Urteil des LSG Saarland vom 09.02.2007

LSG Saarbrücken: befristete rente, eintritt des versicherungsfalles, öffentliches recht, rentner, wartezeit, anwartschaft, entstehung, ausbildung, erfüllung, gesetzesmaterialien

LSG Saarbrücken Urteil vom 9.2.2007, L 7 R 40/06
Erwerbsminderungsrente - Rentenabschlag vor Vollendung des 60. Lebensjahres -
Bewertung der Zeiten der beruflichen Ausbildung durch das WFG - alleinige Tragung des
aus der Rente zu bemessenden Pflegeversicherungsbeitrags von dem Rentenbezieher -
Verfassungsmäßigkeit
Tatbestand
Streitig ist, ob bei der dem Kläger ab 01.10.2002 gewährten befristeten Rente wegen
voller Erwerbsminderung
a) nach der seit dem 01.01.1997 geltenden Gesetzeslage die ersten 36 Kalendermonate
mit Pflichtbeiträgen für Zeiten einer versicherten Beschäftigung oder selbständigen
Tätigkeit bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gem. § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 4a und S. 2
SGB VI als beitragsgeminderte Zeiten gelten,
b) der Kläger ab dem 01.04.2004 den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen muss,
c) ein Rentenabschlag wegen „vorzeitigen Rentenbezugs" vorzunehmen ist.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger durch Bescheid vom 19.05.2004 ab 01.10.2002 bis
zum 31.12.2004 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung wobei sich der
Zahlbetrag ab 01.07.2004 auf monatlich 844,22 EUR belief.
Gegen den Rentenbescheid erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, dass nach
der ab 01.01.1997 geltenden Gesetzeslage die ersten 36 Kalendermonate mit
Pflichtbeiträgen für Zeiten einer versicherten Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit als
beitragsgeminderte Zeiten gelten würden, sei verfassungswidrig. Im Übrigen sei auch die
ab 01.04.2004 geltende Regelung über die Versicherungspflicht der Rentner in der
gesetzlichen Pflegeversicherung verfassungswidrig.
Den Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid wies die Beklagte durch
Widerspruchsbescheid vom 19.08.2005 zurück. In ihrer Begründung führte die Beklagte
aus, für Zeiten des Rentenbezugs ab 01.04.2004 sei der Beitrag zur Pflegeversicherung
aus der Rente nach § 59 Abs. 1 SGB XI von den Rentnerinnen und Rentnern allein zu
zahlen. Die Beklagte sei als Sozialleistungsträger verpflichtet, die geltenden Gesetze zu
beachten und auszuführen. In dem angefochtenen Bescheid seien die Vorschriften
zutreffend angewandt worden. Soweit der 4. Senat des BSG in allen Fällen, in denen
Versicherte bei Inkrafttreten des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes vom
25.09.96 (WFG) das 55 Lebensjahr vollendet und die erforderliche Wartezeit erfüllt hätten
(sog. Anwartschaftsrechtsinhaber auf Altersrente), § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 4a und S. 2 SGB
VI für verfassungswidrig halte, sei darauf hinzuweisen, dass der Kläger am X..X..19X.
geboren und somit bei Inkrafttreten des WFG am 01.01.1997 das 55. Lebensjahr noch
nicht vollendet gehabt habe. Bei ihm handele es sich somit nicht um einen
Anwartschaftsrechtsinhaber wie jedoch vom 4. Senat des BSG für die
Verfassungswidrigkeit der betreffenden Vorschrift vorausgesetzt worden sei.
Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht für das Saarland (SG) die Klage
durch Gerichtsbescheid vom 03.04.2006 abgewiesen.
Zur Begründung hat das SG im Wesentlichen ausgeführt, der angefochtene Bescheid in
Form des Widerspruchsbescheides sei rechtmäßig und verletze den Kläger nicht in seinen
Rechten. Dass die Beklagte die im Zeitpunkt der Bewilligung für die Rentenberechnung
maßgeblichen Vorschriften fehlerhaft angewandt habe, sei weder vom Kläger vorgetragen
noch ansonsten für die Kammer ersichtlich. Der Kläger könne sich auch nicht mit Erfolg
darauf berufen, diese Vorschriften seien verfassungswidrig.
