Urteil des LSG Saarland vom 18.02.2009

LSG Saarbrücken: anerkennung, konzentration, einwirkung, neue anlage, geeignetheit, zigarette, wissenschaft, bevölkerung, berufskrankheit, anatomie

LSG Saarbrücken Urteil vom 18.2.2009, L 2 U 61/05
Gesetzliche Unfallversicherung - Wie-Berufskrankheit - neue Erkenntnisse der medizinischen
Wissenschaft - Formaldehydexposition - chronisch-atrophische Rhinitis - Tätigkeit im
Leichenkeller der Universitätsklinik - Präparatorgehilfe - Anatomie
Leitsätze
Bei einer Versicherten, die auf Grund ihrer Tätigkeit im Leichenkeller der Anatomie einer
Universitätsklinik in hohem Maße der Einwirkung von Formaldehyd ausgesetzt war, ist eine
chronisch-atrophische Rhinitis nach § 9 Abs. 2 SGB 7 wie eine Berufskrankheit
anzuerkennen.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das
Saarland vom 22.04.2005 und der Bescheid vom 22.09.2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 04.02.2004 abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, die chronisch-atrophische Rhinitis nach § 9 Abs. 2 SGB VII wie
eine Berufskrankheit anzuerkennen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Instanzen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Anerkennung und Entschädigung einer chronisch-atrophischen
Rhinitis und einer chronisch-hyperplastischen Laryngitis wie eine Berufskrankheit nach § 9
Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII).
Die Klägerin war vom 01. Mai 1987 bis Oktober 1992 in der Anatomie der Universität H.
halbtags angestellt. Seit Februar 1992 war sie krankgeschrieben. Von 1989 bis 1991
verrichtete sie wegen Personalmangels vermehrt Überstunden. Ihr Arbeitsplatz war der
Leichenkeller, der nur in seinem Zentrum, nicht in den Randbereichen belüftet war. Die
Klägerin hatte insbesondere die Abfalltöpfe aus dem Präpariersaal, deren Inhalt aus
formalingetränkter Haut, Fett- und Zellstoff bestand, zu reinigen; weiterhin war sie für die
Wäsche der Leichentücher, die mit Formalin getränkt auf den Leichen im Präpariersaal
lagen, zuständig; bei der Aufbewahrung und Vorbereitung von Leichen vor ihrer
Verwendung im Präpariersaal hatte die Klägerin die Leichen jeweils in eine Wanne zu legen
und aus einer Wanne zu befördern; außerdem hatte sie die Leichen in Plastikfolien
einzuschweißen und, wenn sie aus dem Präpariersaal direkt vor Beginn des Präparierkurses
zurückkamen, die Verschweißung zu entfernen; schließlich hatte sie alle drei bis vier
Monate ein bis zwei Wannen zu reinigen. Bei allen Arbeitsvorgängen war sie, zum Teil in
hohem Maße, Formalindämpfen ausgesetzt. Abgesehen von dieser Exposition war sie im
Wintersemester 1989/90 dem Einfluss von Äthylenglykolmonophenyläther ausgesetzt, der
von den Studenten zur Verhinderung von Schimmel über die Leichen im Präpariersaal
versprüht worden ist.
Ein 1990 eingeleitetes Verfahren auf Anerkennung der Atemwegserkrankung der Klägerin
als BK nach Nr. 4301 oder 4302 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV)
endete 1995 durch Zurückweisung der Berufung (S 3 U 53/92 /L 2 U 10/95, Urteil des
Senats vom 05.09.1995).
Einen 1995 gestellten Antrag auf Anerkennung von cerebralen Störungen als BK bzw. wie
eine BK nach § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) lehnte die Beklagte ab. In
dem darauffolgenden Klageverfahren (S 3 U 247/97) führte der Sachverständige B.
(Gutachten vom 31.03.1998) aus, die organische Dysphonie als Folge einer chronisch-
hyperplastischen Laryngitis mit dauernder Heiserkeit und Phonasthenie sei als Folge
stattgehabter hoher Exposition mit Formaldehyd wahrscheinlich, die Minderung der
Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 20 v.H..
Nach Auffassung des Sachverständigen Dr. W. liegt bei der Klägerin eine organische
Dysphonie als Folge einer chronisch-hyperplastischen Laryngitis mit dauernder Heiserkeit
und Phonasthenie vor, die als Quasi-BK nach § 551 Abs. 2 RVO anzuerkennen sei, die MdE
betrage 20 v.H. (Gutachten vom 09.03.1998 nebst ergänzender Stellungnahme vom
07.07.1998.
