auch die
notwendigen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt. III.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist im Berufungsverfahren nunmehr nur noch die Erstattung von Krankenversicherungsbeiträgen durch den
Kläger für den Zeitraum vom 01. bis zum 31.12.1997.
Der am ...1970 geborene Kläger ist von Beruf gelernter Kfz- Mechaniker. Vom 01.01.1994 bis zum 18.07.1994 bezog
er erstmals Arbeitslosengeld. Anschließend hatte er wieder eine Beschäftigung bis zum 31.08.1996. Vom 04.09. bis
zum 04.11.1996 bezog der Kläger erneut Alg. Vom 05.11.1996 bis zum 06.04.1997 hatte er ein Arbeitsverhältnis als
Liftbediener bei der Bergbahngesellschaft Z .../Österreich.
Hieran anschließend meldete er sich am 10.04.1997 wieder arbeitslos. Die Beklagte bewilligte ihm durch Bescheid
vom 07.05.1997 Alg ab dem 21.04.1997. Hierbei ging sie von einem Bemessungsentgelt in Höhe von 740,00 DM
sowie der Leistungsgruppe A aus. Dies ergab einen täglichen Betrag in Höhe von 46,10 DM.
Vom 01.12.1997 bis zum 01.05.1998 hatte der Kläger erneut ein Beschäftigungsverhältnis bei der S ...-
Seilbahn/Österreich tätig. Während dieser Beschäftigungszeit war der Kläger bei der Versicherungsanstalt der
Österreichischen Eisenbahnen krankenversichert. Es handelte sich um ein Pflichtversicherungsverhältnis nach § 4
des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG). Eine beitragsfinanzierte Pflegeversicherung im Sinne einer
Pflichtversicherung besteht demgegenüber in Österreich nicht.
Eine rechtzeitige Unterrichtung vom Beginn dieser Beschäftigung ist aus der Akte nicht ersichtlich. Die Beklagte gab
dazu an, sie habe von dieser Beschäftigung erst am 05.01.1998 durch einen Anruf der Mutter des Klägers Kenntnis
erhalten. Der Kläger dagegen erklärte, die Arbeitsaufnahme bereits zuvor angezeigt zu haben.
Durch Bescheid vom 12.03.1998 hob die Beklagte die Bewilligung des Arbeitslosengeldes für die Zeit vom 01.12. bis
zum 31.12.1997 auf und machte einen Erstattungsbetrag in Höhe von 1.244,70 DM geltend. Dieser Bescheid wurde
bestandskräftig.
Zur Berechnung der überzahlten Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträge rechnete die Beklagte ein
Bemessungsentgelt von 592,00 DM (80 % v. 740,00 DM) auf das beitragspflichtiges Bruttoentgelt in Höhe von
2.664,09 DM hoch. Bei einem Betragssatz von 12,8 % für die Krankenversicherung ergab sich für diese ein Betrag in
Höhe von 341,00 DM und bei einem Beitragssatz von 1,7 % für die Pflegeversicherung ein Betrag von 45,29 DM.
Diese Beträge forderte die Beklagte zunächst von der IKK Dresden (Beigeladene), an die sie die Beiträge entrichtet
hatte, ein. Die IKK Dresden ein, teilte jedoch mit, ein weiteres Mitgliedschaftsverhältnis habe (bei ihr) nicht bestanden.
Durch Bescheid vom 27.08.1998 forderte daraufhin die Beklagte von dem Kläger die Erstattung der
Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von 386,29 DM.
Dem widersprach der Kläger am 03.09.1998. Er habe im November 1997 die Arbeitsaufnahme telefonisch angezeigt.
Durch Widerspruchsbescheid vom 03.12.1998 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Es habe
für den Kläger kein weiteres Krankenversicherungsverhältnis bestanden und zudem hätte auch keine rechtzeitige
Meldung vorgelegen.
Hiergegen hat sich der Kläger am 17.12.1998 an das Sozialgericht Dresden gewandt. Er habe für den genannten
Zeitraum bereits Beiträge in Österreich entrichtet.