Zwar seien die Vorschriften für die Berechnung der ersten Berufsjahre durch die Regelung
des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes am 01.01.1997 abgeändert
worden; die Neuregelung beinhalte eine Schlechterstellung gegenüber der vorherigen
Rechtslage. Der Kläger könne sich jedoch nicht darauf berufen, dass der 4. Senat des
Bundessozialgerichts (BSG) am 16.12.1999 in dem Verfahren B 4 RA 11/99 R entschieden
habe, in der Verminderung der Besserstellung der ersten Berufsjahre mit
Pflichtbeitragszeiten liege ein Verfahrensverstoß, und das Verfahren deshalb gemäß Artikel
100 Grundgesetz ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung
vorgelegt habe. Die dortige Entscheidung sei damit begründet worden, dass mit der
Vollendung des 55. Lebensjahres und nach Erfüllung der Wartezeit sich das
vermögenswerte Anwartschaftsrecht des Klägers so verfestigt habe, dass es dem
Vollrecht bei Leistungsbeginn gleichzustellen sei. Insoweit sei das Anwartschaftsrecht
abzugrenzen gegenüber den nicht verfestigten Vorstufen des Rechtes im Rahmen seiner
stufenweisen, sukzessiven Entstehung zum Vollrecht. In dem Vorlagebeschluss seien drei
zeitliche Abschnitte herausgearbeitet worden. Die erste Stufe umfasse den Zeitabschnitt
von der Begründung der Sozialversicherungsverhältnisses und der Zahlung des ersten
Beitrags bis zur Vollendung der fünfjährigen allgemeinen Wartezeit (Anrecht). Die zweite
Stufe umfasse den Zeitraum von der Erfüllung der allgemeinen Wartezeit bis zur
Vollendung des 55.Lebensjahres (Anwartschaft). Die dritte Stufe umfasse schließlich den
Zeitraum von der Vollendung des 55. Lebensjahres bis zum Eintritt des Versicherungsfalles
und zum Leistungsbeginn (Anwartschaftsrecht). Ein Verfassungsverstoß komme nur dann
in Betracht, wenn die neue Regelung in den zeitlichen Bereich der dritten Stufe falle, mit
der der Versicherte bereits über ein Anwartschaftsrecht verfüge. Neuregelungen im
Bereich der ersten und zweiten Stufe, die auf das bloße Anrecht oder die Anwartschaft
einwirkten, unterlägen dagegen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Unabhängig
davon, dass der für die Regelaltersrente herausgearbeitete Ansatz des 4. Senats auf die
hier streitige Rente wegen voller Erwerbsminderung schon deshalb nicht passe, weil der
Eintritt dieses Versicherungsfalles, bezogen auf das Lebensalter, völlig unbestimmt sei,
gehöre der Kläger nach den Grundsätzen des 4. Senats nicht zum geschützten
Personenkreis. Denn er habe am 31.12.1996 das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet
gehabt.
Der Kläger könne sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, die Neuregelung des § 59 SGB
XI, wonach der Beitrag zur Pflegeversicherung aus der Rente von den Rentenbeziehern
allein zu tragen sei, verstoße gegen Verfassungsrecht. Eine Verletzung des
Gleichheitssatzes liege nicht vor. Zwischen Arbeitnehmern, die in einem aktiven
Beschäftigungsverhältnis stünden und Rentnern bestünden wesentliche Unterschiede, so
dass der Gesetzgeber nicht gehindert sei, die Beitragsaufwendungen für die soziale
Pflegeversicherung unterschiedlich zu regeln. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die
Beitragspflicht zur sozialen Pflegeversicherung Eigentumsrechte beeinträchtige.
Gegen diesen ihm am 05.04.2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger mit am
04.05.2006 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt.
Der Kläger begehrt zum einen weiterhin die Bewertung der Ausbildungszeiten als volle
Beitragszeiten, wobei er die Auffassung vertritt, dass die den angefochtenen Bescheiden zu
Grunde gelegten gesetzlichen Regelungen verfassungswidrig seien und sich auf den
Vorlagebeschluss des BSG vom 16.12.1999 (B 4 RA 11/99 R) beruft, welcher dem
Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorliege.