Nach Auskunft des Bundesverbandes der Unfallkassen (vom 23.07.1998) wurden im
Bereich der Unfallversicherungsträger der Öffentlichen Hand in den Berichtsjahren 1990 bis
1996 zwei Fälle mit einer Exposition gegenüber Formaldehyd im Sektionsraum gemeldet
und als BKen im Sinne der Nrn. 4301 bzw. 4302 der Anlage 1 zur
Berufskrankheitenverordnung (BKVO; jetzt Anlage zur BKV) anerkannt. Zudem habe das
LSG Niedersachsen (Urteil vom 23.03.1995 – L 6 U 162/92) im Falle eines
Pathologiepflegers nach langjähriger Exposition gegenüber Formaldehyd entschieden, dass
eine chronisch-atrophe Schleimhautentzündung der oberen Atemwege mit vermehrter
Infektanfälligkeit und sensorischer Minderung von Geruch und Geschmack wie eine BK nach
§ 551 Abs. 2 RVO zu entschädigen sei.
Das Sozialgericht für das Saarland (SG) holte ein weiteres Gutachten (vom 16.12.1999)
bei Prof. Dr. T. ein. Dieser kam, gestützt auf ein Hals- Nasen- Ohrenärztliches
Zusatzgutachten (vom 11.04.1999) von PD Dr. R. und ein phoniatrisches Zusatzgutachten
(vom 13.08.1999) von Prof. Dr. P., zu dem Ergebnis, dass keine gesicherten
wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Arbeitsmedizin vorlägen, um eine generelle
Geeignetheit dafür zu bestätigen, dass eine berufliche Formaldehyd-Exposition generell in
der Lage sei, eine chronische Laryngitis beim Menschen zu verursachen. Dagegen handele
es sich bei der chronischen Rhinopathie mit atrophischen Bezirken wahrscheinlich um eine
Erkrankung nach § 9 Abs. 2 SGB VII; die MdE betrage weniger als 20 v.H..
Die Beklagte reichte eine gutachtliche Beurteilung nach Aktenlage (vom 02.03.2000) von
Dr. O. zu den Akten, der darauf hinwies, es könne als gesichert davon ausgegangen
werden, dass die Klägerin zwischen 1987 und 1992 einer Formaldehyd-Exposition
ausgesetzt gewesen sei und zwar in einer Höhe, die zu Schleimhaut- bzw. Riechschäden
führen könne. Die schädigende Wirkung von Formaldehyd auf Schleimhaut und Riechepithel
sei seit vielen Jahrzehnten bekannt. Insofern seien die Voraussetzungen für die Entstehung
sowohl einer Anosmie als auch einer chronisch-atrophen Rhinitis aus medizinischer Sicht als
gegeben anzusehen. In Übereinstimmung mit dem Gutachter Prof. Dr. T. sei die
konkurrierende Inhalation von Nikotin im Vergleich zur Formaldehydinhalation durch die
berufliche Exposition geringer zu gewichten, so dass als wesentliche Teilursache die
berufsbedingte Formaldehyd-Exposition anzusehen sei. Obwohl diese schädigende Wirkung
von Formaldehyd auf Nasenschleimhaut und Riechepithel seit Jahrzehnten bekannt sei, sei
bis zum jetzigen Zeitpunkt keine eigenständige Anerkennung dieser beruflichen
Formaldehyd-Exposition als BK erfolgt. Letztendlich sei es eine juristische Frage, ob der
jetzige wissenschaftliche Kenntnisstand als „neue Erkenntnisse“ im Sinne des § 9 Abs. 2
SGB VII aufzufassen sei. Im Anerkennungsfall der Rhinitis atrophicans sowie der partiellen
Hyposmie wie eine BK wäre die MdE mit unter 10 v.H. einzuschätzen.
In einem weiteren Gutachten nach Aktenlage (vom 17.11.2000) führte Prof. Dr. T. aus,
dass ein Ursachenzusammenhang zwischen einer stattgehabten beruflichen Formaldehyd-
Exposition der Klägerin und einer „möglichen Encephalopathie“ nicht wahrscheinlich sei.
Auch der Sachverständige Dr. G. gelangte in seinem gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) eingeholten Gutachten (vom 30.06.2001) zu dem Ergebnis, dass eine cerebrale
Schädigung oder Erkrankung nicht vorliege.
Das SG wies daraufhin mit Urteil vom 13.09.2001 die Klage auf Anerkennung einer
cerebralen Störung als bzw. wie eine BK ab. Die dagegen eingelegte Berufung nahm die
Klägerin zurück, beantragte jedoch gleichzeitig eine Überprüfung, ob die bei ihr festgestellte
chronische Rhinopathie und die ebenfalls festgestellte Laryngitis wie eine BK nach § 9 Abs.
