Urteil des LSG Sachsen vom 08.03.2006

LSG Fss: ungebührliches verhalten, grad des verschuldens, rechtliches gehör, androhung, unterbrechung, ausnahmefall, ermessensausübung, fig, zustand, blei

Sächsisches Landessozialgericht
Beschluss vom 08.03.2006 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Leipzig S 13 KR 104/03
Sächsisches Landessozialgericht L 1 B 30/06 KR
I. Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 14.12.2005 aufgehoben. II. Die
außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Beschwerdeverfahren werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe:
I. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Festsetzung eines Ordnungsgeldes wegen Ungebühr. Im
Ausgangsverfahren, das zwischenzeitlich durch Klagerücknahme erledigt ist, begehrte der Beschwerdeführer eine
günstigere Festsetzung von Krankenversicherungsbeiträgen durch die beklagte Deutsche Angestelltenkrankenkasse.
Die Vorsitzende der 13. Kammer des Sozialgerichts Leipzig (SG) beraumte für den 14.12.2005 einen Erörterungs- und
Beweisaufnahmetermin an, in dem die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers als Zeugin vernommen wurde. In der
Niederschrift zu diesem Termin ist u.a. vermerkt: "( ...) Die Zeugin wird vernommen. ( ...) Es ergeht folgender
Beschluss: Dem Kläger wird wegen Ungebühr ein Ordnungsgeld von 200,00 EUR auferlegt. Der Kläger verlässt um
13.15 Uhr die Sitzung. ( ...)" Der dem Beschwerdeführer am 09.01.2006 zugestellte Beschluss ist damit begründet,
dass der Beschwerdeführer die Vernehmung der Zeugin im Beweisaufnahmetermin durch Zwi-schenrufe gestört und
die Zeugin dadurch verunsichert habe. Von diesem Verhalten sei der Beschwerdeführer auch nicht durch die
Androhung eines Ordnungsgeldes abzubringen gewesen. Ungebühr könne sich auch als Verstoß gegen die zur
sachgerechten Durchfüh-rung der Verhandlung notwendige Ordnung darstellen. Diese bestehe auch in der Schaf-fung
einer Atmosphäre der Sachlichkeit, die dem Ernst der Rechtsprechung gerecht werde. Ungebühr sei auch das
Dazwischenreden außerhalb des verfahrensrechtlichen Fragerechts. Dem Beschwerdeführer sei daher zur
Aufrechterhaltung der notwendigen Ordnung ein Ordnungsgeld aufzuerlegen gewesen. Hiergegen richtet sich die am
13.01.2006 bei dem SG eingegangene Beschwerde. Der Be-schwerdeführer führt im Wesentlichen aus, die
Verhandlung habe sich als Farce gestaltet, da die Richterin ausschließlich der Argumentation der Beklagten gefolgt
sei. Die Zeugin sei durch ihn nicht verunsichert worden. Sie habe bereitwillig Auskunft gegeben. Er selbst sei in der
Verhandlung nicht befragt worden. Anhand seines Lohnstreifens, der dem SG vorliege, könne man ersehen, dass er
mit einem Bruttolohn von monatlich 500 EUR auskom-men müsse. Es sei ihm daher unmöglich, den Forderungen
nachzukommen. Das SG hat der Beschwerde am 17.01.2006 nicht abgeholfen und sie dem Sächsischen
Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten in beiden Rechts-zügen Bezug genommen.
II. Die zulässige Beschwerde ist begründet. Es kann offen bleiben, ob die Voraussetzungen für die Festsetzung eines
Ordnungsmittels im Sinne von § 178 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) gegen den Beschwerdeführer im Termin am
14.12.2005 vorlagen (dazu unten 1.), denn die Protokollierung entspricht nicht den Anforderungen des § 182 GVG
(dazu unten 2). 1. Sollte der Kläger sich so verhalten haben, wie in dem Beschluss vom 14.12.2005 ausgeführt –
wofür unter Berücksichtigung des Verhaltens des Beschwerdeführers anlässlich eines mit der Geschäftsstelle des SG
am 09.11.2004 geführten Telefonats viel spricht –, hätte er sich einer Ungebühr im Sinne des § 178 GVG schuldig ge-
macht. Denn die Störung der Gerichtsverhandlung durch Zwischenrufe und die Verunsicherung der Zeugin stellt,
insbesondere wenn sie trotz Ermahnung durch die Vorsitzende fortgesetzt wird, ein ungebührliches Verhalten dar.