Der Kläger beruft sich weiterhin auf eine Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung
durch das Zweite Gesetz zur Änderung des SGB VI u.a. Gesetze vom 27.12.2003,
wonach sich bei der Beitragszahlung zur Kranken- und Pflegeversicherung aus der Rente ab
01.04.2004 Änderungen dahingehend ergaben, dass Beiträge zur Pflegeversicherung in
Höhe von 1,7% von den Rentnerinnen und Rentnern allein zu tragen sind. Diese Regelung
verletze insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG.
Im Übrigen vertritt der Kläger unter Berufung auf die Entscheidung des 4. Senats des BSG
vom 16.05.2006 (Az.: B 4 RA 22/05 R) die Auffassung, dass die seit Anfang 2001 bei
Renten wegen Erwerbsminderung eingeführten Abschläge solche Berechtigten nicht treffen
dürften, die bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten.
Der Kläger beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom 03.04.2006 aufzuheben
und den Bescheid der Beklagten vom 19.05.2004 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 19.08.2005 abzuändern,
2. die Beklagte zu verurteilen, unter Berücksichtigung der vom Kläger vertretenen
Rechtsauffassung im Zusammenhang mit der Neubewertung der ersten Berufsjahre sowie
mit der Einbehaltung von Beiträgen zur Pflegeversicherung ab 01.04.2004 sowie unter
Nichtabzug eines Rentenabschlags (verminderter Zugangsfaktor) für solche Berechtigte,
die bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, die Rente des Klägers
wegen voller Erwerbsminderung neu zu berechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, im Hinblick auf die Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 16.05.2006
(Az.: B 4 RA 22/05 R) sei festzustellen, dass die Rentenversicherungsträger diesem Urteil
über den dort entschiedenen Einzelfall hinaus nicht folgen könnten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakten sowie die
beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen
Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die vom Kläger eingelegte Berufung ist, da sie wiederkehrende oder laufende Leistungen
für mehr als ein Jahr betrifft, statthaft und auch im Übrigen zulässig; sie ist jedoch nur
teilweise begründet.
a) Soweit der Kläger sich unter Bezugnahme auf den Vorlagebeschluss des 4. Senats des
BSG vom 16.12.1999 (Az.: B 4 RA 11/99 R) auf eine Verfassungswidrigkeit der neuen
Regelung über die Bewertungen der Zeiten der beruflichen Ausbildung nach § 58 Abs. 1 S.
1 Nr. 4a und S. 2 SGB VI in der Fassung des Art.1 Nr. 11 Buchst. a des Gesetzes zur
Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der
Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und
Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG)) vom 25.09.1996 (BGBl. I S. 1461), in Kraft
getreten am 01.01.1997, beruft, weist der Senat die Berufung aus den zutreffenden
Gründen der angefochtenen Entscheidung gemäß § 153 Abs. 2 SGG zurück. Das SG hat in
seiner Entscheidung zu Recht hervorgehoben, dass zum einen die Gedankenführung des 4.
Senats des BSG in seinem o.g. Vorlagebeschluss ausdrücklich auf die Entstehung eines
Anwartschaftsrechts auf Regelaltersrente und nicht auf Erwerbsminderungsrente aus der
gesetzlichen Rentenversicherung abstellt. Zum anderen hat es in seiner Begründung
ausgeführt, dass der Kläger nach der vorgenannten Entscheidung des BSG vom
16.12.1999, der sich der erkennende Senat anschließt, zum einen bereits von seinem
Lebensalter her nicht zu dem Personenkreis gehört, dem ein als vermögenswertes
subjektives öffentliches Recht und damit im Sinne des Artikel 14 GG geschütztes
rentenrechtliches Anwartschaftsrecht zusteht. Ein solches, in seiner Schutzwürdigkeit dem
Vollrecht auf Regelaltersrente grundsätzlich gleichzustellendes Anwartschaftsrecht hat das
BSG lediglich für Versicherte bejaht, die bei Inkrafttreten der Neuregelung bereits das 55.