Demgegenüber hat die Beklagte die Auffassung vertreten, aus der Beschäftigung in Österreich ergebe sich kein
weiteres Krankenversicherungsverhältnis, da es sich nicht um ein solches nach § 5 SGB V handele. In § 4 Abs. 2
SGB V seien die möglichen Krankenkassen erschöpfend aufgezählt. Hierzu verwies die Beklagte auf die Dienstblatt-
Runderlasse vom 11.05.1993 und vom 25.08.1995 (SG-Akte, Blatt 42 bis 47).
Durch Urteil vom 27.09.1999 hat das SG der Klage stattgegeben. Während der Beschäftigung in Österreich habe ein
weiteres Krankenversicherungsverhältnis i. S. v. § 335 Abs. 1 Satz 2 SGB III bestanden. Nach dem Wortlaut der
Norm müsse es sich nicht zwingend um ein Versicherungsverhältnis nach § 5 SGB V handeln. Ziel der ursprünglichen
Einfügung von § 157 AFG sei es gewesen, der Bundesanstalt für Arbeit einen öffentlich-rechtlichen
Erstattungsanspruch zu geben. Weiterhin solle derjenige, der Aufwendungen erspart habe, nicht kostenlos zu Lasten
der BA versichert gewesen sein. Auch eine Versicherungspflicht in Österreich werde dieser Gesamtsituation gerecht.
Das SG hat die Berufung gegen diese Entscheidung ausdrücklich zugelassen.
Gegen das am 06.10.1999 zugegangene Urteil hat die Beklagte am 05.11.1999 Berufung eingelegt. Sie ist weiterhin
der Auffas- § 157 Abs. 3a Satz 2 AFG (bzw. § 335 Abs. 1 Satz 2 SGB III) nicht bestanden habe. Dies sei
ausschließlich bei einer Pflichtversicherung nach § 5 SGB V oder einer freiwilligen Versicherung nach § 9 SGB V
gegeben.
In der mündlichen Verhandlung vom 29.03.2001 hat der Kläger die Klage hinsichtlich der Verpflichtung zur Erstattung
der Pflegeversicherungsbeiträge i. H. v. 45,29 DM zurückgenommen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 27.09.1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, soweit die Klage nicht zurückgezogen wurde.
Die Beigeladenen stellen keine eigenen Anträge.
Zum weiteren Vorbringen der Beteiligten zum Sach- und Streitstand wird auf die Akten beider Rechtszüge sowie die
Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerechte Berufung (§ 141 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG,
da sie das Sozialgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung im Urteil zugelassen hat.
Rechtsgrundlage für den nach dem 01.01.1998 geltend gemachten Erstattungsanspruch ist § 335 Abs. 1 Drittes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB III). Diese durch Artikel 1 Arbeitsförderungsreformgesetz (AFRG) eingeführte und mit Wirkung
zum 01.01.1998 in Kraft getretene Norm entspricht im Wesentlichen der Vorgängervorschrift des § 157 Abs. 3a
Arbeitsförderungsgesetz (AFG).
Gemäß § 335 Abs. 1 SGB III hat der Versicherte der Beklagten die Beiträge zu erstatten, soweit die Entscheidung,
die zu einem Bezug von Alg, Arbeitslosenhilfe oder Unterhaltsgeld geführt hat, rückwirkend aufgehoben und die
Leistung zurückgefordert worden ist. Diese Voraussetzungen liegen insoweit vor, als der Aufhebungs- und
Erstattungsbescheid vom 12.03.1998 bezüglich der Erstattung des zu Unrecht bezogenen Alg bestandskräftig
geworden ist. Der Kläger hat sich nicht gegen die Rückerstattung des Alg gewandt sondern lediglich gegen seine
Verpflichtung zur Erstattung von Versicherungsbeiträgen, die für die Krankenversicherung der Höhe nach von der
Beklagten unter Anwendung von § 232a Abs. 1 SGB III zutreffend mit 341,00 DM (vgl. SG-Akte, S. 28 Rücks. u. 30)
beziffert wurden (zur Berechnung: BSG, Urteil vom 29.09.1997, SozR 3-2600 § 166 Nr. 1 = BSGE 81, 119-134). Daher
wurde der Bescheid vom 12.03.1998 bestandskräftig gem. § 77 SGG. Das Gleiche gilt auf Grund der teilweisen
Klagerücknahme im Berufungsverfahren für die Erstattung der Pflegeversicherungsbeiträge i. H. v. 45,29 DM.
