Urteil des LSG Sachsen vom 19.03.2001

LSG Fss: erlass, sozialhilfe, drohende gefahr, vorläufiger rechtsschutz, hauptsache, arbeitslosenhilfe, wahrscheinlichkeit, firma, deckung, handbuch

Sächsisches Landessozialgericht
Beschluss vom 19.03.2001 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 10 AL 1037/00 ER
Sächsisches Landessozialgericht L 3 B 121/00 AL-ER
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 02. November 2000 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Beschwerdeführer (Bf.) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Arbeitslosenhilfe
(Alhi) ab dem 04.02.2000, hilfsweise zumindest die Verbescheidung seiner Widersprüche vom 09.05.2000 und vom
28.08.2000.
Der Bf. war zuletzt als Sachbearbeiter in der Personalorganisation der L ... Braunkohle AG beschäftigt. Am
02.11.1992 meldete er sich erstmals mit Wirkung zum selben Tag arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg).
Wegen Ruhens des Leistungsanspruches bewilligte die Beschwerdegegnerin (Bg.) durch Bescheid vom 17.02.1993
Alg erst ab dem 19.01.1993. Im Jahre 1995 nahm er an einer beruflichen Bildungsmaßnahme teil und bezog in der
Zeit vom 01.03.1995 bis zum 31.10.1995 Unterhaltsgeld (Uhg). Anschließend war er wieder arbeitslos. Nach
Erschöpfung des Alg-Anspruchs am 18.02.1996 bewilligte ihm die Bg. durch Bescheid vom 01.02.1996 Alhi. Die
Bewilligung wurde in den folgenden Jahren jeweils mit dem 18.11. verlängert.
Anlässlich einer auf einer richterlichen Anordnung beruhenden Durchsuchung seines Wohnsitzes im Zusammenhang
mit einem dort ebenfalls residierenden Fuhrunternehmen (Firma K ... - Transporte) am 01.02.2000 stellte die Bg. die
Abwesenheit des Bf. fest. Nach Aussagen von Nachbarn hielt er sich seit dem 31.01.2000 mit Firmenfahrzeugen der
Firma K ... - Transporte in Spanien auf. Aus aufgefundenen Unterlagen ergab sich ein Verdacht auf eine
Gesellschafterbeteiligung des Bf. sowie seiner Ehefrau, Brigitte R ..., und einer Geschäftsführertätigkeit des Bf. Die
Bg. lud ihn daher für den 03.02.2000 und auf Grund seines Nichterscheinens am 04.02.2000 zum 07.02.2000 zu
einem Gespräch vor.
Auf Grund seines erneuten Nichterscheinens erging hierauf am 19.04.2000 ein Säumnisbescheid, mit dem die
Bewilligung von Alhi ab dem 04.02.2000 aufgehoben und gemäß § 145 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB
III) ein Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe für mindestens sechs Wochen festgestellt wurde.
Am 11.02.2000 meldete sich der Bf. erneut arbeitslos und beantragte die Weiterzahlung von Alhi. Diesen Antrag
lehnte die Bg. mit weiterem Bescheid vom 19.04.2000 ab. Dem Bewilligungsantrag könne nicht entsprochen werden,
da der Bf. als Selbständiger mehr als kurzzeitig beschäftigt und daher nicht arbeitslos sei. Die Entscheidung beruhe
auf dem § 190 Abs. 1 Nr. 1, § 198 Nr. 1, § 118 Abs. 1 Nr. 1 SGB III.
Dem widersprach der Bf. mit Schreiben vom 09. Mai 2000.
Mit mehreren Schreiben vom 26.04.2000 teilte die Bg. mit, der Bf. habe vom 01.05.1994 bis zum 03.02.2000 Alg bzw.
Alhi zu Unrecht bezogen. Nach dem Ergebnis einer Außenprüfung sei er in diesem gesamten Zeitraum mehr als
kurzzeitig beschäftigt gewesen. Da die Anspruchsvoraussetzungen somit nicht vorgelegen hätten, habe er den
überzahlten Betrag, sowie Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträge zu erstatten. Die Überzahlung
habe er durch unvollständige oder falsche Angaben verursacht. Ein entsprechendes Schreiben erfolgte zu dem
gewährten Uhg.
