Urteil des LSG Saarland vom 18.11.2009

LSG Saarbrücken: arbeitsentgelt, vergütung, bereitschaftsdienst, unfallversicherung, tarifvertrag, anpassung, anteil, rente, gerichtsakte, berufsausbildung

LSG Saarbrücken Urteil vom 18.11.2009, L 2 U 27/07
Gesetzliche Unfallversicherung - Höhe des Jahresarbeitsverdienstes gem § 90 Abs 2 SGB 7
- tarifliches Entgelt: keine Berücksichtigung des Bereitschaftsdienstes gem BAT § 15 Abs 6a
- Krankenhausarzt
Leitsätze
Bei der Ermittlung des Jahresarbeitsverdienstes nach § 90 Abs. 2 SGB VII sind Vergütungen
für Bereitschaftsdienst nicht zu berücksichtigen.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland
vom 13.03.2007 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit steht die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes (JAV), der der Verletztenrente der
Klägerin zu Grunde zu legen ist.
Die am 1967 geborene Klägerin erlitt am 07.11.1992 während ihres Medizinstudiums im
Rahmen des Hochschulsportes einen Unfall, bei dem sie sich das linke Knie verletzte (Riss
vorderes Kreuzband). Zum Zeitpunkt des Unfalls war die Klägerin ledig und kinderlos.
Durch den Unfall verzögerte sich das Studium nicht. Die Approbation wurde ihr am
01.12.1995 erteilt. Ab dem 01.01.1996 war sie als Assistenzärztin in der Klinik für Herz-
Thorax-Chirurgie der S.-Kliniken V. tätig; die Bezahlung erfolgte nach dem
Bundesangestelltentarifvertrag (BAT).
Nachdem die Beklagte zunächst vorläufig eine Rente unter Zugrundelegung einer
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. und eines JAV in Höhe von 25.200,00
DM/26.321,40 DM (Bescheid vom 22.10.1993) zahlte, stellte sie die Zahlung der Rente ab
Oktober 1994 ein (Bescheid vom 26.08.1994).
Nach Stellung eines Verschlimmerungsantrages (vom 06.11.2002) lehnte die Beklagte
zunächst die Zahlung einer Verletztenrente weiterhin ab. In Ausführung eines gerichtlichen
Vergleiches bewilligte sie mit Bescheid vom 25.07.2005 eine Verletztenrente nach einer
MdE von 20 v.H. ab dem 01.11.2002. Dabei wurde zunächst ein JAV von 27.124,20
DM/13.868,39 EUR zu Grunde gelegt.
Anschließend stellte die Beklagte eine Berechnung des JAV nach § 90 Siebtes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB VII) an. Diese Berechnung ergab bei Zugrundelegung des § 90 Abs.
1 SGB VII einen JAV zum 01.07.1996 in Höhe von 35.890,48 EUR, während die
Berechnung nach § 90 Abs. 2 SGB VII zu einem JAV zum 01.07.1996 in Höhe von
37.952,09 EUR führte.
Mit Bescheid vom 28.03.2006 änderte die Beklagte den Bescheid vom 25.07.2005
dahingehend ab, dass der JAV auf 40.952,10 EUR gemäß § 90 Abs. 2 SGB VII erhöht
wurde. Der JAV wurde dabei wie folgt berechnet:
Beruf:
Alterssteigerung:
Ärztin
29. Lebensjahr (= 02.06.1996)
Tarifliches Entgelt (Stand: 07.11.1992)
monatlich
5.113,69 DM
jährlich
61.364,28 DM
Weihnachtsgeld
5.113,69 DM
Urlaubsgeld
500,00 DM
sozialversicherungspflichtiger Anteil des
Beitrags zur Zusatzversorgung
1.476,69 DM
Jahresarbeitsverdienst
68.454,66 DM / 35.000,31 EUR
Durch Rentenanpassungen errechne sich zum 01.07.2002 ein JAV von 40.952,10 EUR.
Zum 01.07.2003 betrage die JAV 41.378,00 EUR.
Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch mit der Begründung, es sei nicht berücksichtigt
worden, dass Krankenhausärzte auf Grund der Arbeitszeitregelung nach § 15 Abs. 6a BAT
tarifvertraglich verpflichtet seien, Bereitschaftsdienste zu leisten. Es handele sich dabei
nicht um Überstunden, sondern um Arbeit, zu der der Arzt tarifvertraglich verpflichtet sei.
Für das Jahr 1997 sei die Beklagte von einem JAV von 38.231,04 EUR ausgegangen.
Tatsächlich habe sie aber ein Einkommen im Jahr 1997 in Höhe von 100.243,00 DM
erzielt. Bringe man hiervon den erhöhten Anteil des Ortszuschlages wegen Heirat im
August 1997 von monatlich 91,55 DM in Abzug, so verbleibe ein Verdienst von 51.019,39
EUR. Allein im Jahr 1997 bestehe daher infolge der Bereitschaftsdienste eine Differenz von
12.788,35 EUR.
Mit Widerspruchsbescheid vom 22.08.2006, zugestellt am 25.08.2006, wies die Beklagte
den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die
Neuberechnung des JAV sei auf der Grundlage der Beschäftigung der Klägerin als
Assistenzärztin der „S.-Kliniken V.“ entsprechend dem zum Unfallzeitpunkt (07.11.1992)
gültigen Vergütungstarifvertrag der Gemeinde bei tarifvertraglich festgesetzter Einstufung
in BAT 2, Altersstufe 4 erfolgt. Dies sei nicht zu beanstanden. Bei einer Neuberechnung des
JAV nach § 90 SGB VII seien die individuellen Verhältnisse grundsätzlich außer Acht zu
lassen und auch im Tarifvertrag vorgesehene Zulagen, wie z.B. Entgelte für
Bereitschaftsdienste und Rufbereitschaften unabhängig von der tatsächlichen
Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses, entgegen der Auffassung der Klägerin
tatsächlich nicht zu berücksichtigen. Zudem verkenne die Klägerin, dass bei der
Neuberechnung des JAV nach § 90 Abs. 2 SGB VII das tarifvertragliche Entgelt aus dem
Unfalljahr, also 1992, maßgeblich sei. Dieses sei dann entsprechend den
Rentenanpassungsgesetzen bzw. Rentenanpassungsverordnungen zum 01.07. eines jeden
Jahres anzupassen. Ein Vergleich des so angepassten JAV zum 01.07.1997 mit dem
tatsächlich erzielten Entgelt der Klägerin sei daher überhaupt nicht möglich.
Die am 25.09.2006 erhobene Klage hat das Sozialgericht für das Saarland (SG) mit
Gerichtsbescheid vom 13.03.2007 abgewiesen. Dabei ist das SG der Rechtsauffassung
der Beklagten gefolgt.
Gegen den ihr am 23.03.2007 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am
23.04.2007 Berufung eingelegt.
Sie trägt vor, die Bereitschaftsdienste seien zu berücksichtigen, da diese gemäß den
tarifvertraglichen Regelungen zu erbringen seien. Zudem habe das SG übersehen, dass die
fiktiven Berechnungen und Ermittlungen nach § 90 SGB VII nur dann anzustellen seien,
wenn entweder überhaupt kein Einkommen vorliege oder ein unfallbedingt gemindertes
Einkommen. Werde hingegen die Ausbildung beendet und die entsprechende Tätigkeit
aufgenommen, sei das Entgelt für diese anzusetzen. Nach dem Normzweck des § 90 SGB
VII sei nur dann anhand des tariflichen oder ortsüblichen Entgelts der JAV anzupassen, wenn
dies für den Verletzten günstiger sei. Sei die tatsächliche Einkommenssituation des
Verletzten günstiger, sei der JAV nach den tatsächlichen Verhältnissen zu ermitteln.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom 13.03.2007
aufzuheben, den Bescheid vom 28.03.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 22.08.2006 abzuändern und die Beklagte zu
verurteilen, ihr eine Verletztenrente unter Zugrundelegung eines JAV 1997 von
51.019,39 EUR zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt den angefochtenen Gerichtsbescheid.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden
erklärt.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Mit Einverständnis der Beteiligten kann der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil
entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz ).