§ 335 Abs. 1 SGB III knüpft mit der Erstattungspflicht an Beiträge i. S. v. § 251 Abs. 4a SGB V an. Es handelt sich
mithin um Beiträge für die nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB V Versicherten, welche Alg, Arbeitslosenhilfe oder
Unterhaltsgeld beziehen. Danach sind die genannten Leistungsempfänger als Pflichtversicherte in die gesetzliche
Krankenkasse einbezogen, §§ 5 Abs. 1 Nr. 2, 251 Abs. 4a SGB V. Die Mitgliedschaft beginnt mit dem Tag, von dem
an Alg bezogen wird, § 186 Abs. 2a SGB V. Sie endet mit Ablauf des letzten Tages des Leistungsbezuges, § 190
Abs. 12 SGB V. Diese Mitgliedschaft des Klägers bei der Beigeladenen auf Grund des tatsächlichen
Leistungsbezuges trat grundsätzlich auch für die Zeit vom 01. bis 31.12.1997 ein. Nach dem Gesetzeswortlaut ist es
entscheidend, ob die Leistung bezogen wird, d. h. es kommt darauf an, ob der Arbeitslose die Leistung tatsächlich
erhält, denn nur ein Arbeitsloser im Leistungsbezug kann auf jeden Fall auf den bestehenden Versicherungsschutz
vertrauen (BSG SozR 4100, § 159 Nr. 5). Die Versicherung nach §§ 5 Abs. 1 Nr. 2, 186 Abs. 2a SGB V entsteht
auch, wenn der Arbeitslose Alg zu Unrecht erhält (BSG SozR 1100, § 159 Nr. 5; SozR 3-4100, § 155 Nr. 1 und § 157
Nr. 1). Eine Rückabwicklung des Versicherungsverhältnisses findet in diesen Fällen nicht statt. Selbst eine AFG-
Leistung, die zurückgefordert und zurückgezahlt wurde, bleibt Grundlage der Krankenversicherung gem. § 155 AFG
bzw. nunmehr § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB V (BSG SozR 3-2400, § 26 Nr. 6). Der Bezieher der Leistungen der
Bundesanstalt hat jedoch dieser die entrichteten Beiträge zu erstatten.
Wird demgegenüber ohne Anzeige bzw. auch bei Nichtbeachtung einer entsprechenden Mitteilung durch das
Arbeitsamt neben dem dann nicht rechtmäßigen Leistungsbezug eine Beschäftigung aufgenommen, bestehen zwei
Versicherungsverhältnisse, die beitragsrechtlich getrennt zu behandeln sind. Rechtsfolge des Leistungsbezuges oder
-anspruchs ist die Begründung einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung, die sich aus § 5
Abs. 1 Nr. 2 SGB V ergibt und nach den Vorschriften des SGB V durchgeführt wird. Diese Rechtsfolge tritt auch ein,
wenn vorher eine Krankenversicherung nicht bestanden hat. Ein Antrag des Arbeitslosen ist hierfür nicht erforderlich.
