Urteil des LSG Sachsen vom 22.04.2010

LSG Fss: vernehmung von zeugen, berufskrankheit, bandscheibenvorfall, berufliche tätigkeit, belastung, mrt, meinung, befragung, kausalität, einwirkung

Sächsisches Landessozialgericht
Urteil vom 22.04.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Dresden S 5 U 334/06
Sächsisches Landessozialgericht L 2 U 109/07
I. Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 09.05.2007 und der
Bescheid der Beklagten vom 22.03.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.11.2006 aufgehoben. Es
wird festgestellt, dass beim Kläger seit 25.05.2001 eine Berufskrankheit der Nr. 2108 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung vorliegt.
II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Instanzen.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen einer Berufskrankheit der Nr. 2108 der Anlage zur
Berufskrankheitenverordnung (BK-Nr. 2108 BKV).
Der 1970 geborene Kläger absolvierte vom 01.09.1986 bis 15.07.1988 eine Lehre zum Baufacharbeiter und ging
anschließend bis zum 24.05.2001 Beschäftigungen im erlernten Beruf und als Zimmerer nach. Vom 25.05.2001 bis
05.04.2002 war er arbeitsunfähig. Seitdem ist er arbeitslos.
Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten (TAD) nahm am 17.11.2005 Stellung, der Kläger sei im Zeitraum von
September 1986 bis Juli 2001 zu 45 bis 50 % seiner durchschnittlichen Arbeitszeit belastend im Sinne der BK-Nr.
2108 BKV tätig gewesen.
Nachdem die Gewerbeärztin in ihrer Stellungnahme vom 08.12.2005 ein belastungskonformes Schadensbild verneint
hatte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22.03.2006 Leistungen wegen einer BK-Nr. 2108 BKV ab. Zwar seien die
arbeitstechnischen Voraussetzungen der Berufskrankheit erfüllt. Es bestehe jedoch kein ursächlicher Zusammenhang
zwischen den beruflichen Einwirkungen und der beim Kläger bestehenden Erkrankung. Die bei ihm vorliegende
bandscheibenbedingte Erkrankung des Segments L5/S1 sei auf anlagebedingte Erkrankungen in Form der Verbiegung
der Wirbelsäule, eines lumbosacralen Übergangswirbels und einer Scheuermann’schen Erkrankung zurückzuführen.
Im Widerspruchsverfahren fertigte der Orthopäde Dr. R. auf Veranlassung der Beklagten am 13.10.2006 ein Gutachten
nach Untersuchung des Klägers. Aus den Röntgenaufnahmen vom 20.07.2006 ergäben sich eine Verschmälerung des
Zwischenwirbelraums L1/2 um mehr als ein Drittel (Chondrose II. Grades) und eine Höhenminderung im Segment
L5/S1 um mehr als ein Fünftel (Chondrose I. Grades). Eine Entfaltungsstörung der Lendenwirbelsäule (LWS) bestehe
angesichts eines Schoberschen Zeichens von 10/16 cm nicht. Das Verteilmuster der Schäden an der LWS spreche
gegen eine berufsbedingte Erkrankung. Die stärkste Schädigung befinde sich im am geringsten belasteten Segment
L1/2. Die zwischen den Segmenten L1/2 und L5/S1 liegenden Bandscheiben wiesen keinerlei
Verschleißveränderungen auf. Weder liege ein Black-disc-Phänomen noch eine Begleitspondylose vor.
Gestützt auf dieses Gutachten wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23.11.2006 den Widerspruch des
Klägers zurück.
Sein Begehren hat der Kläger mit der am 12.12.2006 zum Sozialgericht Dresden (SG) erhobenen Klage weiterverfolgt.
Sein geringes Lebensalter sowie der starke Ausprägungsgrad der Schäden sprächen für einen Zusammenhang.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 09.05.2007 abgewiesen. Zwar seien beim Kläger ausreichende
berufliche Einwirkungen vorhanden. Er leide auch an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS in Form einer
Chondrose II. Grades des Segments L1/2 und einer Chondrose I. Grades des Segments L5/S1. Die
bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS sei jedoch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die berufliche
Tätigkeit (mit-)verursacht worden. Das ergebe sich aus dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten.
