Urteil des LSG Saarland vom 09.02.2007

LSG Saarbrücken: rente, eintritt des versicherungsfalles, öffentliches recht, rentner, wartezeit, anwartschaft, ausbildung, anfang, entstehung, erfüllung

LSG Saarbrücken Urteil vom 9.2.2007, L 7 R 61/06
Erwerbsminderungsrente - Bewertung der Zeiten der beruflichen Ausbildung durch das
WFG - alleinige Tragung des aus der Rente zu bemessenden Pflegeversicherungsbeitrags
von dem Rentenbezieher ab 1.4.2004 - Rentenabschlag vor Vollendung des 60.
Lebensjahres - Verfassungsmäßigkeit
Leitsätze
Erwerbsminderungsrentner, die bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet
haben, unterliegen Rentenabschlägen erst ab Vollendung des 60. Lebensjahres (Anschluss
an BSG v. 16.05.2006 - B4 RA 22/05 R). Die ab 01.01.1997 geltende Regelung für die
Bewertung von Zeiten der beruflichen Ausbildung nach § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 4a, S. 2 SGB VI
ist hinsichtlich Versicherter, die bei Inkrafttreten der Neuregelung noch nicht das 55.
Lebensjahr vollendet haben, nicht verfassungswidrig.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das
Saarland vom 09.06.2006 und die Bescheide der Beklagten vom 16.11.2004 und vom
02.12.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.04.2005 sowie der weitere
Bescheid vom 30.08.2005 abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab dem 01.12.2001 Rente wegen voller
Erwerbsminderung für den Zeitraum bis zur Vollendung des 60. Lebensjahrs ohne
Minderung des Zugangsfaktors zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der dieser im erstinstanzlichen Verfahren und im
Berufungsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob bei der der Klägerin ab 01.12.2001 gewährten Dauerrente wegen
Erwerbsminderung
a) nach der seit dem 01.01.1997 geltenden Gesetzeslage die ersten 36 Kalendermonate
mit Pflichtbeiträgen für Zeiten einer versicherten Beschäftigung oder selbständigen
Tätigkeit bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gem. Abs. 1 S. 1 Nr. 4a und S. 2 SGB
VI als beitragsgeminderte Zeiten gelten,
b) die Klägerin ab dem 01.04.2004 den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen muss,
c) ein Rentenabschlag wegen „vorzeitigen Rentenbezugs“ vorzunehmen ist.
Die Beklagte bewilligte der 1950 geborenen Klägerin durch Bescheid vom 26.11.2004 ab
01.12. 2001 Dauerrente wegen voller Erwerbsminderung in damaliger monatlicher Höhe
von 318,22 EUR. Durch weiteren Bescheid vom 02.12.2004 verzinste die Beklagte den
Nachzahlungsbetrag mit insgesamt 504,14 EUR.
Die Widersprüche der Klägerin gegen diese Bescheide wies die Beklagte durch
Widerspruchsbescheid vom 13.04.2005 zurück, wobei der Widerspruch gegen den
Bescheid vom 02.12.2004 als unzulässig zurückgewiesen wurde. In ihrer Begründung
führte die Beklagte aus, die Klägerin habe trotz Erinnerung nicht dargelegt, aus welchem
Grunde der Bescheid vom 26.11.2004 für fehlerhaft gehalten werde. Somit sei nur eine
allgemeine Überprüfung dieses Bescheides möglich gewesen; diese habe keine
Beanstandungen ergeben. Mit dem Widerspruch gegen den Bescheid vom 02.12.2004 sei
geltend gemacht worden, der der Zinsberechnung zu Grunde liegende Rentenbescheid
vom 26.11.2004 sei nicht rechtskräftig, so dass die Zinsansprüche nicht abschließend
berechnet werden könnten. Die sich laut Bescheid vom 26.11.2004 ergebende
Nachzahlung sei jedoch mit Bescheid vom 02.12.2004 gemäß § 44 SGB I ordnungsgemäß
verzinst worden. Der Widerspruchsführer sei somit in seinen Rechten nicht beschwert.