Mit mehreren Bescheiden vom 04.08.2000 hob die Bg. schließlich die Leistungsbewilligungen für den Zeitraum vom
01.05.1994 bis zum 31.12.1997 sowie ab dem 01.01.1998 auf. Die Anspruchsvoraussetzungen für Alg seien entfallen
(§ 48 SGB X) bzw. hätten bei der Alhi und dem Uhg von Anfang an nicht vorgelegen (§ 45 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 SGB
X).
Gegen die Zahlungserinnerung des beitreibenden Landesarbeitsamtes Sachsen legte der Bf. am 28.08.2000 "das
Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde" ein. Das Landesarbeitsamt wertete dies als Widerspruch zu den genannten
Aufhebungs- und Rücknahme- sowie Erstattungsbescheiden und reichte diesen an die zuständige Widerspruchsstelle
weiter.
Über die Widersprüche ist bisher nicht entschieden.
Am 22.09.2000 hat der Bf. unter Hinweis auf seine wirtschaftliche Situation beim Sozialgericht Dresden (SG) den
Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Damit hat er zunächst die Verpflichtung der Bg. zum Erlass eines
Widerspruchsbescheides, gleichzeitig aber auch die Gewährung von Alhi beantragt. Vor Erteilung des
Widerspruchsbescheides würden ihm keine Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz gewährt, diese seien auch
von der zuständigen Sozialbehörde bisher verweigert worden.
Das Sozialgericht Dresden (SG) hat durch Beschluss vom 02. November 2000 den Antrag abgelehnt. Für die
beantragte Verbescheidung der eingelegten Widersprüche durch Erlass einer einstweiligen Anordnung bestehe kein
Anordnungsgrund, da sich insofern im Vergleich einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren keine Nachteile ergäben.
Im Übrigen sei eine Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung im Anordnungsverfahren unzulässig. Soweit der Bf.
Alhi begehre, könne er auf die Deckung des existenzsichernden Lebensbedarfs durch Sozialhilfe verwiesen werden.
Hiergegen hat der Bf. am 13.11.2000 Beschwerde eingelegt.
Er dürfe nicht auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfe verwiesen werden. Bei einer Beantragung von Sozialhilfe
werde regelmäßig bei den nächsten Angehörigen nach den Vermögensverhältnissen gefragt. Auch eine Anfrage bei
deren Arbeitgebern sei nicht ausgeschlossen. Da die Angehörigen des Bf. zudem einen Betriebskredit beantragt
hätten, bestünde bereits aus taktischen Erwägungen keine Möglichkeit der Hilfegewährung durch das Sozialamt.
Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Sächsischen Landessozialgericht zur Entscheidung
vorgelegt.
Der Beschwerdeführer beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 02. November 2000 aufzuheben und die Beschwerdegegnerin - im
Wege der einstweiligen Anordnung - zu verpflichten, dem Kläger Arbeitslosenhilfe in gesetzlicher Höhe zu gewähren,
sowie hilfsweise, die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, die eingelegten Widersprüche vom 09.05.2000 und
28.08.2000 zu verbescheiden.
Die Bg. beantragt (sinngemäß),
die Beschwerde zurückzuweisen.
Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens hat der Bf. mitgeteilt, er habe nunmehr doch am 01.12.2000 einen Antrag auf
Sozialhilfe beim Landratsamt K ... gestellt. Die Prüfung des Sachverhaltes nehme jedoch längere Zeit in Anspruch.
Weiter hat die Bg. auf Anfrage mitgeteilt, es sei deshalb noch nicht zu einem Erlass der Widerspruchsbescheide
gekommen, weil die abschließenden Entscheidungen maßgeblich von den Ergebnissen des strafrechtlichen
Ermittlungsverfahrens gegen den Bg. abhingen. Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Görlitz habe dieses bislang
noch nicht abgeschlossen werden können, weil noch weitere Zeugenvernehmungen sowie die Sichtung und
Auswertung beschlagnahmter Unterlagen ausstehe.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Verfahrensakten beider Instanzen und die
Leistungsakte der Bg. Bezug genommen.