Gegen den den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 04.06.2007 zugestellten Gerichtsbescheid haben sie am
14.06.2007 Berufung beim Sächsischen Landessozialgericht eingelegt. Soweit das SG ein belastungskonformes
Schadensbild verneine, sei zunächst auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27.06.2006 – B 2 U 13/05 R
– zu verweisen. Das Fehlen einer Begleitspondylose sei ebenfalls kein Ausschlusskriterium. Alternative Ursachen für
die Erkrankung lägen nicht vor. Zudem habe das SG den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt.
Am 30.11.2007 hat der TAD erneut Stellung genommen. Beim Kläger liege eine berufliche Gesamtbelastungsdosis
nach dem Mainz-Dortmunder Dosismodell (MDD) von 9,2 MNh vor. Am 04.06.2008 hat er seine Stellungnahme
überarbeitet. Unter Berücksichtigung der vom BSG erarbeiteten Kriterien sei eine berufliche Gesamtbelastungsdosis
von 18,4 MNh gegeben.
Auf Veranlassung des Senats hat der Orthopäde Dr. W. am 05.12.2008 ein weiteres Gutachten nach Untersuchung
des Klägers erstellt. Beim Kläger liege ein chronischer wirbelsäulenbezogener lokaler Schmerz der LWS bei
Bandscheibenabnutzung L5/S1 mit rechtsseitigem Bandscheibenvorfall vor. Aus den Röntgenaufnahmen des Jahres
2006 ergebe sich eine Chondrose I. Grades des Segments L5/S1 und eine Chondrose II. Grades des Segments L1/2.
Durch die MRT-Aufnahmen von 2001 und 2003 sei ein Bandscheibenvorfall L5/S1 nachweisbar. Eine
Begleitspondylose im Sinne der Definition der Konsensempfehlungen liege nicht vor. An der HWS seien ausweislich
der Röntgenaufnahmen von 2006 Chondrosen I. Grades der Segmente C5/6 und C6/7 gegeben. Es bestehe kein
Bandscheibenvorfall. Der Kläger habe nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit im Jahre 2001 alle Tätigkeiten einstellen
müssen, die mit gehäuftem schweren Heben und Tragen sowie mit gehäuften Arbeiten in extremer Rumpfbeugehalte
verbunden gewesen seien. Die Veränderungen der LWS eilten dem altersentsprechenden Niveau voraus. Eine
Betonung der drei unteren Bandscheiben der LWS sei nicht sicher gegeben, weil nur das Segment L5/S1
altersuntypisch verändert sei. Die Zusatzkriterien der Konstellation B 2 der Konsensempfehlungen lägen nicht vor.
Folglich sei eine Konstellation B 3 gegeben. Obwohl bezüglich dieser Konstellation kein Konsens über das Vorliegen
eines Kausalzusammenhangs zwischen den Erarbeitern der Konsensempfehlung bestand, gehe er vom
Nichtbestehen eines Kausalzusammenhangs aus. Er stütze sich dabei auf die in den Konsensempfehlungen
wiedergegebene Auffassung von Sch ... Andere schädigungsabhängige Ursachen bestünden nicht.
Für den Senat hat der Arbeitsmediziner Prof. Dr. B. am 08.12.2009 ein weiteres Gutachten nach Untersuchung des
Klägers gefertigt. Die berufliche Gesamtbelastungsdosis des Klägers habe – nach eigenen Berechnungen nach
Befragung des Klägers – insgesamt 25,5 x 106 Nh, diejenige im Zeitraum von September 1986 bis August 1996 17,71
x 106 Nh und die im Zeitraum von Juni 1991 bis Mai 2001 17,2 x 106 Nh betragen. Beim Kläger liege eine
bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS in Form eines Bandscheibenprolapses und einer fortgeschrittenen
Chondrose II. Grades L5/S1 vor. Die Chondrose II. Grades sei erstmals am 15.01.2003 nachgewiesen worden, der
Bandscheibenvorfall L5/S1 am 10.08.2001. Beim Kläger bestehe keine Begleitspondylose. Er leide lediglich unter
einer Chondrose I. Grades der Segmente C5/6 und C6/7. Beim Kläger bestünden keinerlei Anhaltspunkte für einen
Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule (HWS). Bei ihm liege eine besonders intensive Wirbelsäulenbelastung mit
Überschreitung des Richtwerts für die Lebensdosis innerhalb von 10 Berufsjahren vor. Die bandscheibenbedingte
Erkrankung der LWS habe den Kläger im Mai 2001 zur Unterlassung der schädigenden Tätigkeit gezwungen. Die
berufliche Einwirkung sei wesentliche Ursache der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS im Sinne der BK-Nr.