Die Pflichtversicherung in der Krankenversicherung besteht für Arbeitslose kraft Gesetzes, sie beruht nicht auf einer
Entscheidung der Beklagten (Niesel/Düe, SGB III, § 335 Rdnr. 3). (Zwar besteht nach § 8 Abs. 1 Nr. 1a SGB V i. V.
m. § 207a Abs. 1 Nr. 1 SGB III auf Antrag eine Befreiungsmöglichkeit; eine solche Situation war hier jedoch nicht
gegeben.) Bei Bestehen eines solchen weiteren Krankenversicherungsverhältnisses wird der Leistungsbezieher
grundsätzlich von seiner Erstattungspflicht befreit. Denn nach § 335 Abs. 1 Satz 2 SGB III begründet ein während des
Leistungsbezugs aktuell bestehendes weiteres Krankenversicherungsverhältnis die Erstattungspflicht derjenigen
Krankenkasse, die die Krankenversicherung nach den Vorschriften des SGB V durchgeführt hat. Dies führt dann zum
Ausschluss einer Erstattungspflicht des Leistungsempfängers. § 335 Abs. 1 SGB V sowie die Vorgängervorschrift
des § 157 Abs. 3a AFG stellen eine Reaktion des Gesetzgebers (BT-Drucks. 12/3211 S. 28 zu Nr. 45) auf die zuvor
ergangene Rechtsprechung des BSG dar (vgl. zu den Gründen der Einführung von § 157 Abs. 3a AFG: BSG SozR 3-
4100 § 157 Nr. 1 und Nr. 2, BSG SozR 3-4300 § 335 Nr. 1), die eine Rückzahlung der von der Beklagten während
eines unrechtmäßigen Leistungsbezuges gezahlten Beiträge zur Krankenversicherung durch den Leistungsempfänger
nicht nur ausschloss, wenn neben die Krankenversicherung wegen Leistungsbezuges eine solche wegen Aufnahme
einer Beschäftigung getreten war (BSG SozR 3-4100, § 157 Nr. 1), sondern auch im Falle des Betruges (BSG SozR
3-4100, § 155 Nr. 2; BSG SozR 3-4100, § 157 Nr. 2). Krankenversicherungsverhältnis i. S. d. § 157 Abs. 3a Satz 2
AFG sowie des § 335 Abs. 1 Satz 2 SGB III ist grundsätzlich ein Pflicht- oder freiwilliges Krankenverhältnis zu
Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung im Geltungsbereich des AFG, vgl. §§ 5, 9 SGB V. Der Gesetzgeber
hatte bei Schaffung der Regelungen des § 157 Abs. 3a Satz 2 AFG bzw. § 335 Abs. 1 Satz 2 SGB III die
Fallgestaltungen im Blick, bei denen aus einem Nebeneinander von Leistungsbezug und einem anderen zur
Krankenversicherung führenden Sachverhalt, z.B. einem Beschäftigungsverhältnis eine zweifache Versicherung
begründet wird und eine Beitragspflicht aus jedem dieser Tatbestände erwächst (vgl. BSG SozR 3-4100, § 157 Nr. 2
m. w. N.). Die Situation der Leistungsempfänger ist in dieser Konstellation dadurch gekennzeichnet, dass ihr
Krankenversicherungsschutz grundsätzlich bereits durch eine eigene Beitragsleistung begründet worden ist, so dass
es unbillig wäre, sie zusätzlich mit einem Erstattungsanspruch für die von der Beklagten zur Krankenversicherung
geleisteten Beiträge zu belasten.
Eine solche Situation war hier gegeben. Der Kläger unterlag im streitigen Zeitraum neben der durch den Alg-Bezug
begründeten Krankenversicherung einer weiteren Krankenversicherungspflicht nach § 4 des Allgemeinen
(österreichischen) Sozialversicherungsgesetzes. Auf Grund seiner Beschäftigung bei der Silvretta-Seilbahn AG in
Ischgl/Österreich bestand für ihn nach dortigen Rechtsvorschriften kraft Gesetzes u. a. eine
Krankenversicherungspflicht, auf Grund derer für ihn auch entsprechende Beiträge an die Versicherungsanstalt der
Österreichischen Eisenbahnen entrichtet wurden.