Im anschließenden Klageverfahren hat die Klägerin Unterlagen über weitere
rentenversicherungsrechtliche Zeiten vorgelegt, woraufhin die Beklagte durch
Rentenbescheid vom 30.08.2005 unter Berücksichtigung der von der Klägerin
nachgewiesenen Zeiten die Rente neu festgestellt hat. Das Sozialgericht für das Saarland
(SG) hat, soweit diese nicht durch das angenommene Teilanerkenntnis erledigt war, die
Klage durch Gerichtsbescheid vom 09.06.2006 abgewiesen.
Zur Begründung hat das SG im wesentlichen ausgeführt, soweit der Rechtsstreit nicht
durch angenommenes Teilanerkenntnis erledigt sei, seien die angefochtenen Bescheide in
Form des Widerspruchsbescheides sowie des Änderungsbescheids rechtmäßig und
verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten. Dass die Beklagte die im Zeitpunkt der
Bewilligung für die Rentenberechnung maßgeblichen Vorschriften fehlerhaft angewandt
habe, sei weder von der Klägerin vorgetragen noch ansonsten für die Kammer ersichtlich.
Die Klägerin könne sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, diese Vorschriften seien
verfassungswidrig.
Zwar seien die Vorschriften für die Berechnung der ersten Berufsjahre durch die Regelung
des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes am 01.01.1997 abgeändert
worden; die Neuregelung beinhalte eine Schlechterstellung gegenüber der vorherigen
Rechtslage. Die Klägerin könne sich jedoch nicht darauf berufen, dass der 4. Senat des
Bundessozialgerichts (BSG) am 16.12.1999 in dem Verfahren B 4 RA 11/99 R entschieden
habe, in der Verminderung der Besserstellung der ersten Berufsjahre mit
Pflichtbeitragszeiten liege ein Verfahrensverstoß, und das Verfahren deshalb gemäß Artikel
100 Grundgesetz ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung
vorgelegt habe. Die dortige Entscheidung sei damit begründet worden, dass mit der
Vollendung des 55. Lebensjahres und nach Erfüllung der Wartezeit sich das
vermögenswerte Anwartschaftsrecht des Klägers so verfestigt habe, dass es dem
Vollrecht bei Leistungsbeginn gleichzustellen sei. Insoweit sei das Anwartschaftsrecht
abzugrenzen gegenüber den nicht verfestigten Vorstufen des Rechtes im Rahmen seiner
stufenweisen, sukzessiven Entstehung zum Vollrecht. In dem Vorlagebeschluss seien drei
zeitliche Abschnitte herausgearbeitet worden. Die erste Stufe umfasse den Zeitabschnitt
von der Begründung des Sozialversicherungsverhältnisses und der Zahlung des ersten
Beitrags bis zur Vollendung der fünfjährigen allgemeinen Wartezeit (Anrecht). Die zweite
Stufe umfasse den Zeitraum von der Erfüllung der allgemeinen Wartezeit bis zur
Vollendung des 55.Lebensjahres (Anwartschaft). Die dritte Stufe umfasse schließlich den
Zeitraum von der Vollendung des 55. Lebensjahres bis zum Eintritt des Versicherungsfalles
und zum Leistungsbeginn (Anwartschaftsrecht). Ein Verfassungsverstoß komme nur dann
in Betracht, wenn die Neuregelung in den zeitlichen Bereich der dritten Stufe falle, mit der
der Versicherte bereits über ein Anwartschaftsrecht verfüge. Neuregelungen im Bereich
der ersten und zweiten Stufe, die auf das bloße Anrecht oder die Anwartschaft einwirkten,
unterlägen dagegen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Unabhängig davon, dass der
für die Regelaltersrente herausgearbeitete Ansatz des 4. Senats auf die hier streitige Rente
wegen voller Erwerbsminderung schon deshalb nicht passe, weil der Eintritt dieses
Versicherungsfalles, bezogen auf das Lebensalter, völlig unbestimmt sei, gehöre die
Klägerin nach den Grundsätzen des 4. Senats nicht zum geschützten Personenkreis. Denn
sie habe am 31.12.1996 das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt.