2 SGB VII anzuerkennen sind.
Die Beklagte holte ein Zusammenhangsgutachten (vom 13.01.2003) bei dem
Gewerbearzt Dr. H. ein. Nach dessen Auffassung ließen sich die Veränderungen im
Kehlkopf nicht mit der im Versicherungsrecht geforderten Wahrscheinlichkeit in einen
ursächlichen Zusammenhang mit der Formaldehyd-Exposition bringen. Hierzu fehlten
entsprechende Publikationen. Ebenso sei ein Zusammenhang der einseitigen Riechstörung
mit der Formaldehyd-Exposition nicht wahrscheinlich zu machen, hierfür sprächen
insbesondere pathophysiologische Überlegungen, die bei Formaldehyd als maßgebliche
Noxe einen beidseitigen Verlust des Riechvermögens erwarten ließen. Der nur einseitige
Befall spreche in so großem Maße gegen einen ursächlichen Zusammenhang, dass
gegebenenfalls dafür sprechende Argumente weit in den Hintergrund träten. Dagegen
halte er ebenso wie der Vorgutachter Prof. Dr. T. einen ursächlichen Zusammenhang
zwischen der erheblichen Überexposition gegenüber Formaldehyd und den Veränderungen
der Nasenschleimhaut bei der Klägerin für wahrscheinlich. Er schlage vor, die
Veränderungen als BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen. Es sei zu berücksichtigen,
dass nicht eine große Gruppe betroffen sein müsse, um überhaupt eine Anerkennung als
BK aussprechen zu können. Zum anderen sei nicht aus dem Veröffentlichungsdatum allein
abzuleiten, ob eine Erkenntnis neu im Sinne des Gesetzes sei. Ihm seien keine Fakten
bekannt geworden, insbesondere aus den wissenschaftlichen Begründungen zu den BKen,
die darauf schließen ließen, dass sich der Verordnungsgeber mit der Frage der irritativen
und schädigenden Wirkung von Formaldehyd auf die Nasenschleimhaut bei erheblichen
Überschreitungen des Grenzwertes beschäftigt habe.
Laut Auskunft des Bundesverbandes der Unfallkassen (vom 23.04.2003) ist im Ärztlichen
Sachverständigenbeirat, Sektion „Berufskrankheiten“, die Frage, ob Formaldehyd
Erkrankungen der oberen Atemwege bzw. des Kehlkopfes verursacht, bis dato nicht
thematisiert worden; es sei auch nicht beabsichtigt diese Thematik aufzugreifen.
Mit Bescheid vom 22.09.2003 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer chronisch-
atrophischen Rhinitis und einer chronisch-hyperplastischen Laryngitis wie eine BK gemäß §
9 Abs. 2 SGB VII ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, neue Erkenntnisse – wie von § 9
Abs. 2 SGB VII gefordert – seien solche Erkenntnisse über die in Betracht kommenden
Krankheiten, die erst nach Erlass der letzten BKV bekannt geworden seien oder sich erst
nach diesem Zeitpunkt zur Berufskrankheitsreife verdichtet hätten. Die letzte Änderung der
BKV datiere vom 05.09.2002. Nach den getroffenen Feststellungen lägen derzeit keine
neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse dahingehend vor, dass gegenüber
Formaldehyd exponierte Personen in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung
an Rhinitis oder Laryngitis erkrankten. Im Ärztlichen Sachverständigenbeirat sei die Frage,
ob Formaldehyd Erkrankungen der oberen Atemwege bzw. des Kehlkopfes verursache,
weder thematisiert worden, noch sei beabsichtigt, die Prüfung dieser Frage aufzugreifen.
Der Verordnungsgeber habe aufgrund der Tatsache, dass Erkrankungen der oberen
Atemwege durch Formaldehyd nicht in die neue Anlage zur BKV aufgenommen worden
seien, deutlich Stellung bezogen.
Der dagegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom
04.02.2004; zur Post gegeben am 05.02.2004).
Die dagegen am 08.03.2004, einem Montag, erhobene Klage hat das SG nach Einholung
einer Auskunft (vom 21.01.2005) beim Bundesverband der Unfallkassen mit
Gerichtsbescheid vom 22.04.2005 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen
ausgeführt, die Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 SGB VII seien vorliegend nicht erfüllt,
denn es fehle der Nachweis einer gruppentypischen Risikoerhöhung. Eine gruppentypische
Risikoerhöhung gelte dann als nachgewiesen, wenn eine Fülle gleichartiger
Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung von
Krankheitsbildern existierten, die den Schluss darauf zuließen, dass die Ursache für die
Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liege. Nach der Auskunft des
Bundesverbandes der Unfallkassen vom 21.01.2005 liege derzeit eine Gruppentypik
hinsichtlich einer Haut und Schleimhaut reizenden Wirkung von Formaldehyd nicht vor.
Auch wenn man unterstelle, dass nur wenige Dauerexponierte existierten und auch
frühere Mitarbeiter der Klägerin über gesundheitliche Beeinträchtigungen klagten, so
genüge dies nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht, um eine
berufsgruppentypische Risikoerhöhung zu bejahen. Auch spreche die Tatsache, dass die
vorliegende Problematik dem für die Anerkennung von BKen zuständigen
Bundesministeriums bekannt sei, aber die Problematik bislang nicht thematisiert worden
sei, dafür, dass bislang lediglich Kenntnisse im Gegensatz zu gesicherten Kenntnissen
vorlägen, was nicht ausreiche.