Die Entscheidung des Sozialgerichts, dass eine Beschränkung der Regelung des § 157 Abs. 3a Satz 2 AFG bzw. §
335 Abs. 1 Satz 2 SGB III auf im Geltungsbereich des SGB V bestehende Krankenversicherungsverhältnisse nicht
gerechtfertigt ist, ist jedenfalls dann zutreffend, wenn das umstrittene "weitere" Krankenversicherungsverhältnis - wie
hier - im Geltungsbereich der Regelungen des Vertrages über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 (BGBl. II,
1253) in der Fassung des Beitrittsvertrages vom 24. Juni 1994 (BGBl. II, 2022) i.V.m. dem Vertrag zur Gründung der
Europäischen Gemeinschaft vom 25. März 1957 in der Fassung des Beitrittsvertrages vom 24. Juni 1994 angesiedelt
ist. Der Wortlaut des § 335 Abs. 1 Satz 2 SGB III selbst enthält schon keine Beschränkung auf
Versicherungsverhältnisse nach § 5 SGB V bzw. Krankenkassen nach § 4 Abs. 2 SGB V. Die Vorschrift ist bei einem
durch Aufnahme einer in Österreich versicherungspflichtigen Tätigkeit bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Bezug
(vgl. EuGH SozR 3-6030 Artikel 48 Nr. 12) unter Berücksichtigung der Ziele des Artikel 48 ff. EWGVtr (nach Änderung
jetzt Artikel 39 Abs. 2 EG) auszulegen, um so weit wie möglich zu verhindern, dass ihre Anwendung geeignet ist,
einen Wanderarbeiter davon abzuhalten, von seinem Recht auf Freizügigkeit aus Artikel 48 EWGVtr tatsächlich
Gebrauch zu machen. Dies wäre jedoch der Fall, wenn man der Auffassung der Beklagten (und der Beigeladenen)
folgte. Denn der Umstand, dass gleichzeitig zwei Krankenversicherungsverhältnisse im Geltungsbereich des SGB V
bestehen, führt im Inland zum Wegfall der Erstattungspflicht nach § 335 Abs. 1 Satz 1 SGB III. Soweit diese
Vergünstigung aber entfiele, wenn die vom Kläger selbst beitragsfinanzierte Krankenversicherung in einem anderen
Mitgliedsstaat der EG durchgeführt wird, könnte dies ein Hindernis darstellen, dort eine Arbeitsstelle anzunehmen.
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH (vgl. u. a. Urteil vom 24.09.1998 - C - 35/97, Urteil vom 21.11.1991, SozR
3-6048 Artikel 7 EWGV 1612/68 Nr. 1; Urteil vom 30.05.1989 - SozR 3-6030 Artikel 48 EWGVtr Nr. 13; Urteil vom
15.01.1986, SozR 6050 Artikel 73 Nr. 9; Urteil vom 16.05.2000 - C - 87/99, EuZW 410, 411, 2000) verbietet der in
Artikel 48 EWGVtr und Artikel 7 EWGV 1612/68 verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung nicht nur offenkundige
Diskriminierungen auf Grund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung,
die mit Hilfe der Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen können.
Der Zweck des Artikel 48 wäre daher auch dann verfehlt, wenn die Arbeitnehmer die von ihrem Recht auf Freizügigkeit
Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften ihres Mitgliedsstaates sichern
(EuGH, Urteil vom 07.02.1991 SozR 3-6030 Artikel 48 EWGVtr Nr. 3; Urteil vom 07.03.1991 SozR 3-6030 Artikel 48
EWGVtr Nr. 4; SozR 6050 Artikel 78 Nr. 2). Auch wenn daher der Kläger im konkreten Fall sich nicht gehindert sah,
eine Arbeitsstelle in Österreich anzunehmen, ist das nationale Recht unter Berücksichtigung der Ziele des Artikels 48
EWGVtr so auszulegen, dass die tatsächliche Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit nicht mit Nachteilen verbunden
sein darf, die nicht entstanden wären, hätte der Arbeitnehmer dieses Recht nicht für sich in Anspruch genommen
(EuGH, Urteil vom 05.10.1994, SozR 3-6083 Artikel 4 EWGRL 79/7 Nr. 8; LSG Niedersachsen, Urteil vom 15.12.1998
L 7 AL 3798).