2108 BKV. Gesicherte außerberuflich bedingende konkurrierende Ursachen für die Entwicklung einer
bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS lägen beim Kläger nicht vor. Bei ihm sei die Konstellation B 2 2.
Anstrich nach den Konsensempfehlungen gegeben.
Dem von Prof. Dr. B. gefertigten Gutachten hat das vom Radiologen Dr. T. am 04.10.2009 gefertigte Zusatzgutachten
zugrunde gelegen. Aus den Röntgenaufnahmen vom 15.01.2003 und dem MRT der LWS vom 10.08.2001 ergebe sich
jeweils eine Chondrose II. Grades des Segments L5/S1. Ansonsten liege an keinem Segment der LWS eine
Chondrose vor. Auf den MRT-Aufnahmen der LWS vom 10.08.2001 und den MRT-Aufnahmen der LWS vom
15.01.2003 seien jeweils ein Bandscheibenvorfall L5/S1 nachweisbar. Beim Kläger bestehe eine Skoliose der BWS
mit einem Cobbwinkel von 18°. Das Vollbild eines Morbus Scheuermann mit Keilwirbelbildung von 10° finde sich
weder an der Brustwirbelsäule (BWS) noch der LWS.
In der mündlichen Verhandlung hat der Senat den Kläger befragt und Prof. Dr. B. zur Erläuterung seines Gutachtens
gehört. Bezüglich der Einzelheiten ihrer Einlassung bzw. Aussage wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 09.05.2007 und den Bescheid der Beklagten vom 22.03.2006
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.11.2006 aufzuheben und festzustellen, dass beim Kläger eine
Berufskrankheit der Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Auffassung, im Ergebnis fokussiere sich die Frage darauf, ob der Kläger einer besonders
intensiven Belastung im Sinne der Fallkonstellation B 2 2. Anstrich ausgesetzt gewesen sei. Prof. Dr. B. sei
diesbezüglich der Auffassung, dass für die Beurteilung der besonders intensiven Belastung die ersten 10 Berufsjahre
maßgebend seien. Dieser Auffassung könne sich die Beklagte zum jetzigen Zeitpunkt nicht anschließen. Weder den
Konsensempfehlungen sei eine solche Einschätzung zu entnehmen noch habe sich die höchstrichterliche
Rechtsprechung dahingehend geäußert. Zwar stelle die Auffassung von Prof. Dr. B. eine gewichtige Meinung dar, sie
sei jedoch zum derzeitigen Zeitpunkt nicht herrschende Meinung.
Dem Senat liegen die Verfahrensakten beider Instanzen sowie die Verwaltungsakte der Beklagten vor. Ihr Inhalt war
Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Daher waren der Gerichtsbescheid des SG vom 09.05.2007 und
der Bescheid der Beklagten vom 22.03.2006 und der Widerspruchsbescheid vom 23.11.2006 aufzuheben. Es war
festzustellen, dass beim Kläger seit 25.05.2001 eine BK-Nr. 2108 BKV besteht.
Beim Kläger liegt seit 25.05.2001 der Versicherungsfall einer BK-Nr. 2108 BKV vor.
1. Vorliegend ist die BK-Nr. 2108 BKV i. V. m. § 9 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) maßgeblich, weil
der Versicherungsfall am 25.05.2001, mithin nach dem 01.01.1997, eingetreten ist.