Die Klägerin könne sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, die neue Regelung des § 59
SGB XI, wonach der Beitrag zur Pflegeversicherung aus der Rente von den
Rentenbeziehern allein zu tragen sei, verstoße gegen Verfassungsrecht. Eine Verletzung
des Gleichheitssatzes liege nicht vor. Zwischen Arbeitnehmern, die in einem aktiven
Beschäftigungsverhältnis stünden, und Rentnern bestünden wesentliche Unterschiede, so
dass der Gesetzgeber nicht gehindert sei, die Beitragsaufwendungen für die soziale
Pflegeversicherung unterschiedlich zu regeln. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die
Beitragspflicht zur sozialen Pflegeversicherung Eigentumsrechte beeinträchtige.
Gegen diesen ihr am 13.06.2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin mit am
11.07.2006 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt.
Die Klägerin begehrt zum einen weiterhin die Bewertung der Ausbildungszeiten als volle
Beitragszeiten, wobei sie die Auffassung vertritt, dass die den angefochtenen Bescheiden
zu Grunde gelegten gesetzlichen Regelungen verfassungswidrig seien und sich auf den
Vorlagebeschluss des BSG vom 16.12.1999 (B 4 RA 11/99) beruft, welcher dem
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Entscheidung vorliege.
Die Klägerin beruft sich weiterhin auf eine Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung
durch das Zweite Gesetz zur Änderung des SGB VI u.a. Gesetze vom 27.12.2003,
wonach sich bei der Beitragszahlung zur Kranken- und Pflegeversicherung aus der Rente ab
01.04.2004 Änderungen dahingehend ergaben, dass Beiträge zur Pflegeversicherung in
Höhe von 1,7% von den Rentnerinnen und Rentnern allein zu tragen sind. Diese Regelung
verletze insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG.
Im Übrigen vertritt die Klägerin unter Berufung auf die Entscheidung des 4. Senats des BSG
vom 16.05.2006 (Az.: B 4 RA 22/05 R) die Auffassung, dass die seit Anfang 2001 bei
Renten wegen Erwerbsminderung eingeführten Abschläge solche Berechtigten nicht treffen
dürften, die bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten.
Da die Klägerin insoweit einen Anspruch auf Neuberechnung ihrer Rentenansprüche habe,
könne auch der die Zinsansprüche der Klägerin betreffende Bescheid vom 02.12.2004
keinen Bestand haben.
Im Übrigen müsse die Kostenentscheidung im angefochtenen Gerichtsbescheid, wonach
die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten hätten, im Hinblick auf das
erstinstanzlich abgegebene Teilanerkenntnis der Beklagten abgeändert werden.
Die Klägerin beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom
09.06.2006 aufzuheben und die Bescheide der Beklagten vom
26.11.2004 und vom 02.12.2004 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 13.04.2005 sowie den Bescheid vom
30.08.2005 abzuändern,
2. die Beklagte zu verurteilen, unter Berücksichtigung der von der
Klägerin vertretenen Rechtsauffassung im Zusammenhang mit der
Neubewertung der ersten Berufsjahre sowie mit der Einbehaltung
von Beiträgen zur Pflegeversicherung ab 01.04.2004, sowie im
Zusammenhang mit der Entscheidung des BSG vom 16.12.2006,
Az.: B 4 RA 22/05 R betreffend die seit Anfang 2001 bei Renten
wegen Erwerbsminderung eingeführten Abschläge für solche
Berechtigten, die bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben, die der Klägerin gezahlte Rente wegen voller
Erwerbsminderung sowie auch die Zinsansprüche neu zu
berechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, aufgrund der Sach- und Rechtslage sei weder eine Verfassungswidrigkeit zu
sehen noch eine fehlerhafte Anwendung von maßgeblichen Rechtsvorschriften.