Gegen den ihr am 13.05.2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am
13.06.2005 Berufung eingelegt.
Sie meint, das SG habe zu Unrecht die Anerkennung der geltend gemachten Krankheiten
als Quasi-BK gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII abgelehnt.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des
Sozialgerichts für das Saarland vom 22.04.2005 und des
Bescheides vom 22.09.2003 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 04.02.2004 zu verurteilen,
die chronisch-atrophische Rhinitis und die chronisch-
hyperplastische Laryngitis nach § 9 Abs. 2 SGB VII wie eine
Berufskrankheit anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt den angefochtenen Gerichtsbescheid und weist darauf hin, dass keine
epidemiologischen Erkenntnisse vorlägen. Zudem liege mit dem Rauchen eine
konkurrierende Ursache vor.
Der Senat hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Gutachtens nebst zweier
ergänzender Stellungnahmen bei Prof. Dr. Sch.. Wegen des Ergebnisses der
Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten vom 11.07.2006 und die schriftlichen
Stellungnahmen vom 27.11.2007 und 23.07.2008 verwiesen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Gerichtsakten L 2 U 10/95 (= S 3 U 53/92) und L 2 U
128/01 (= S 3 U 247/97) sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten; der
Inhalt der Beiakten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist zum Teil begründet. Die chronisch-atrophische Rhinitis bei der
Klägerin ist nach § 9 Abs. 2 SGB VII wie eine BK anzuerkennen. Dagegen kann ein
Zusammenhang zwischen der chronisch-hyperplastischen Laryngitis und den beruflichen
Einwirkungen von Formaldehyd nicht hinreichend wahrscheinlich gemacht werden.
Nach § 9 Abs. 2 SGB VII haben die Unfallversicherungsträger eine Krankheit, die nicht in der
Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht
vorliegen, wie eine BK als Versicherungsfall anzuerkennen, sofern im Zeitpunkt der
Entscheidung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die
Voraussetzungen für eine Bezeichnung nach Abs. 1 S. 2 erfüllt sind. Zu diesen
Voraussetzungen gehören sowohl der ursächliche Zusammenhang der Krankheit mit der
versicherten Tätigkeit als auch die Zugehörigkeit des Versicherten zu einer bestimmten
Personengruppe, die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung
besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist, die nach neuen Erkenntnissen der medizinischen
Wissenschaft Krankheiten der betreffenden Art verursachen. Mit dieser Regelung soll nicht
in der Art einer „Generalklausel“ erreicht werden, dass jede Krankheit, deren ursächlicher
Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit im Einzelfall zumindest hinreichend
wahrscheinlich ist, wie eine BK zu entschädigen ist. Vielmehr sollen dadurch Krankheiten
zur Entschädigung gelangen, die nur deshalb nicht in die BK-Liste aufgenommen wurden,
weil die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die besondere Gefährdung
bestimmter Personengruppen durch ihre Arbeit bei der letzten Fassung der Anlage zur BKV
noch nicht vorhanden waren oder trotz Nachprüfung noch nicht ausreichten (vgl. BSG,
Urteile vom 04.06.2002 – B 2 U 16/01 R und B 2 U 20/01 R).
A.
Die Anerkennung der chronisch-hyperplastischen Laryngitis wie eine BK nach § 9 Abs. 2
SGB VII kommt bereits deshalb nicht in Betracht, weil sie nicht mit hinreichender
SGB VII kommt bereits deshalb nicht in Betracht, weil sie nicht mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit auf die beruflich bedingte Exposition gegenüber Formaldehyd
zurückgeführt werden kann. Dies steht zur Überzeugung des Senats fest aufgrund der
überzeugenden und widerspruchsfreien Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Sch..
Dieser hat darauf hingewiesen, im Falle der Klägerin habe kein direkter zeitlicher
Zusammenhang zwischen der Formaldehydexposition am Arbeitsplatz und der Heiserkeit
bestanden. Die Klägerin habe bei der Anamnese angegeben, seit 1995 die Heiserkeit zu
verspüren. Die Exposition am Arbeitsplatz gegenüber Formaldehyd habe jedoch schon
1992 geendet. Ein eindeutiger Arbeitsplatz–, Ort– und Zeitbezug zwischen der
Formaldehydexposition und einer Heiserkeit sei von der Klägerin nicht berichtet worden. Bei
einem Auftreten des Symptoms „Heiserkeit“ etwa 3 Jahre nach Beendigung der Tätigkeit
könne ein Zusammenhang mit der beruflich gefährdenden Tätigkeit nicht mehr hinreichend
wahrscheinlich gemacht werden. Vielmehr könnten als Ursache der Laryngitis die
Anwendung von topischen Kortikoiden bzw. das Zigarettenrauchen angesehen werden.