Der Kläger hat die gefährdende Tätigkeit am 25.05.2001 völlig aufgegeben. Ab diesem Zeitpunkt war er arbeitsunfähig
erkrankt und hat hiernach auch nicht wieder eine wirbelsäulenbelastende Tätigkeit ausgeübt, so dass als Zeitpunkt
des Eintritts des Versicherungsfalls nur der 25.05.2001 in Betracht kommt.
2. Beim Kläger sind die Voraussetzungen einer BK-Nr. 2108 BKV gegeben.
Eine Berufskrankheit nach BK-Nr. 2108 BKV liegt vor, wenn der Versicherte an einer bandscheibenbedingten
Erkrankung der LWS leidet, die durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige
Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung verursacht worden ist, und der Versicherte durch die Erkrankung
gezwungen wird, alle Tätigkeiten zu unterlassen, die ursächlich für die Entstehung oder die Verschlimmerung dieser
Erkrankung waren oder noch ursächlich sein können.
Für das Vorliegen des Tatbestandes der Berufskrankheit ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der
versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (so genannte haftungsbegründende Kausalität) und
zwischen der schädigenden Tätigkeit und der Erkrankung andererseits (so genannte haftungsausfüllende Kausalität)
erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden
Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der
Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu
bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit – ausreicht
(vgl. BSG, Urteil vom 22.08.2000 - B 2 U 34/99 R -).
a) Die Feststellungen von Prof. Dr. B. haben ergeben, dass beim Kläger angesichts einer beruflichen
Gesamtbelastungsdosis nach dem MDD von 25,5 x 106 Nh ausreichende Einwirkungen im Sinne der BK-Nr. 2108
BKV gegeben sind. Auch der TAD hat unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 30.10.2007
– B 2 U 4/06 R –, Rdnr. 25 und vom 18.11.2008 – B 2 U 14/07 R, Rdnr. 31 – sowie – B 2 U 14/08 R –, Rdnr. 30) eine
ausreichende berufliche Gesamtbelastungsdosis bejaht. Daher hat der Senat keinen Zweifel, dass der Kläger einer für
die Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS ausreichenden Belastung ausgesetzt war.
b) Der Kläger leidet seit Aufgabe der schädigenden Tätigkeit an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS.
Dies haben die Gutachter Prof. Dr. B. , Dr. W. und Dr. R. übereinstimmend zur vollen Überzeugung des Senats
festgestellt. Hiernach besteht beim Kläger eine altersuntypische Chondrose L5/S1 sowie ein Bandscheibenvorfall
L5/S1.
c) Diese bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS sind wesentlich durch die genannten beruflichen
Einwirkungen im Sinne der BK-Nr. 2108 BKV verursacht. Maßgeblich bei der Beurteilung ist der Befund zum Zeitpunkt
der Aufgabe der schädigenden Tätigkeit (hier: 25.05.2001; vgl. B. u. a., Medizinische Beurteilungskriterien zu
bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule, Trauma und Berufskrankheit 2005, S. 211, 214). Zu
diesem Zeitpunkt war der 1970 geborene Kläger 31 Jahre alt. Nach der Auswertung der am zeitnahesten hierzu
gefertigten MRT-Aufnahmen vom 10.08.2001 und 15.01.2003 sowie der Röntgenaufnahmen vom 15.01.2003 durch
den Radiologen Dr. T. litt der Kläger an einer altersuntypischen Chondrose II. Grades Segments L5/S1. An den
übrigen LWS-Segmenten bestanden keine Chondrosen. Die Röntgenaufnahmen vom 25.05.2001 konnten ausweislich
des Gutachtens von Dr. T. keine Berücksichtigung finden, weil der Chondrosegrad daraus aufgrund der Projektion
nicht bestimmbar war. Die Röntgenaufnahmen vom 20.07.2006 konnten nach dem Gutachten von Dr. T. aufgrund der
schlechten Bildqualität ebenfalls nicht zur Bestimmung des Chondrosegrades herangezogen werden. Zudem bestand
ausweislich der übereinstimmenden Auswertung der MRT-Aufnahme vom 15.01.2003 durch Dr. T., Dr. W. und den
Radiologen Dr. K. sowie durch die Auswertung der MRT-Aufnahme vom 10.08.2001 durch Dr. T. und Dr. W. ein
Bandscheibenvorfall L5/S1.