Insbesondere sei die Beklagte im Hinblick auf Artikel 20 Abs. 3 GG an geltendes Recht und
Gesetz gebunden. Im Hinblick auf die Entscheidung des 4. Senats des BSG vom
16.05.2006 (Az.: B 4 RA 22/05 R) sei festzustellen, dass die Rentenversicherungsträger
diesem Urteil über den dort entschiedenen Einzelfall hinaus nicht folgen könnten. Bei der
Berechnung der Rente des Klägers sei der Zugangsfaktor gemäß § 77 Abs. 2 SGB VI
gemindert worden. Danach werde die Rente wegen Erwerbsminderung für jeden Monat
des Rentenbeginns vor dem dreiundsechzigsten Lebensjahr um 0,3%, höchstens um
10,8%, gemindert. Ziel dieser Regelung sei, die Höhe der Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten
schwerbehinderter Menschen anzugleichen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakten sowie die
beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen
Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die von der Klägerin eingelegte Berufung ist, da sie wiederkehrende oder laufende
Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft, statthaft und auch im Übrigen zulässig; sie ist
jedoch nur teilweise begründet.
a) Soweit die Klägerin sich unter Bezugnahme auf den Vorlagebeschluss des 4. Senats des
BSG vom 16.12.1999 (Az.: B 4 RA 11/99 R) auf eine Verfassungswidrigkeit der neuen
Regelung über die Bewertung der Zeiten der beruflichen Ausbildung nach § 58 Abs. 1 S. 1
Nr. 4a und S. 2 SGB VI in der Fassung des Art.1 Nr. 11 Buchst. a des Gesetzes zur
Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der
Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und
Beschäftigungsförderungsgesetz [WFG]) vom 25.09.2996 (BGBl. I S. 1461), in Kraft
getreten am 01.01.1997, beruft, weist der Senat die Berufung aus den zutreffenden
Gründen der angefochtenen Entscheidung gemäß § 153 Abs. 2 SGG zurück. Das SG hat in
seiner Entscheidung zu Recht hervorgehoben, dass zum einen die Gedankenführung des 4.
Senats des BSG in seinem o.g. Vorlagebeschluss ausdrücklich auf die Entstehung eines
Anwartschaftsrechts auf Regelaltersrente und nicht auf Erwerbsminderungsrente aus der
gesetzlichen Rentenversicherung abstellt. Zum anderen hat es in seiner Begründung
ausgeführt, dass die Klägerin nach der vorgenannten Entscheidung des BSG vom
16.12.1999, der sich der erkennende Senat anschließt, zum einen bereits von ihrem
Lebensalter her nicht zu dem Personenkreis gehört, dem ein als vermögenswertes
subjektives öffentliches Recht und damit im Sinne des Artikel 14 GG geschütztes
rentenrechtliches Anwartschaftsrecht zusteht. Ein solches, in seiner Schutzwürdigkeit dem
Vollrecht auf Regelaltersrente grundsätzlich gleichzustellendes Anwartschaftsrecht hat das
BSG lediglich für Versicherte bejaht, die bei Inkrafttreten der Neuregelung bereits das 55.
Lebensjahr vollendet haben. Es hat in seiner zitierten Entscheidung ausdrücklich ausgeführt,
dass der Kreis von Inhabern eines Anwartschaftsrechts durch die Regelung des § 58 Abs. 1
S. 1 Nr. 4a und S. 2 SGB VI gegenüber solchen Versicherten unverhältnismäßig
benachteiligt werde, die gerade erst Mitglied der Solidargemeinschaft geworden seien und
somit noch nicht einmal eine Anwartschaft erworben hätten, und auch gegenüber den
Versicherten, die gerade erst die allgemeine Wartezeit erfüllt, jedenfalls das 55.Lebensjahr
noch nicht vollendet und ein Anwartschaftsrecht noch nicht erlangt hätten.