Die zulässige und statthafte (§§ 172, 173 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) Beschwerde ist nicht begründet. Zu
Recht hat das SG im Ergebnis den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Der Bf. hat keinen
Anspruch auf Zahlung von Alhi im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.
Allerdings hat das SG hier das Begehren des Bf. unzutreffend bewertet. Dieses wäre sachgerecht auszulegen
gewesen. Auch wenn dies aus dem Text der Antragsschrift vom 18.09.2000 nicht klar hervorgeht, geht es dem Bf.-
entgegen der Formulierung - speziell in diesem Verfahren auf Gewährung von einstweiligen Rechtsschutz vorrangig
um die Gewährung der Arbeitslosenhilfe als solche. Dies macht er auch durch die wiederholte Betonung der
Mittellosigkeit und Existenzgefährdung deutlich. Allein ein Erlass eines rechtsmittelfähigen Widerspruchsbescheides
kann aber dem Bf. zur Deckung des Lebensbedarfes nicht weiterhelfen. Daher ist sein Begehren so zu verstehen,
dass der Antrag auf Erlass des Widerspruchsbescheides als allenfalls hilfsweiser zurücktritt.
Zutreffend hat das SG als Rechtsgrundlage für den Erlass einer einstweiligen Anordnung § 123
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) analog angewandt. Vorläufiger Rechtsschutz wird - abgesehen von den Fällen
des § 97 Abs. 2 - SGG durch die §§ 80, 5 und 123 VwGO - analog - gewährt (BVerfGE 46, 166; Krasney/Udsching,
Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl., Kap. IV, Rdnr. 114; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur
Sozialgerichtsbarkeit, Rdnr. 134 zu § 97). (Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die genannte Entscheidung
verwiesen.)
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist die einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zu erlassen, wenn der vom Bf. geltend gemachte Anspruch - im vorliegenden Fall
auf Alhi - nach summarischer Prüfung mit Wahrscheinlichkeit besteht (Anordnungsanspruch) und wenn durch die
einstweilige Anordnung wesentliche Nachteile abgewendet oder eine drohende Gefahr verhindert wird
(Anordnungsgrund). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist im sozialgerichtlichen Verfahren
einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, wenn dem Betroffenen bei einem Abwarten bis zur Entscheidung der
Hauptsache unzumutbare und möglicherweise irreversible Nachteile drohen (BVerfGE 46, 166; Krasney/Udsching
a.a.O., Rdnr. 114). Sinn eines Beschlusses im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist aber eine vorläufige
Regelung. Das SG hat daher zu Recht ausgeführt, die Vorwegnahme der Hauptsache, im Sinne der Schaffung eines
endgültigen Zustandes durch vollständige Befriedigung des Anspruchs, sei im Anordnungsverfahren grundsätzlich
nicht möglich. Eine solche ist jedoch dann hinzunehmen, wenn sie nötig ist, um effektiven Rechtsschutz zu
gewähren. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die ohne Erlass der einstweiligen Anordnung eintretenden
Schäden für den Bf. unzumutbar und die Folgen nicht reparabel wären. Gleiches gilt, wenn der Rechtsschutz in der
Hauptsache zu spät käme. Zusätzliche Voraussetzung ist, dass ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg
in der Hauptsache spricht (Krasney/Udsching, a.a.O., Rdnr. 120).