Der Senat hat keine Bedenken, sich der Einschätzung des Sachverständigen anzuschließen,
zumal auch die Vorgutachter Prof. Dr. T. und Dr. H. zu demselben Ergebnis gelangt sind.
B.
Bei der Klägerin wurde 1998 eine chronisch-atrophische Rhinitis mit Hyposmie
diagnostiziert. Die chronisch-atrophische Rhinitis ist eine Entzündung der
Nasenschleimhaut, die mit Schwund (Atrophie) der Nasenschleimhaut, eventuell auch des
Nasenskelettes einhergeht. Die Hyposmie kennzeichnet eine verminderte Empfindlichkeit
bei der Wahrnehmung von Riechstoffen (vgl. Bl. 25 des Gutachtens von Prof. Dr. Sch.). Die
Anerkennung der chronisch-atrophischen Rhinitis als eine BK nach einer Listennummer der
BKV ist nicht möglich, da diese Erkrankung, insbesondere hervorgerufen durch
Formaldehyd, dort nicht aufgeführt wird. Eine Anerkennung kann somit nur nach § 9 Abs. 2
SGB VII erfolgen.
Die Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII setzt eine gruppentypische Risikoerhöhung
voraus. Diese ist gegeben, wenn medizinische Erkenntnisse vorliegen, dass eine
Personengruppe durch die Arbeit Einwirkungen ausgesetzt ist, mit denen die übrige
Bevölkerung nicht in diesem Maße in Kontakt kommt (Einwirkungshäufigkeit) und die
geeignet sind, eine Erkrankung (hier: eine chronisch-atrophische Rhinitis) hervorzurufen
(generelle Geeignetheit). Das Erfordernis einer höheren Gefährdung bestimmter
Personengruppen bezieht sich auf das allgemeine Auftreten einer Krankheit innerhalb dieser
Gruppe. Auf eine Verursachung der Krankheit durch die gefährdende Tätigkeit im Einzelfall
kommt es dabei nicht an. Ob eine Krankheit innerhalb einer bestimmten Personengruppe
im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung,
erfordert in der Regel den Nachweis einer Fülle gleichartiger
Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung derartiger
Krankheitsbilder, um dann darauf schließen zu können, dass die Ursache für die Krankheit
in einem schädigenden Arbeitsleben liegt. Ist im Ausnahmefall die gruppenspezifische
Risikoerhöhung nicht mit der im allgemeinen notwendigen langfristigen zeitlichen
Überwachung derartiger Krankheitsbilder zum Nachweis einer größeren Anzahl gleichartiger
Gesundheitsstörungen zu belegen, da etwa auf Grund der Seltenheit der Erkrankung
medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse durch statistisch abgesicherte Zahlen nicht
erbracht werden können, kann zur Feststellung der generellen Geeignetheit der Einwirkung
spezieller Noxen zur Verursachung der betreffenden Krankheit auch auf Einzelfallstudien,
auf Erkenntnisse aus anderen Staaten sowie auf frühere Anerkennungen entsprechender
Krankheiten wie BKen nach § 551 Abs. 2 RVO und damit zusammenhängende medizinisch-
wissenschaftliche Erkenntnisse zugegriffen werden (BSG a. a. O., B 2 U 20/01 R). Die
gruppenspezifische Risikoerhöhung muss sich in jedem Fall letztlich aus „Erkenntnissen der
medizinischen Wissenschaft“ ergeben. Mit wissenschaftlichen Methoden und Überlegungen
muss zu begründen sein, dass bestimmte Einwirkungen die generelle Eignung besitzen,
eine bestimmte Krankheit zu verursachen. Solche Erkenntnisse liegen in der Regel dann
vor, wenn die Mehrheit der medizinischen Sachverständigen, die auf den jeweils in Betracht
kommenden Gebieten über besondere Erfahrungen und Kenntnisse verfügen, zu derselben
wissenschaftlich fundierten Meinung gelangt ist. Es muss sich um gesicherte Erkenntnisse
handeln; nicht erforderlich ist, dass diese Erkenntnisse die einhellige Meinung aller Mediziner
sind. Andererseits reichen vereinzelte Meinungen einiger Sachverständiger grundsätzlich
nicht aus (BSG a. a. O., B 2 U 20/01 R).
Die im Falle der Klägerin maßgebliche „bestimmte Personengruppe“ sind die
Präparatorgehilfen, die unter Arbeitsbedingungen beschäftigt sind, die denen der Klägerin
entsprachen. Dies entspricht Sinn und Zweck des § 9 Abs. 1 S. 2 SGB VII, der einer
gruppenspezifischen Gefährdung der Arbeitnehmer Rechnung tragen soll und daher
voraussetzt, dass alle Gruppenmitglieder einer vergleichbaren Gefährdung ausgesetzt sind
(vgl. BSG, Urteil vom 29.10.1981 – 8/8a RU 82/80; LSG Niedersachsen, Urteil vom
23.03.1995 – L 6 U 162/92). Die Klägerin war durch ihre Tätigkeit im Leichenkeller der
Anatomie in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung gegenüber Formaldehyd
exponiert. Im Jahr 1987, als sie ihre Tätigkeit aufnahm, wurden an ihrem Arbeitsplatz 12-
fach höhere Konzentrationen an Formaldehyd als der damalige MAK-Wert von 0,6 mg/m
3
, also 7,2 mg/m
3
Formaldehyd gemessen. Auch für 1990 wurde bei einer
sicherheitstechnischen Messung eine MAK-Wertüberschreitung dokumentiert (vgl. Bl. 26,
27 des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Sch.).