Lebensjahr vollendet haben. Es hat in seiner zitierten Entscheidung ausdrücklich ausgeführt,
dass der Kreis von Inhabern eines Anwartschaftsrechts durch die Regelung des § 58 Abs. 1
S. 1 Nr. 4a und S. 2 SGB VI gegenüber solchen Versicherten unverhältnismäßig
benachteiligt werde, die gerade erst Mitglied der Solidargemeinschaft geworden seien und
somit noch nicht einmal eine Anwartschaft erworben hätten und den Versicherten, die
gerade erst die allgemeine Wartezeit erfüllt, jedenfalls das 55.Lebensjahr noch nicht
vollendet und ein Anwartschaftsrecht noch nicht erlangt hätten.
b) Soweit der Kläger sich darauf beruft, die am 01.04. 2004 in Kraft getretene
Neuregelung des § 59 Abs. 1 SGB XI, wonach Rentner die Versicherungsbeiträge zur
sozialen Pflegeversicherung ab diesem Zeitpunkt allein zu tragen haben, sei
verfassungswidrig, folgt der Senat dieser Auffassung nicht. Zwar hat diese neue Regelung
gegenüber dem früheren Rechtszustand, wonach Rentner mit der hälftigen Tragung der
Versicherungsbeiträge zur sozialen Pflegeversicherung herangezogen wurden, faktisch zu
einer Rentenkürzung geführt. Der Senat hat aber bereits in seinem Urteil vom 25.11.2005
(Az.: L. 7 R 30/05); auf das Bezug genommen wird, im Einzelnen ausgeführt, dass § 59
Abs. 1 SGB XI im Einklang mit dem Grundgesetz steht. In jenem Verfahren, in dem die
Prozessbevollmächtigten des Klägers des vorliegenden Verfahrens ebenfalls als
Prozessbevollmächtigte des dortigen Klägers tätig waren, hat das BSG die vom Senat
zugelassene Revision des Klägers durch Urteil vom 29.11.2006 (Az.: B 12 R 5/06 R)
zurückgewiesen. Auch das BSG hat dabei eine Verfassungswidrigkeit des § 59 SGB XI in
der seit 01.04.2004 geltenden Fassung verneint. Auch wenn man davon ausgehe, die
Position der Rentner sei eigentumsgeschützt gewesen, soweit eine Pflicht des
Rentenversicherungsträgers zur hälftigen Tragung des Beitrags zur Pflegeversicherung
gesetzlich vorgesehen gewesen sei, liege nach Überzeugung des Senats keine
verfassungswidrige Enteignung, sondern eine zulässige Beschränkung des Eigentums vor.
Der Gesetzgeber habe die Neuregelung zum 01.04.2004 als Teil einer Reihe von
Maßnahmen in Kraft gesetzt, mit denen die finanzielle Lage der gesetzlichen
Rentenversicherung habe stabilisiert werden sollen. Die Neuregelung verstoße auch nicht
gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Es gebe weder einen verfassungsrechtlich
gewährleisteten Grundsatz, dass Rentner Beiträge zu einer Pflichtversicherung nur zur
Hälfte tragen müssten, noch gebe es einen entsprechenden Grundsatz, dass Rentner nicht
anders als Arbeitnehmer bei der Beitragszahlung behandelt werden dürften.
c) Soweit der Kläger geltend macht, dass Erwerbsminderungsrentner, die bei
Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Rentenabschlägen gemäß §
77 SGB VI nur unterliegen, wenn sie die Rente über das 60. Lebensjahr hinaus beziehen,
ist die Berufung begründet.
Der Senat folgt der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, das in seinem Urteil vom
16.05.2006 (B 4 RA 22/05 R) entschieden hat, dass die Praxis der
Rentenversicherungsträger, bei einem Recht auf Rente wegen Erwerbsminderung, das
bereits vor Vollendung des 60. Lebensjahres entstanden ist, auch für Bezugszeiten vor
Vollendung des 60. Lebensjahres durch Bestimmung eines niedrigeren Zugangsfaktors
(Rentenabschlag) einen Teil der vom Rentner für die Rentenversicherung erbrachten
Vorleistung unbeachtet zu lassen, gesetz- und verfassungswidrig sei.