aa) Gegen die berufliche Verursachung sprechende konkurrierende Ursachen konnten Prof. Dr. B. und Dr. W. in ihren
Gutachten übereinstimmend und für den Senat nachvollziehbar ausschließen. Insbesondere lag weder eine
Lumbalskoliose mit Scheitelpunkt in der unteren LWS (vgl. B. u.a., a.a.O., S. 237) noch eine Skoliose mit einer
Ausprägung von ) = 25° vor. Das steht zur Überzeugung des Senats aufgrund des schlüssigen Gutachtens von Dr. T.
fest. Ebenso war nach dem für den Senat überzeugenden Gutachten von Dr. T. kein Morbus Scheuermann mit einer
Keilwirbelbildung und Abweichung von mindestens 10° (vgl. B. u. a., a.a.O., S. 244) vorhanden.
bb) Eine Begleitspondylose (vgl. zur Definition: B. u. a., a. a. O., S. 216 ff.) lag beim Kläger ausweislich der insoweit
übereinstimmenden Gutachten von Dr. T. , Prof. Dr. B. , Dr. W. und Dr. R. nicht vor.
cc) Zwar war eine Höhenminderung und/oder ein Prolaps an mehreren Segmenten (Konstellation B 2 1. Anstrich der
Konsensempfehlungen) nicht gegeben.
dd) Black discs an den Segmenten L4/5 und L3/4 lagen ebenso ausweislich der übereinstimmenden Ausführungen
von Dr. T. , Prof. Dr. B. , Dr. W. und Dr. R. nicht vor.
ee) Jedoch war der Kläger einer besonders intensiven Belastung im Sinne der Konstellation B 2 2. Anstrich (Anhalt:
Erreichen des Richtwertes der Lebensdosis in weniger als zehn Jahren) der "Medizinischen Beurteilungskriterien zu
bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule – Konsensempfehlungen zur
Zusammenhangsbegutachtung der auf Anregung des HVBG eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe" (Trauma
und Berufskrankheit, S.211) ausgesetzt. Die genannten Konsensempfehlungen sind nach ständiger Rechtsprechung
des BSG bei der Beurteilung des Vorliegens einer BK-Nr. 2108 BKV zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 27.10.2009
– B 2 U 16/08 R –, Rdnr. 15; BSG, Urteil vom 27.06.2006 – B 2 U 13/05 R –, Rdnr. 14).
Der Senat geht in Übereinstimmung mit der von Prof. Dr. B. geäußerten Auffassung davon aus, dass angesichts der
vom BSG (Urteile vom 30.10.2007 – B 2 U 4/06 R – und vom 18.11.2008 – B 2 U 14/07 R – sowie – B 2 U 14/08 R –)
vorgenommenen Halbierung des Richtwertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 MNh auf 12,5 MNh dieser Wert
auch im Rahmen des zweiten Anstrichs der Konstellation B 2 anzusetzen ist. Dies gilt umso mehr als die Verfasser
der Konsensempfehlungen in die Konstellation B 2 2. Anstrich – wie von Prof. Dr. B. in der mündlichen Verhandlung
überzeugend ausgeführt – absichtlich, anders als in die Konstellation B 2 3. Anstrich, gerade keinen festen Wert,
sondern den jeweils maßgeblichen "Richtwert", aufgenommen haben.
Nach der überzeugenden Einschätzung von Prof. Dr. B. in seinem Gutachten war der Kläger im Zeitraum von Juni
1991 bis Mai 2001 einer beruflichen Einwirkung von 17,02 x 106 Nh ausgesetzt. Zudem war der Kläger im Zeitraum
von September 1986 bis August 1996 einer beruflichen Gesamtbelastungsdosis von 17,71 x 106 Nh ausgesetzt. Dies
steht zur Überzeugung des Senats aufgrund des schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachtens von Prof. Dr. B. ,
das dieser nach persönlicher Befragung des Klägers erstellt hat, fest. Damit ist der Richtwert für die Lebensdosis
sogar bezüglich zweier Beschäftigungszeiträume des Klägers in weniger als 10 Jahren erreicht bzw. überschritten.