Bezüglich der Wirkung des Formaldehyds hat der Sachverständige Prof. Dr. Sch. für den
Senat nachvollziehbar ausgeführt, dass der größte Teil des insbesondere inhalierten
Formaldehyds im oberen Atemtrakt seine Wirkung entfalte, beim Menschen vor allem in
der Nase und an der Luftröhre sowie den Bronchien. In der Nase löse sich das Gas
zunächst in der Schleimschicht über dem Nasenepithel und setze sich infolge seiner hohen
Reaktivität bereits mit deren Bestandteilen um. Bei genügend hohen Konzentrationen stelle
sich ein Konzentrationsgradient von freiem Formaldehyd innerhalb der Schichten des
Nasenepithels ein. Innerhalb des Epithels seien weitere Reaktionen möglich, die zur
Inaktivierung von Formaldehyd führten. Aufgrund der hohen Reaktivität würde letztlich nur
ein geringer Anteil von freiem Formaldehyd im Organismus bioverfügbar. Insbesondere
hervorzuheben sei die stark reizende und ätzende Wirkung des Formaldehyds auf Augen
und Haut. Seine Reizwirkung im Atemtrakt sei bekannt. Die akute Toxizität sei
insbesondere aufgrund der hohen Reaktivität zu erklären. Liege eine inhalative Exposition
vor, stehe die Reizwirkung an den Schleimhäuten im Vordergrund. Die Geruchsschwelle
liege bei sehr geringen Konzentrationen (unter 0,05 ppm). Nach Inhalation komme es
insbesondere zu Tränenreiz, deutlicher Reizung der Nase und des Rachens, bei höheren
Konzentrationen zu starkem Tränenfluss, Beschwerden bei der Atmung und starkem
Husten. Die Klägerin habe bei Einwirkung von Formaldehyd von Augentränen und
Nasenlaufen berichtet. Außerdem habe sie Husten und Luftnot verspürt. Bei chronischer
Einwirkung sei insbesondere bei den früher hohen Expositionen über chronische
Entzündung der Augenbindehäute und Schleimhäute im Nasen-Rachenraum berichtet
worden. Teilweise sei es auch zu induzierten Asthmaerkrankungen gekommen. Damit
zeige sich die generelle Geeignetheit von Formaldehyd, Veränderungen an der
Nasenschleimhaut hervorzurufen. Auch die generelle Geeignetheit von Formaldehyd, eine
Hyposmie zu verursachen, sei unzweifelhaft gegeben.
Der Sachverständige hat weiter darauf hingewiesen, dass es bezüglich Formaldehyd und
chronisch-atrophischer Rhinitis mit Hyposmie bzw. Anosmie keine epidemiologische
Studienlage mit Kohorten- oder Fall-Kontroll-Studien gebe. Dies sei auch in Zukunft nicht zu
erwarten, da sich die Arbeitsplatzverhältnisse im Laufe der Jahre verändert hätten und
nicht damit zu rechnen sei, dass Studien zur Verursachung von Riechstörungen unter den
damaligen Expositionsbedingungen publiziert würden. Auch in den Leichenhallen von
Anatomien und Pathologien sei die Exposition der Beschäftigten gegenüber Formaldehyd
durch technische und organisatorische Arbeitsschutzmaßnahmen verringert worden.
Aufgrund der Seltenheit von Riechstörungen zum Beispiel bei Präparierhilfen in
Leichenkellern lasse sich das arbeitsbedingte erhöhte Risiko durch statistisch abgesicherte
Zahlen nicht hinreichend erbringen.
Es gebe jedoch Studien zur Irritationswirkung und zur Veränderung von
Atemwegsparametern am Arbeitsplatz aus der MAK-Wertbegründung der DFG 2000.
Personen, die in der Anatomie gegenüber Balsamierungsflüssigkeiten und darin
enthaltenem Formaldehyd exponiert gewesen seien, berichteten über Irritationen von
Augen, Nase , Rachenraum und Atemwegen. Durchschnittliche Konzentrationen an
Formaldehyd, die solche Effekte hervorriefen, seien mit 1-2 ml/m
3
angegeben worden,
maximale Konzentration über 2ml/m
3
. Im Falle der Klägerin habe die Konzentration bei
Werten bis zu 7,2 mg/m
3
gelegen.