Ungebühr ist beispielsweise die Verletzung der dem Gericht geschuldeten Achtung und der Ver-stoß gegen die Regeln
über den ordnungsgemäßen Ablauf der Verhandlung (Kissel, GVG, 3. Aufl. 2001, § 178 Rn. 6 m. w. N.). Der Senat
sieht in dem Verhalten des Klägers – wenn es sich so zugetragen hat, wie in dem angefochtenen Beschluss
ausgeführt – ohne Weiteres einen Verstoß in dem genannten Sinne und damit eine Ungebühr gemäß § 178 GVG. Die
Voraussetzun-gen für die Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen den Beschwerdeführer hätten in diesem Falle
vorgelegen. 2. Allerdings verlangt § 182 GVG, dass der Beschluss des Gerichts und dessen Veran-lassung in das
Protokoll aufzunehmen sind. Sinn dieser Vorschrift ist es, den ge-samten Geschehensablauf, der zu dem Beschluss
geführt hat, unter dem unmittelba-ren frischen Eindruck des Geschehens von dem Vorsitzenden – so konkret wie
möglich – schriftlich niederlegen zu lassen, um dem Beschwerdegericht ein mög-lichst objektives, von
Erinnerungsfehlern freies und so umfassendes Bild des Vor-gangs zu geben, dass es Grund und Höhe der
Festsetzung des Ordnungsmittels re-gelmäßig ohne weitere Ermittlungen nachprüfen kann (Oberlandesgericht [OLG]
Stuttgart, Beschluss vom 06.07.1979 – 3 Ws 207/79 –, Justiz 1979, 347; Kissel, a. a. O., § 182 Rn. 2; OLG
Karlsruhe, Beschluss vom 14.02.1997 – 14 W 1/97 –, NJW-RR 1998, 144). Das Protokoll muss gemäß § 182 GVG
Karlsruhe, Beschluss vom 14.02.1997 – 14 W 1/97 –, NJW-RR 1998, 144). Das Protokoll muss gemäß § 182 GVG
zwingend einerseits eine Beschreibung des das Ordnungsmittel auslösenden Vorganges in tatsächlicher Hinsicht,
andererseits den Beschluss einschließlich seiner Begründung enthalten (Kissel, a. a. O., § 182 Rn. 3). Im Falle des
Verstoßes gegen § 182 GVG ist der Beschluss über das Ord-nungsmittel aufzuheben (OLG Stuttgart, a. a. O.; Kissel,
a. a. O., § 182 Rn. 7). Bereits auf Grund dieses Verstoßes gegen § 182 GVG war der angefochtene Be-schluss
aufzuheben. a) Die Niederschrift zum Termin am 14.12.2005 enthält keine Angaben zur Unge-bühr des Klägers.
Lediglich das möglicherweise ebenfalls ungebührliche Verhalten des Klägers im Nachgang zu dem angefochtenen
Beschluss ist ansatzweise in der Niederschrift dokumentiert. Auch die Begründung des Beschlusses ist in der Nie-
derschrift noch nicht niedergelegt, sondern erst in dem im Nachgang zu dem Ter-min ausgefertigten Beschluss. Da
der Beschwerdeführer im Kern den Vorwurf bestreitet, kann dahingestellt blei-ben, ob ein Verstoß gegen § 182 GVG
dann unbeachtlich ist, wenn der mit einem Ordnungsgeld belegte Vorgang in der Beschwerdebegründung selbst nicht
bestrit-ten wird und die Darstellung in den Gründen des Ordnungsgeldbeschlusses aus-reicht, um Grund und Höhe der
Sanktion im Beschwerdeverfahren nachprüfen zu können (so OLG Stuttgart a. a. O. m. w. N.). b) Der Beschluss war
ferner auch deshalb aufzuheben, weil aus der Sitzungsnied- derschrift nicht hervorgeht, dass dem Kläger das
erforderliche rechtliche Gehör in ausreichendem Maße gewährt worden ist. Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gebie-
tet, dass demjenigen, gegen den ein Ordnungsmittel verhängt werden soll, grund-sätzlich vorher rechtliches Gehör zu
gewähren ist (OLG Koblenz, Beschluss vom 01.03.1988 – 1 Ws 136/88 – Juris; Brandenburgisches OLG, Beschluss
vom 21.08.2003 – 3 W 41/03 – NJW 2004, 451; Kissel, a. a. O., § 178 Rn. 45). Nur aus-nahmsweise bei besonders
schwerwiegenden Verstößen, wenn die Festsetzung zu-vor ausdrücklich angedroht wurde oder wenn der Betroffene