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Die Neufestsetzung des JAV richtet sich gemäß § 214 Abs. 2 S. 1 SGB VII nach den
Vorschriften des SGB VII über den JAV (§§ 81 bis 93 SGB VII), weil Streitgegenstand eine
Neufestsetzung des JAV nach Inkrafttreten des SGB VII nach § 90 SGB VII ist.
Die Beklagte hat den JAV zutreffend nach § 90 Abs. 2 SGB VII ermittelt (dazu 1). Die
Berechnung des JAV nach § 90 Abs. 2 SGB VII ist für die Klägerin auch günstiger als die
Berechnung nach § 90 Abs. 1 SGB VII (dazu 2).
1. Haben die Versicherten zur Zeit des Versicherungsfalls das 30. Lebensjahr noch nicht
vollendet, wird, wenn es für sie günstiger ist, der JAV jeweils nach dem Arbeitsentgelt neu
festgesetzt, das zur Zeit des Versicherungsfalls für Personen mit gleichartiger Tätigkeit bei
Erreichung eines bestimmten Berufsjahres oder bei Vollendung eines bestimmten
Lebensjahres durch Tarifvertrag vorgesehen ist; besteht keine tarifliche Regelung, ist das
Arbeitsentgelt maßgebend, das für derartige Tätigkeiten am Beschäftigungsort der
Versicherten gilt (§ 90 Abs. 2 S. 1 SGB VII). Es werden nur Erhöhungen berücksichtigt, die
bis zur Vollendung des 30. Lebensjahrs vorgesehen sind (Satz 2).
Da die Klägerin zur Zeit des Versicherungsfalles erst 25 Jahre alt war und somit das 30.
Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, ist § 90 Abs. 2 SGB VII anwendbar. Zu ermitteln ist
das tarifliche Entgelt einer Ärztin, die das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, zum
Zeitpunkt des Unfalls, also dem 07.11.1992. Dieses Entgelt hat die Beklagte zutreffend in
ihrem Bescheid, auf den insoweit Bezug genommen wird, mit 68.454,66 DM (=
35.000,31 EUR) errechnet.
Die dagegen erhobenen Einwände der Klägerin greifen nicht durch. Zu Recht hat die
Beklagte die Vergütung für Bereitschaftsdienste nicht berücksichtigt. § 90 Abs. 2 SGB VII
lässt eine Anpassung nur an das Arbeitsentgelt zu, welches von der Vollendung eines
bestimmten Lebensalters oder dem Erreichen eines bestimmten Berufsjahres abhängig ist
(vgl. BSG, Urteil vom 16.12.1970 – 2 RU 239/68 = BSGE 32, 169, 172 zu der
Vorgängervorschrift § 573 Abs. 2 RVO). Deshalb müssen bei der Berechnung des JAV nach
dieser Vorschrift Lohnsteigerungen unberücksichtigt bleiben, bei denen es auf das
Lebensalter des Beschäftigten nicht ankommt. Zulagen, die lebensalter- oder
berufsunabhängig sind, wie Akkordlöhne und Leistungszulagen, bleiben somit
unberücksichtigt, da sie weder nach Berufsjahren noch altersbezogen gezahlt werden
(Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 90 Rdnr. 19; Dahm in
Lauterbach, Unfallversicherung, 4. Aufl., 17. Lieferung, April 2002, § 90 Rdnr. 29). Auch
eine mögliche Vergütung für Bereitschaftsdienste wird nicht wegen Erreichung eines
bestimmten Berufsjahres oder bei Vollendung eines bestimmten Lebensjahres gezahlt. Eine
solche Vergütung fällt vielmehr gemäß § 15 Abs. 6a BAT (in der Fassung des 66.