In einer Studie von Reiche et al. 1992 seien 18 Arbeiter, die in einer Fabrik für technische
Filze im Durchschnitt ca. 11 Jahre gegenüber Formaldehyd exponiert gewesen seien,
untersucht worden. Bei Arbeitsplatzmessungen seien die Formaldehydkonzentrationen
zwischen 1,5 und 5,3 ml/m
3
bestimmt worden. Andere schädliche Faktoren wie Staub
oder Chemikalien seien nicht vorhanden gewesen. Subjektive Beschwerden der Probanden
seien Kopfschmerzen, trockene Nasen, erschwerte Nasenatmung und Luftknappheit
gewesen. Während hier Probanden keine venoskopischen Veränderungen aufgewiesen
hätten, hätten 8 eine hypoplastische und 6 eine atrophische Schleimhaut gezeigt. Auch
weitere Studien (Holmström et al. 1989, Etling et al. 1985, 1987, 1988, Boysen et al.
1990 und Berge 1987) belegten histopathologische Veränderungen der Nasenschleimhaut
nach Formaldehydexposition. Eine klare quantitative Aussage, ab welchen
Expositionskonzentrationen und bei welchen Spitzenexpositionen es zu den
übereinstimmend berichteten histopathologischen Läsionen der Nase bei Formaldehyd-
exponierten Arbeitern komme, sei nicht möglich. Auch im Tierversuch seien vor allem bei
Ratten Nasenschleimhautveränderungen im Sinne einer Rhinitis nach
Formaldehydexpositionen gefunden worden (Montichello et al. 1991, Voterson et al. 1987,
Apelmann et al. 1988, Montichello et al. 1996, Voterson et al. 1989).
Der Senat ist wie der Sachverständige der Auffassung, dass hier ein so genannter
„Seltenheits-Fall“ vorliegt, bei dem zur Feststellung der generellen Geeignetheit der
Einwirkung spezieller Noxen zur Verursachung der betreffenden Krankheit auch auf
Einzelfallstudien, auf Erkenntnisse aus anderen Staaten sowie auf frühere Anerkennungen
entsprechender Krankheiten wie BKen nach § 551 Abs. 2 RVO bzw. § 9 Abs. 2 SGB VII und
damit zusammenhängende medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen
werden kann. Diese Auffassung wird im Übrigen auch von den Vorgutachtern Prof. Dr. T.
und Dr. H. geteilt. Aufgrund der vom Sachverständigen Prof. Dr. Sch. aufgeführten Studien
ist der Senat davon überzeugt, dass die Einwirkung von Formaldehyd in den
Konzentrationen, denen die Klägerin ausgesetzt war, generell geeignet ist, eine atrophische
Rhinitis zu verursachen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das LSG Niedersachsen
(a.a.O.) eine atrophe Schleimhautveränderung bei einem Pathologiepfleger aufgrund
Einwirkungen von Formaldehyd wie eine BK anerkannt hat. Auch die Vorgutachter Prof. Dr.
T. und Dr. H. teilen diese Auffassung.
Die Erkenntnisse, auf denen diese Einschätzung beruht, sind auch „neu“ im Sinne des § 9
Abs. 2 SGB VII. Grundsätzlich sind medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse nur dann
„neu“ im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB VII, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung über den
geltend gemachten Anspruch feststeht, dass sie bei der letzten Änderung der BKV noch
nicht berücksichtigt wurden. Dies ist stets der Fall, wenn die Erkenntnisse erst nach Erlass
der letzten BKV bzw. etwaiger Änderungsverordnungen bekannt geworden sind. Nicht
berücksichtigt vom Verordnungsgeber und somit „neu“ sind aber auch diejenigen
medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse, die trotz Vorhandensein bei Erlass der letzten
BKV oder einer Änderungsverordnung vom Verordnungsgeber entweder nicht zur Kenntnis
genommen oder nicht erkennbar geprüft worden sind. Als neu in diesem Sinne gelten
daher solche medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht mehr, die nach erkennbarer
Prüfung vom Verordnungsgeber als noch unzureichend bewertet wurden und deswegen
eine Aufnahme der betreffenden Krankheit in die BK-Liste scheitert (vgl. BSG, Urteil vom
04.06.2002 – B 2 U 20/01 R).
Die Studien, auf die der Sachverständige Prof. Dr. Sch. in seinem Gutachten hingewiesen
hat, sind zwar vor der letzten Änderung der BKV im Jahre 2002 veröffentlicht worden.
Dennoch sind sie als „neu“ im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII zu bewerten. Der Senat stützt
sich dabei auf die Aussage des Sachverständigen, wonach der Ärztliche
Sachverständigenbeirat im Bundesministerium für Arbeits- und Sozialordnung - Sektion
Berufskrankheiten - die Fragestellung einer Riechstörung bzw. chronisch-atrophischen
Rhinitis infolge von Formaldehydexposition bisher nicht erkennbar geprüft habe. Auch Dr.