Die Berechnung der beruflichen Gesamtbelastungsdosis und der Dosen in den genannten Zehnjahreszeiträumen durch
Prof. Dr. B. überzeugt den Senat. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung für den Senat glaubhaft seine
gegenüber Prof. Dr. B. getroffene Aussage, er habe während seiner beruflichen Tätigkeit als Baufacharbeiter bzw.
Zimmerer schwere Lasten auf den Baustellen zwischen 10 und 50 Meter getragen, bestätigt. Er hat die von ihm
angegebenen Trageentfernungen für den Senat plausibel und nachvollziehbar begründet: Sein
Beschäftigungsunternehmen baute vor allem größere Bauvorhaben, z.B. Krankenhäuser, Sparkassengebäude,
Kläranlagen und Mehrfamilienhäuser, auf denen zwar nach der Wende Kräne zum Transport der Baumaterialien
eingesetzt wurden. Jedoch konnten die Baumaterialien durch die Kräne lediglich am Baustellenrand ab- bzw.
aufgeladen werden. In das Innere der Baustelle bzw. vom Inneren der Baustelle zu den Fenstern mussten die Lasten
auch nach der Wende ohne Hilfsmittel getragen werden. Hierbei waren Wege zwischen 10 und 50 Metern
zurückzulegen. Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit der Einlassung des Klägers.
Zweifel ergeben sich nicht aus den seitens der Beklagten ihrer Berechnung zugrunde gelegten Trageentfernungen
eines üblichen Baufacharbeiters bzw. Zimmerers von 10 bis 20 Metern. Diese Entfernungen beruhten nicht auf einer
Befragung des Klägers durch den TAD, wie die vom TAD gefertigten Gesprächsprotokolle zeigen. Vielmehr handelte
es sich ausschließlich um sog. Katasterdaten (übliche Tragentfernungen eines Baufacharbeiters bzw. Zimmerers).
Maßgeblich zur Bestimmung der beruflichen Einwirkungen eines bestimmten Versicherten sind stets die individuellen
Gegebenheiten. Vorliegend hat die persönliche Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat
für den Senat vollkommen nachvollziehbar ergeben, dass der Kläger aufgrund der Größe der von seinem
Beschäftigungsunternehmen betriebenen Baustellen, größere Trageentfernungen als üblicherweise zurücklegen
musste.
Da die Einlassung des Klägers sowohl gegenüber Prof. Dr. B. als auch dem Senat widerspruchsfrei und plausibel war,
folglich Anhaltspunkte für eine nicht der Wahrheit entsprechende Aussage nicht bestanden, und von keinem der
Beteiligten die Vernehmung von Zeugen beantragt wurde, bestand keine Veranlassung zu einer weiteren
Sachaufklärung. Zudem hatte die Beklagte auf die ausdrückliche Aufforderung des Senats, sofern Zeugen für
erforderlich angesehen würden, diese zu benennen, mit Schriftsatz vom 29.01.2010 die Befragung des Klägers für
ausreichend angesehen und auf eine Vernehmung von Zeugen verzichtet.
Nicht zu beanstanden ist bezüglich der Berechnung der beruflichen Dosen durch Prof. Dr. B. die Berücksichtigung der
Studie von Glitsch u.a. aus dem Jahre 2007, an deren Erstellung auch die Beklagte beteiligt war, die beim Schaufeln
eine Druckkraft von 3.500 N (statt wie von der Beklagten angenommen 1.900 N) ermittelt hat.
Zutreffend hat Prof. Dr. B. bezüglich des beidhändigen Mauerns die Studie von Fleischer u.a. aus dem Jahre 2002
zugrunde gelegt, wonach hierbei die Dauer der extremen Rumpfbeugehaltungen 17,3 % der Arbeitsschichten beträgt.