b) Soweit die Klägerin geltend macht, die am 01.04.2004 in Kraft getretene Neuregelung
des § 59 Abs. 1 SGB XI, wonach Rentner die Versicherungsbeiträge zur sozialen
Pflegeversicherung ab diesem Zeitpunkt allein zu tragen haben, sei verfassungswidrig, folgt
der Senat dieser Auffassung nicht. Zwar hat diese neue Regelung gegenüber dem früheren
Rechtszustand, wonach Rentner mit der hälftigen Tragung der Versicherungsbeiträge zur
sozialen Pflegeversicherung herangezogen wurden, faktisch zu einer Rentenkürzung
geführt. Der Senat hat aber bereits in seinem Urteil vom 25.11.2005 (Az.: L. 7 R 30/05),
auf das Bezug genommen wird, im Einzelnen ausgeführt, dass § 59 Abs. 1 SGB XI im
Einklang mit dem Grundgesetz (GG) steht. In jenem Verfahren, in dem die
Prozessbevollmächtigten der Klägerin des vorliegenden Verfahrens ebenfalls als
Prozessbevollmächtigte des dortigen Klägers tätig waren, hat das BSG die vom Senat
zugelassene Revision durch Urteil vom 29.11.2006 (Az.: B 12 R 5/06 R) zurückgewiesen.
Auch das BSG hat dabei eine Verfassungswidrigkeit des § 59 SGB XI in der seit
01.04.2004 geltenden Fassung verneint. Auch wenn man davon ausgehe, die Position der
Rentner sei eigentumsgeschützt gewesen, soweit eine Pflicht des
Rentenversicherungsträgers zur hälftigen Tragung des Beitrags zur Pflegeversicherung
gesetzlich vorgesehen gewesen sei, liege nach Überzeugung des Senats keine
verfassungswidrige Enteignung, sondern eine zulässige Beschränkung des Eigentums vor.
Der Gesetzgeber habe die Neuregelung zum 01.04.2004 als Teil einer Reihe von
Maßnahmen in Kraft gesetzt, mit denen die finanzielle Lage der gesetzlichen
Rentenversicherung habe stabilisiert werden sollen. Die Neuregelung verstoße auch nicht
gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Es gebe weder einen verfassungsrechtlich
gewährleisteten Grundsatz, dass Rentner Beiträge zu einer Pflichtversicherung nur zur
Hälfte tragen müssten, noch gebe es einen entsprechenden Grundsatz, dass Rentner nicht
anders als Arbeitnehmer bei der Beitragszahlung behandelt werden dürften.
c) Soweit die Klägerin geltend macht, dass Erwerbsminderungsrentner, die bei
Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Rentenabschlägen gemäß §
77 SGB VI nur unterliegen, wenn sie die Rente über das 60. Lebensjahr hinaus beziehen,
ist die Berufung begründet.
Der Senat folgt der Rechtsprechung des BSG, das in seinem Urteil vom 16.05.2006 (B 4
RA 22/05 R) entschieden hat, dass die Praxis der Rentenversicherungsträger, bei einem
Recht auf Rente wegen Erwerbsminderung, das bereits vor Vollendung des 60.
Lebensjahres entstanden ist, auch für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres
durch Bestimmung eines niedrigeren Zugangsfaktors (Rentenabschlag) einen Teil der vom
Rentner für die Rentenversicherung erbrachten Vorleistung unbeachtet zu lassen, gesetz-
und verfassungswidrig sei.