Für die entgegenstehende Auffassung der Beklagten spricht auch nicht die Vorschrift des § 335 Abs. 1 Satz 4 SGB
III, wonach die Bundesanstalt und die Spitzenverbände der Krankenkassen (§ 213 SGB V) das Nähere über die
Erstattung der Beiträge nach den Sätzen 2 und 3 durch Vereinbarung regeln können. Denn es handelt sich lediglich
um eine Ermächtigung zu verfahrensrechtlicher Regelung für die interne Bearbeitung von Erstattungsfällen, die einen
nicht im räumlichen Geltungsbereich des AFG angesiedelten Träger der Krankenversicherung zwangsläufig nicht
erfassen kann. Hierauf beschränkt sich indes der Regelungsgehalt dieser Norm.
Dem steht auch das Urteil des BSG vom 10.08.2000 (SozR 3-4300 § 335 Nr. 1) nicht entgegen. Der der Entscheidung
zugrunde liegende Rechtsstreit betraf die Frage, ob bei einer privaten Krankenversicherung eine weiteres
Krankenversicherungsverhältnis i. S. v. § 335 Abs. 1 Satz 2 SGB III bestehen kann. Dies hat das BSG abgelehnt.
Bereits aus der Gesetzesterminologie "Krankenkassen" (§ 335 Abs. 1 Satz 3 SGB III) werde deutlich, dass es sich
um Träger einer gesetzlichen Krankenversicherung handeln muss. Zudem könne der Leistungsempfänger, der
zusätzlich einen privaten Krankenversicherungsvertrag abgeschlosen hat, dieser "doppelten Versicherung" - im
Gegensatz zu dem Pflichtversicherten - ohne weiteres ausweichen. Die Vorschrift verfolge den Zweck, denjenigen
von der Erstattung zu entlasten, dessen Beitragspflicht auf dem Eingreifen von zwei
Versicherungspflichttatbeständen, beruhe. Denn die Versicherungspflicht tritt bei Vorliegen ihrer gesetzlichen
Voraussetzungen kraft Gesetzes ein. Eine Dispositionsbefugnis steht dem Leistungsempfänger insoweit nicht zu.
Diese Situation war jedoch auch für den Kläger gegeben. Eine Versicherung gegen Krankheit erfolgte in einem der
gesetzlichen Krankenversicherung i. S. d. SGB V vergleichbaren System. Die nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 Allgemeines
Sozialversicherungsgesetz (ASVG) bestehende Versicherungspflicht knüpft - entsprechend den Regelungen des SGB
V - an ein bestehendes Beschäftigungsverhältnis an. Der Kläger hat daher keine Dispositionsbefugnis hinsichtlich des
Bestehens seiner Krankenversicherung bei der Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen, als einem
gesetzlichen Krankenversicherungsträger.
Der Wegfall der Erstattungspflicht ist hier auch nicht durch § 335 Satz 3 SGB II ausgeschlossen, denn der Kläger hat
in dem streitigen Zeitraum von der Beigeladenen zu 1) keine Leistungen aus der Krankenversicherung in Anspruch
genommen. Die Voraussetzungen der für sie günstigen Norm des § 335 Abs. 1 Satz 3 SGB III sind mithin nicht
gegeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Der auf den Pflegeversicherungsbeitrag entfallende Anteil, hinsichtlich
dessen der Kläger die Klage zurückgenommen hat, fiel hierbei nicht gesondert ins Gewicht.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen. Die streitige
Rechtsfrage hat nicht nur Bedeutung für diesen Einzelfall, sondern kann sich bei zahlreichen Beschäftigungen im
europäischen EU-Ausland stellen.