sich vorher entfernt, kann auf die Gewährung des rechtlichen Gehörs verzichtet werden (Kissel, a. a. O., § 178 Rn. 46
f.). Ein solcher Ausnahmefall liegt nicht vor. Vielmehr hat der Beschwerdeführer – die Begründung des angefochtenen
Beschlusses zu Grunde gelegt – sich wiederholter Verstöße schuldig gemacht, die in ihrer Summe ausreichend
schwerwiegend waren, um den Gang der Verhandlung beträchtlich zu stören. Gerade in einem solchen Fall ist die
Unterbrechung der Zeugenvernehmung durch die zu Protokoll genommene Androhung des Ordnungsmittels angezeigt
mit der Möglichkeit für den Betroffe-nen, sich zu dem Vorfall zu äußern. Gerade wenn sich Verfahrensbeteiligte im
Lau-fe einer Verhandlung "in Rage reden", kann diese Vorgehensweise zu einer Beru-higung und Versachlichung der
Verhandlung führen. Dem Betroffenen steht das Recht zu, sein eigenes Fehlverhalten nach der – in der Regel durch
die Protokollie-rung erzwungenen – Beruhigung seines möglicherweise erhitzten Gemütes, zur Kenntnis zu nehmen,
zu überdenken und sich dafür möglicherweise zu entschuldi-gen. Hat sich der Betroffene aber für sein ungebührliches
Verhalten entschuldigt, so hat das Gericht diese Tatsache bei der Entscheidung darüber, ob ein Ordnungsmittel
verhängt wird, zu berücksichtigen. Diese Möglichkeit wird dem Betroffenen aber genommen, wenn das Gericht über
das Ordnungsmittel ohne die formelle Gewäh-rung rechtlichen Gehörs – die in der Sitzungsniederschrift zu
protokollieren ist - entscheidet. Insofern konnte das rechtliche Gehör auch nicht im Rahmen des Abhil-feverfahrens
nachgeholt werden (vgl. auch Bay. Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 07.02.2003 – 19 C 02.31770 – NVwZ
2003, 883, 884), da dieses Recht dem Beschwerdeführer in der akuten Situation zustand. Schließlich geht aus der
Sit-zungsniederschrift nicht hervor, dass der Beschwerdeführer schon vor der Festset-zung des Ordnungsgeldes den
Sitzungssaal verlassen hat. Im Ordnungsgeldbeschluss hat das SG zwar ausgeführt, der Beschwerdeführer sei auch
nicht durch die Androhung eines Ordnungsgeldes von seinem Verhalten abzu-bringen gewesen. Materiell genügt – wie
bereits ausgeführt – eine derartige Andro-hung, um dem Anhörungsrecht des Betroffenen zu entsprechen. Gerade in
emotio-nal besonders aufgeladenen Situationen mit deutlichem Fehlverhalten ist dies häu-fig die einzige Möglichkeit,
auf den sich ungebührlich Benehmenden einzuwirken und ihm ein unmissverständliches "Stopp" zu signalisieren. Die
Androhung des Ordnungsgeldes ist aber vom SG nicht in der Sitzungsniederschrift protokolliert worden. Dies genügt
den formellen Anforderungen des § 182 GVG nicht. Denn die "Veranlassung" im Sinne des § 182 GVG und der dort
statuierte Protokollzwang beinhaltet auch, ob und wie auf den sich ungebührlich Benehmenden durch das Gericht
eingewirkt worden war, bevor das Ordnungsmittel verhängt wurde. c) Lediglich der Vollständigkeit halber weist der
Senat darauf hin, dass im Be-schluss über die Verhängung eines Ordnungsgeldes auch Erwägungen zur Höhe des
festgesetzten Ordnungsgeldes enthalten sein sollten. Die Festsetzung des Ord-nungsgeldes liegt der Höhe nach im
pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Der Grad des Verschuldens und wirtschaftliche Aspekte sollten
Berücksichtigung fin-den (Kammergericht, Beschluss vom 23.05.2001 – 1 AR 524/01 –Juris). Das Be-schwerdegericht
kann die erforderliche Ermessensausübung allerdings ggf. nachho-len und die Höhe des Ordnungsgeldes korrigieren.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.