Ob ein Anordnungsgrund vorliegt, wenn dem Bf. die Möglichkeit offen steht, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, ist
umstritten. Das BVerfG (BVerfGE 46, 166, 179) sieht in diesen Fällen regelmäßig kein Bedürfnis für den Erlass
einstweiliger Anordnungen. Gegen einstweilige Leistungsanordnungen bei diesem Sachverhalt spricht grundsätzlich
die Tatsache, dass der Bf. bei einem Unterliegen in der Hauptsache die zu Unrecht erhaltenen Leistungen zu erstatten
hat, während ihm die Sozialhilfe in jedem Fall verbleibt. Ausnahmsweise kann ein Anordnungsgrund dann vorliegen,
wenn die beanspruchten Leistungen erheblich über dem Sozialhilfeniveau liegen und der Bf. bei einer Verweisung auf
die Sozialhilfe schwerwiegende und unzumutbare Vermögensdispositionen treffen müsste. Anders stellt sich die
Situation auch dann dar, wenn die Gewährung von Sozialhilfe vom zuständigen Träger tatsächlich bereits abgelehnt
wurde (Krasney/Udsching, a.a.O., Rdnr. 19; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl., Rdnr. 23b zu § 97).
Es sind hier keine Umstände ersichtlich, derentwegen eine Verweisung auf den Sozialhilfeanspruch nicht zumutbar
wäre. Eine solche hat der Bf. nach Sachlage erst nach Erlass der angegriffenen Entscheidung des SG beantragt. Die
Ausführungen zu eventuellen Anfragen über die Vermögensverhältnisse der Angehörigen betreffen tatsächlich nur
Erstattungsansprüche gegen den Ehegatten oder Verwandte ersten Grades ( vgl. § 90 Bundessozialhilfegesetz ) und
sie sind im Übrigen auch nicht geeignet die Unzumutbarkeit zu begründen, denn hierauf könnte sich (fast) jeder
berufen, der auf einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger verwiesen wird. Entsprechend hat der Bf. nunmehr auch
einen solchen Antrag gestellt. Diesen nicht bereits zuvor gestellt zu haben, stellt eine persönliche Entscheidung des
Bf. dar. Eine Ablehnung der Sozialhilfe ist - bisher - nicht erfolgt, vielmehr die Prüfung des Anspruchs eingeleitet
worden.
Der ohne Erlass der einstweiligen Anordnung entstehende Schaden ist für den Bf. auch nicht irreversibel. Soweit nach
abschließender Prüfung die Bg. - oder ggf. das Gericht - zu dem Ergebnis gelangte, dass ein Anspruch auf Alhi
bestanden hätte, wäre die Leistung ab dem 04.02.2000 nachzuzahlen.
Bei dieser Sachlage muss der Senat nicht weiter darauf eingehen, ob dem Begehren des Bf. auch das Fehlen eines
Anordnungsanspruches entgegensteht. Eine Verpflichtung der Bg. zur Zahlung von Alhi im Wege des einstweiligen
Rechtsschutzes setzt u.a. voraus, dass der Bf. verfügbar war und ist. Die Ablehnung der Alhi im Falle des Bf. beruht
aber derzeit und auch bereits seit dem 04.02.2000 - unabhängig von der Frage der Bedürftigkeit - auf der fehlenden
Arbeitslosigkeit wegen einer selbstständigen Tätigkeit. Die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges in der Hauptsache kann
bisher nach Aktenlage weder positiv angenommen, noch definitiv verneint werden. Es erscheint durchaus
sachgerecht, hierzu u.a. auch wesentlich auf die Feststellungen der Staatsanwaltschaft abzustellen.
Hierbei konnte der Senat offen lassen, ob Entsprechendes auch für den Säumnisbescheid vom 19.04.2000 gilt. Denn
dieser betrifft einen zurückliegenden Zeitraum, der zumindest für die Beurteilung im Rahmen des Verfahrens auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung durch die spätere Aufhebung überholt ist.
Für den "Hilfsantrag" auf Erlass der Widerspruchsbescheide zu den Widersprüchen vom 09.05.2000 und vom
28.08.2000 besteht kein Anordnungsgrund, da allein durch deren Verzögerung weder schwere und unzumutbare
Nachteile noch ein irreversibler Schaden entstehen.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus der analogen Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist endgültig, § 177 SGG.