Änderungs-TV zum BAT vom 24.04.1991) nur an, wenn der Arbeitgeber
Bereitschaftsdienst anordnet. Zudem kann statt einer Vergütung des Bereitschaftsdienstes
auch ein Freizeitausgleich erfolgen (§ 15 Abs. 6a S. 5 BAT).
Dieser Auffassung des Senats steht auch nicht das Urteil des BSG vom 24.06.1981 (2 RU
11/80) entgegen. Dort hat das BSG es dahinstehen lassen, ob die Vergütung für den
Bereitschaftsdienst nicht bereits zu dem durch Tarif festgesetzten Entgelt gehöre; die
Einbeziehung der Vergütung für den Bereitschaftsdienst bei der Berechnung des JAV wurde
vielmehr damit begründet, dass dieses Entgelt ortsüblich sei. Gestützt hat das BSG seine
Entscheidung damals auf § 573 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO). Nach dieser
Vorschrift waren das tarifliche und das tatsächlich gezahlte ortsübliche Entgelt miteinander
zu vergleichen und der höhere Betrag in Ansatz zu bringen. Davon weicht jedoch § 90 Abs.
2 SGB VII ab. Danach ist das Arbeitsentgelt, das für derartige Tätigkeiten am
Beschäftigungsort der Versicherten gilt, nur dann maßgebend, wenn keine tarifliche
Regelung besteht. Bei Vorhandensein einer tarifvertraglichen Regelung ist somit die
Zugrundelegung des ortsüblichen Entgeltes ausgeschlossen.
Zu Unrecht beruft sich die Klägerin auch auf die Kommentierung von Ricke (in Kasseler
Kommentar, EL 50, 2006, § 90 Rdnr. 7). Dort heißt es, dass, wenn die Ausbildung
beendet und eine ihr entsprechende Tätigkeit aufgenommen wird, das Entgelt für diese
anzusetzen ist. Dies ist hier geschehen, da im Falle der Klägerin ihre Tätigkeit als Ärztin zu
Grunde gelegt worden ist. Keinesfalls kann dieser Kommentierung entnommen werden,
dass der von der Klägerin konkret erzielte Verdienst zu Grunde zu legen wäre, wie sich aus
dem Kontext der Kommentierung ergibt. Dies würde auch dem eindeutigen Wortlaut des
Gesetzes widersprechen. Ebenso findet die Annahme der Klägerin, dass, wenn die
tatsächliche Einkommenssituation des Verletzten günstiger sei, der JAV nach den
tatsächlichen Verhältnissen zu ermitteln sei, keine Grundlage im Gesetz.
2. Die Berechnung des JAV nach § 90 Abs. 2 SGB VII ist auch günstiger als die Berechnung
nach § 90 Abs. 1 SGB VII.
Tritt der Versicherungsfall vor Beginn der Schulausbildung oder während einer Schul- oder
Berufsausbildung der Versicherten ein, wird, wenn es für die Versicherten günstiger ist, der
JAV von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne den
Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre (§ 90 Abs. 1 S. 1 SGB VII). Der
Neufestsetzung wird das Arbeitsentgelt zu Grunde gelegt, das in diesem Zeitpunkt für
Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarifvertrag vorgesehen ist; besteht
keine tarifliche Regelung, ist das Arbeitsentgelt maßgebend, das für derartige Tätigkeiten
am Beschäftigungsort der Versicherten gilt.
Die Beklagte hat in einer Vergleichsberechnung bei Zugrundelegung des § 90 Abs. 1 SGB
VII den JAV mit 35.890,48 EUR (Zeitpunkt einer Anpassung zum 01.07.1996) beziffert.
Diese Berechnung ist nicht zu beanstanden und wird von der Klägerin auch nicht
angegriffen. Dieser JAV wäre geringer als der nach § 90 Abs. 2 SGB VII errechnete
(37.952,09 EUR, ebenfalls zum Zeitpunkt der Anpassung zum 01.07.1996).
Die Berufung ist somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.