Das BSG hat in seiner vorgenannten Entscheidung ausgeführt, der Zugangsfaktor, der nur
zur Vermeidung von (individuellen Vermögens-) Vorteilen aus einer (bei gleicher Rentenart
und gleicher Vorleistung) unterschiedlichen Rentenbezugsdauer von 1,0 abweichen dürfe (§
63 Abs. 1 bis 3,5 SGB VI), richte sich nach dem Alter des Versicherten bei Beginn der
Erwerbsminderungsrente (§ 77 Abs. 1 SGB VI). Erst ab dem Zeitpunkt, in dem die
Erwerbsminderungsrente "vorzeitig“ in Anspruch genommen werde, könne allenfalls - ohne
verfassungswidrige Willkür - und überhaupt nur eine Nichtbeachtung der Vorleistung, die
der Versicherte für die Rentenversicherung erbracht habe, in Betracht kommen. Das
Gesetz selbst sage aber ausdrücklich, dass der Bezug einer Erwerbsminderungsrente vor
Vollendung des 60. Lebensjahres nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelte (§
77 Abs. 2 S. 3 SGB VI). Ferner sage es ausdrücklich (§ 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI), dass bei
Beginn der Erwerbsminderungsrente vor dem 61. Lebensjahr (ausnahmsweise) für die
Bestimmung des Zugangsfaktors ( = Maßgeblichkeit eines anderen Zugangsfaktors als
1,0) "die Vollendung des 60. Lebensjahres" maßgebend sei. Bezugszeiten vor Vollendung
des 60. Lebensjahres würden demnach vom Gesetz gerade nicht als Zeiten eines
"vorzeitigen Rentenbezugs" bestimmt, in dem „Vorteile aus einer unterschiedlichen
Rentenbezugsdauer" entstünden. Daher sehe auch § 77 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 SGB VI eine
Erhöhung des Zugangsfaktors wegen Nichtinanspruchnahme einer "vorzeitigen"
Erwerbsminderungsrente nur für die Monate zwischen der Vollendung des 60. und der des
63. Lebensjahres vor. Für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres, bei denen
ein Ausweichen vor den Abschlägen bei vorzeitigen Altersrenten schlechthin nicht in
Betracht komme, ordne das Gesetz also ausdrücklich an, dass keine unterschiedliche
(längere) Rentenbezugsdauer im Vergleich zu den 63- bis 65jährigen
Erwerbsminderungsrentnern und kein zu vermeidender Vorteil im Sinne des § 63 Abs. 5
SGB VI vorliege, zumal Rechte auf Erwerbsminderungsrenten grundsätzlich nur auf Zeit
und auf längstens drei Jahre bestünden (§ 102 Abs. 2 SGB VI). Aus den
Gesetzesmaterialien ergebe sich nichts Gegenteiliges, da diese sich im Wesentlichen nur
dazu „verhielten“, dass Versicherte, die bei vorzeitiger Inanspruchnahme eines
Altersruhegeldes Abschläge befürchteten, nicht in die „höhere“ Erwerbsminderungsrente
„ausweichen“ sollten. Ebenfalls ergebe sich keine andere Rechtsauslegung aus der
Tatsache, dass im gleichen Gesetz die Zurechnungszeit bis zur Vollendung des 60.
Lebensjahres gemäß § 59 SGB VI verlängert beziehungsweise aufgewertet worden sei.
Dies begünstige auch solche Erwerbsminderungsrentner, deren Rente vor dem Ende ihres
60. Lebensjahres begonnen habe und über dieses hinaus zu zahlen sei. Bei ihnen greife ab
Vollendung des 60. Lebensjahres der „Rentenabschlag“ von 10,8 %. Dieser Eingriff werde
durch die bei dem früheren Rentenbeginn wirksam gewordene Anhebung der
Zurechnungszeit gemildert.
Diese Ausführungen, die sich nicht nur am – insoweit eindeutigen – Wortlaut der
einschlägigen Vorschriften sondern auch an Sinn und Zweck des gesetzgeberischen
Willens, soweit dieser den Gesetzesmaterialien entnehmbar ist, orientieren, hält der Senat
für überzeugend und schließt sich ihnen an.
Die 1950 geborene Klägerin hatte bei Beginn des Bezugs der Erwerbsminderungsrente am
01.12.2001 erst das 51. Lebensjahr vollendet. Auf die Berufung der Klägerin war damit die
Beklagte unter Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung sowie der angefochtenen
Bescheide der Beklagten zu verurteilen, die Rente wegen voller Erwerbsminderung für den
Zeitraum bis zur Vollendung des 60. Lebensjahrs ohne Minderung des Zugangsfaktors zu
gewähren. Über die Verzinsung des der Klägerin zustehenden
Rentennachzahlungsanspruchs wird die Beklagte gem. § 44 SGB I von Amts wegen neu zu
entscheiden haben.
Im Übrigen war die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.