Das BSG hat in seiner vorgenannten Entscheidung ausgeführt, der Zugangsfaktor, der nur
zur Vermeidung von (individuellen Vermögens-) Vorteilen aus einer (bei gleicher Rentenart
und gleicher Vorleistung) unterschiedlichen Rentenbezugsdauer von 1,0 abweichen dürfe (§
63 Abs. 1 bis 3,5 SGB VI), richte sich nach dem Alter des Versicherten bei Beginn der
Erwerbsminderungsrente (§ 77 Abs. 1 SGB VI). Erst ab dem Zeitpunkt, in dem die
Erwerbsminderungsrente "vorzeitig" in Anspruch genommen werde, könne allenfalls - ohne
verfassungswidrige Willkür - und überhaupt nur eine Nichtbeachtung der Vorleistung, die
der Versicherte für die Rentenversicherung erbracht habe, in Betracht kommen. Das
Gesetz selbst sage aber ausdrücklich, dass der Bezug einer Erwerbsminderungsrente vor
Vollendung des 60. Lebensjahres nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gelte (§
77 Abs. 2 S. 3 SGB VI). Ferner sage es ausdrücklich (§ 77 Abs. 2 S. 2 SGB VI), dass bei
Beginn der Erwerbsminderungsrente vor dem 61. Lebensjahr (ausnahmsweise) für die
Bestimmung des Zugangsfaktors ( = Maßgeblichkeit eines anderen Zugangsfaktors als
1,0) "die Vollendung des 60. Lebensjahres" maßgebend sei. Bezugszeiten vor Vollendung
des 60. Lebensjahres würden demnach vom Gesetz gerade nicht als Zeiten eines
"vorzeitigen Rentenbezugs" bestimmt, in dem „Vorteile aus einer unterschiedlichen
Rentenbezugsdauer" entstünden. Daher sehe auch § 77 Abs. 3 S. 3 Nr. 2 SGB VI eine
Erhöhung des Zugangsfaktors wegen Nichtinanspruchnahme einer "vorzeitigen"
Erwerbsminderungsrente nur für die Monate zwischen der Vollendung des 60. und der des
63. Lebensjahres vor. Für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres, bei denen
ein Ausweichen vor den Abschlägen bei vorzeitigen Altersrenten schlechthin nicht in
Betracht komme, ordne das Gesetz also ausdrücklich an, dass keine unterschiedliche
(längere) Rentenbezugsdauer im Vergleich zu den 63-bis 65 jährigen
Erwerbsminderungsrentnern und kein zu vermeidender Vorteil im Sinne des § 63 Abs. 5
SGB VI vorliege, zumal Rechte auf Erwerbsminderungsrenten grundsätzlich nur auf Zeit
und auf längstens drei Jahre bestünden (§ 102 Abs. 2 SGB VI). Aus den
Gesetzesmaterialien ergebe sich nichts Gegenteiliges, da diese sich im Wesentlichen nur
dazu „verhielten", dass Versicherte die bei vorzeitiger Inanspruchnahme eines
Altersruhegeldes Abschläge befürchteten, nicht in die „höhere" Erwerbsminderungsrente
„ausweichen" sollten. Ebenfalls ergebe sich keine andere Rechtsauslegung aus der
Tatsache, dass im gleichen Gesetz die Zurechnungszeit bis zur Vollendung des 60.
Lebensjahres gemäß § 59 SGB VI verlängert beziehungsweise aufgewertet worden sei.
Dies begünstige auch solche Erwerbsminderungsrentner, deren Rente vor dem Ende ihres
60. Lebensjahres begonnen habe und über dieses hinaus zu zahlen sei. Bei ihnen greife ab
Vollendung des 60. Lebensjahres der „Rentenabschlag" von 10,8 %. Dieser Eingriff werde
durch die bei dem früheren Rentenbeginn wirksam gewordene Anhebung der
Zurechnungszeit gemildert.
Diese Ausführungen, die sich nicht nur am – insoweit eindeutigen – Wortlaut der
einschlägigen Vorschriften, sondern auch an Sinn und Zweck des gesetzgeberischen
Willens, soweit dieser den Gesetzesmaterialien entnehmbar ist, orientieren, hält der Senat
für überzeugend und schließt sich ihnen an.
Der am X..X..19X. geboren Kläger hatte bei Beginn des Bezugs der
Erwerbsminderungsrente am 01.10.2002 erst das 35. Lebensjahr vollendet. Auf die
Berufung des Klägers war damit die Beklagte unter Abänderung der erstinstanzlichen
Entscheidung sowie der angefochtenen Bescheide der Beklagten zu verurteilen, die
befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.10.2002 ohne Minderung des
Zugangsfaktors zu gewähren.
Im Übrigen war die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.