H., der Mitglied des Sachverständigenbeirates ist, hat darauf hingewiesen, dass ihm keine
Fakten bekannt geworden seien, insbesondere aus den wissenschaftlichen Begründungen
zu den BKen, die darauf schließen ließen, dass sich der Verordnungsgeber mit der Frage
der irritativen und schädigenden Wirkung von Formaldehyd auf die Nasenschleimhaut bei
erheblichen Überschreitungen des Grenzwertes beschäftigt habe.
Eine erneute Rückfrage beim Sachverständigenbeirat, ob die Thematik „Erkrankungen
durch Formaldehyd“ beraten wurde bzw. es beabsichtigt ist, diese Frage aufzugreifen, ist
nicht notwendig.
Die Beklagte hat ihre dahingehende Anregung damit begründet, dass in einem solchen Fall
die Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII ausgeschlossen sei, da dem Verordnungsgeber
nicht vorgegriffen werden dürfe, wenn seine Beratungen noch im Gange seien (sog.
Sperrwirkung). Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 23.06.2005 – 1 BvR
235/2000) hat jedoch entschieden, dass bei Vorliegen der Entscheidungsreife eines
Antrages auf Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO und nunmehr nach § 9 Abs. 2 SGB VII
es unzulässig ist, die Entscheidung zu Lasten des Versicherten hinauszuzögern, denn der
Versicherte hat einen Anspruch auf die Anwendung des geltenden Rechts ohne sachfremde
Verzögerung. Eine Sperrwirkung bei aktiver Beratung durch den Verordnungsgeber kann
somit nicht angenommen werden (so auch Becker in Brackmann, § 9 SGB VII Rn. 325).
Im konkreten Fall der Klägerin ist es auch hinreichend wahrscheinlich, dass ihre chronisch-
atrophische Rhinitis durch die beruflich bedingte Einwirkung von Formaldehyd verursacht
worden ist. Ob dies auch für die Hyposmie gilt, kann der Senat offen lassen, da es im
vorliegenden Verfahren nur um die Anerkennung der chronischen Rhinitis und nicht auch
der Hyposmie wie eine BK geht.
Die Einwirkung von Formaldehyd (Konzentration bis zu 7,2 mg/m
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Atemluft) ist auch trotz
des Zigarettenkonsums (5 Zigaretten/Tag) als wesentliche Ursache für die Erkrankung zu
werten. Insoweit hat der Sachverständige Prof. Dr. Sch. ausgeführt, auch in der Zigarette
sei Formaldehyd enthalten, wobei sich die diesbezüglichen Konzentrationen im µg-Bereich
befänden und somit um Größenordnungen unter der am Arbeitsplatz gemessenen
Konzentration in mg (Faktor 1.000). Weitere chemisch-irritative Stoffe seien in dem
Zigarettenrauch enthalten. Deren Konzentration (z.B. Acrolein, Ammoniak) läge in der
gleichen Größenordnung wie die Formaldehydkonzentration in der Zigarette. Selbst unter
Aufsummierung sämtlicher Gefahrenstoffe mit gleichem Wirkungscharakter in der
Zigarette liege die Belastung durch den Zigarettenkonsum um Faktoren niedriger als die
am Arbeitsplatz. Dies liege daran, dass die Konzentration weiterer chemisch-irritativer
Stoffe im Zigarettenrauch ebenso im µg-Bereich pro Zigarette enthalten sei. Selbst bei
Aufsummierung der 5 am häufigsten vorkommenden Stoffe in der Zigarette käme man zu
einer Belastung durch den Zigarettenrauch, die mit nicht mehr als etwa 500 µg pro
Zigarette anzunehmen wäre. Auch diese Summen-Konzentration liege bei einem
berücksichtigten Rauchkonsum von 5 Zigaretten am Tag und vollständiger Aufnahme weit
unterhalb der am Arbeitsplatz aufgenommenen Formaldehyd-Konzentration im mg-
Bereich. Daher sei die Formaldehyd-Konzentration am Arbeitsplatz der Versicherten als
ursächlich für die Erkrankung anzusehen. Das Zigarettenrauchen stelle eine untergeordnete
Teilursächlichkeit dar.
Der Senat hat keine Bedenken, sich den überzeugenden und widerspruchsfreien
Ausführungen des Sachverständigen anzuschließen. Mithin ist die chronisch-atrophische
Rhinitis wie eine BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen. Die MdE wird vom
Sachverständigen in Übereinstimmung mit Prof. Dr. T. auf unter 20 v.H. eingeschätzt. Eine
Verletztenrente kommt somit nicht in Betracht, wurde von der Klägerin aber auch nicht
beantragt.
Die Berufung hat somit teilweise Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Dabei geht der
Senat davon aus, dass die Urteile des BSG zur Sperrwirkung durch den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts (a.a.O.) überholt sind.