Beide Studien geben – wie von Prof. Dr. B. in der mündlichen Verhandlung für den Senat überzeugend erläutert – den
derzeitigen Meinungsstand in der wissenschaftlichen Literatur zu BK-Nr. 2108 BKV wieder.
d) Beim Kläger bestand ausweislich der übereinstimmenden Einschätzungen von Prof. Dr. B. und Dr. W. zum
Zeitpunkt der Aufgabe der schädigenden Tätigkeit ein Zwang zur Aufgabe.
3. Dem Gutachten von Dr. R. vermag der Senat nicht zu folgen. Dr. R. hat aufgrund der von ihm gefertigten
Röntgenaufnahmen eine Chondrose II. Grades auf dem Segment L1/2 angenommen und dies als gewichtiges
Argument gegen eine Berufskrankheit verwendet. Die von Dr. R. gefertigten Röntgenbilder der HWS, BWS und LWS
konnten ausweislich des Gutachtens des Radiologen Dr. T. wegen schlechter Qualität nicht zur sicheren Bestimmung
des Chondrosegrades herangezogen werden. Dagegen konnte ausweislich des Gutachtens der Sozialmedizinerin
Müller für die LVA vom 21.03.2005 und des Arztbriefes des Radiologen Dr. K. vom 13.08.2001 keine wesentliche
Chondrose des Segments L1/2 festgestellt werden. Dies bestätigt die Feststellungen im Gutachten von Dr. T. und
Prof. Dr. B. dass am Segment L1/2 keine wesentliche Chondrose vorhanden war.
Auch das von Dr. W. gefertigte Gutachten überzeugt den Senat nicht. Nach seinem Gutachten spricht gegen eine
Berufskrankheit, dass die Degeneration an den unteren Bandscheiben nicht sicher betont sei, sondern lediglich das
Segment L5/S1 altersuntypisch verändert sei. Weder der Legaldefinition der BK-Nr. 2108 BKV noch der amtlichen
Begründung der Bundesregierung zu dieser Berufskrankheit (BT-Drucksache 773/92, S. 8) oder dem amtlichen
Merkblatt der Bundesregierung zur Berufskrankheit ist zu entnehmen, dass eine monosegmentale Erkrankung der
LWS nicht als BK-Nr. 2108 BKV anerkannt werden kann. Zudem hat Prof. Dr. B. für den Senat nachvollziehbar in
seinem Gutachten ausgeführt:
"Im Gegensatz zur Annahme des Gutachters enthält das amtliche Merkblatt der Bundesregierung zur Berufskrankheit
2108 unter Ziffer 3 ‚Krankheitsbildung und Diagnose’ die Ausführung, dass monoradikuläre und polyradikuläre lumbale
Wurzelsyndrome zum Krankheitsbild der Berufskrankheit 2108 gehören (BMA 2006, S. 51). Für die Anerkennung von
monosegmentalen bandscheibenbedingten Erkrankungen spricht ebenfalls die Aufnahme des Bandscheibenvorfalls in
die Liste der bandscheibenbedingten Erkrankungen nach der amtlichen Begründung der Bundesregierung zur
Berufskrankheit 2108 (Bundesratsdrucksache 773/92, S. 8). Diese Aufnahme in die amtliche Begründung geht zurück
auf mehrere epidemiologische Fallkontrollstudien, die einen Zusammenhang zwischen beruflichen Expositionen durch
Heben und Tragen schwerer Lasten und der Entwicklung des lumbalen Bandscheibenvorfalls nachweisen (Braun
1969, Kelsey at. al 1984, Heliövaara 1987, Jorgensen at al. 1994, Hofmann at. al 1998). Diese epidemiologischen
Studien sind von Bedeutung, weil es sich beim lumbalen Bandscheibenvorfall nach der Studie von Brüske-Holfeld at
al. (1990) in 90,3 % um eine monosegmentale Erkrankung, in 9,5 % der Fälle um eine bisegmentale Erkrankung und
nur in 0,2 % um eine polysegmentale Erkrankung handelt. Keiner der o. g. epidemiologischen Fallkontrollstudien ist zu
entnehmen, dass der Zusammenhang zwischen beruflichen Wirbelsäulenbelastungen und dem erhöhten Risiko für die
Entwicklung eines lumbalen Bandscheibenvorfalls an einen polysegmentalen Befall geknüpft ist. Ein vom
Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften im Jahre 1994 organisiertes Kolloquium zum Thema ‚BK
2108-Kausalität und Abgrenzungskriterien’ kam zu dem Ergebnis, dass sich berufliche und außerberufliche
bandscheibenbedingte Erkrankungen morphologisch nicht unterscheiden. Wörtlich heißt es in der Zusammenfassung
der Tragung: ‚Das klinische Bild kann sich monosegmental und mehrsegmental darstellen. Es ist gegenwärtig davon
auszugehen, dass beruflich bedingte und natürliche Bandscheibendegenerationen gleichartige Verteilmuster zeigen
und sich gegenseitig überlagern.’ (Seide und Wolter 1995, S. 183). Diese Zusammenfassung hat auch Eingang in die
berufsgenossenschaftliche Kommentierung der Berufskrankheitenverordnung gefunden (Brandenburg 1995, Mehrtens
und Perlebach 1999, S. 29). Zu verweisen ist weiterhin auf das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26.09.1995
(Az.: L 15 U 89/95). Zugrunde lag die Erkrankung eines 45-jährigen Beschäftigten, der über 30 Jahre lang als Maurer
schwere Lasten gehoben und getragen hat, an einem Bandscheibenvorfall L5/S1. Die zuständige
Berufsgenossenschaft kam zu dem Ergebnis, dass die haftungsbegründende Kausalität für die Entwicklung einer
bandscheibenbedingten Erkrankung vorliege, die monosegmentale Erkrankung könne jedoch nicht anerkannt werden,
weil die Belastung auf alle Segmente der LWS wirke, jedoch nur eines erkrankt sei. Das LSG verurteilte die
Berufsgenossenschaft zur Anerkennung einer BK 2108 mit einer MdE von 20 v.H. Die von Dr. Sch. und Dr. L.
vertretene Meinung, dass nur mehrsegmentale Erkrankungen der LWS bei entsprechender Belastung als
Berufskrankheit anerkannt werden könnten, überzeugte das Gericht nicht. Dies entspreche nicht dem Wunsch des
Verordnungsgebers, der eine solche Einschränkung in der Definition der Berufskrankheit nicht vorgesehen habe, nicht
im Text des amtlichen Merkblatts zur Berufskrankheit 2108 und auch nicht der Meinung der meisten
Sachverständigen. Gegen dieses Urteil hatte das LSG Nordrhein-Westfalen keine Revision zugelassen. Dagegen
richtete sich eine Nichtzulassungsbeschwerde der beklagten Berufsgenossenschaft, die mit Beschluss vom
31.05.1996 (Az.: 2 BU 237/95) durch das Bundessozialgericht abgelehnt wurde. In der Begründung des Beschlusses
führt das BSG aus, dass die gutachterliche Meinung, auch monosegmentale Erkrankungen der LWS könnten als BK
2108 anerkannt werden, keine medizinische Mindermeinung darstelle und das Urteil des LSG aus diesem Grunde
nicht zu bemängeln sei. Nach der Konsensusarbeitsgruppe des Hauptverbandes der gewerblichen
Berufsgenossenschaften zur Begutachtung der Berufskrankheit 2108 spielt die Frage eines monosegmentalen oder
polysegmentalen Befalls der LWS für die Kausalitätsprüfung keine Rolle. Bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen
sind auch monosegmentale Erkrankungen anerkennungsfähig (B. at al. 2005, s. Anlage 1, Fallkonstellationen B1 bis
B10, S. 217-218).
Nach alledem waren der Gerichtsbescheid des SG und die Bescheide der Beklagten aufzuheben. Es war
festzustellen, dass beim Kläger seit Aufgabe der schädigenden Tätigkeit am 25.05.2001 eine BK-Nr. 2108 BKV
vorliegt.
4. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der
Rechtsfrage, wann eine besonders intensive Belastung nach der Konstellation B 2 2. Anstrich der
Konsensempfehlungen vorliegt, zuzulassen.