Urteil des LSG Saarland vom 19.02.2008

LSG Saarbrücken: eingriff in grundrechte, wesentliche veränderung, verwaltungsakt, zukunft, anhörung, erlass, rechtsgrundlage, amtsblatt, umdeutung, nichtigkeit

LSG Saarbrücken Urteil vom 19.2.2008, L 5 BL 3/06
Verfassungswidrigkeit gesetzlicher Regelungen - Folgen für darauf gestützte
Verwaltungsakte
Leitsätze
1. Erklärt der Verfassungsgerichtshof des Landes eine gesetzliche Regelung, auf die der
Beklagte einen Bescheid gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X gestützt hat, für
verfassungswidrig und nichtig, hat dies zur Folge, dass die vom Beklagten herangezogene
Rechtsgrundlage rückwirkend entfällt.
2. Ein Gesetz, mit welchem der Landesgesetzgeber die zuvor vom Verfassungsgerichtshof
des Landes für nichtig erklärte Regelung inhaltsgleich rückwirkend in Kraft setzt, führt nicht
dazu, dass die einem Kläger gegenüber ergangenen, zum Zeitpunkt ihres Erlasses mangels
Rechtsgrundlage rechtswidrigen, Verwaltungsakte ohne erneute Verwaltungsentscheidung
rückwirkend rechtmäßig werden. Denn bei einer Änderung in den rechtlichen Verhältnissen,
die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, ist
grundsätzlich eine Umsetzung durch die Verwaltung erforderlich; einen Selbstvollzug des
Gesetzes gibt es dagegen nicht.
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das
Saarland vom 21. Juli 2006 und der Bescheid des Beklagten vom 22. März 2005 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 2005 aufgehoben.
2. Auf die Klage wird der Bescheid des Beklagten vom 05. Dezember 2005 aufgehoben.
3. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Rechtszüge.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe der dem Kläger ab dem 01. April 2005 zustehenden
Blindheitshilfe nach dem Saarländischen Gesetz Nr. 761 über die Gewährung einer
Blindheitshilfe vom 02. Juli 1962 (BliHiG), zuletzt geändert durch Gesetz Nr. 1594 vom 21.
Juni 2006 (Amtsblatt des Saarlandes vom 13. Juli 2006, S. 930).
Mit Bescheid vom 04. März 1996 gewährte der Beklagte dem Kläger erstmals ab dem 01.
Januar 1996 Blindheitshilfe; durch Urteil des Sozialgerichts für das Saarland (SG) vom 04.
März 1998 (Az S 12 V 506/96) wurde der Beklagte verurteilt, die Blindheitshilfe bereits ab
dem Monat Mai 1995 zu gewähren. Mit mehreren Folgebescheiden erhöhte der Beklagte
jeweils den Zahlbetrag der dem Kläger zustehenden Blindheitshilfe, zuletzt mit Bescheid
vom 13. Juni 2003 auf monatlich 585,00 Euro.
Bescheid vom 23. März 2005
eine monatliche Blindheitshilfe in Höhe von 470,00 Euro. Zur Begründung führte er aus,
dass gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs –
Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) ein Verwaltungsakt, der
laufende Leistungen gewähre, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben sei, soweit in den
bei seinem Erlass vorliegenden rechtlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung
eingetreten sei. Die dem Kläger auf Grund früherer Bescheiderteilung gewährte
Blindheitshilfe habe ihre Grundlage in der bisher maßgeblichen Bestimmung des § 1 Abs. 2
BliHiG gehabt, wonach sich die Höhe der Blindheitshilfe nach § 67 Abs. 2 und 6 des
Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) in der jeweils geltenden Fassung (jetzt § 72 des
Zwölften Buchs des Sozialgesetzbuchs - Sozialhilfe - ) gerichtet habe. Der
insoweit einschlägige Betrag habe sich zuletzt auf 585,00 Euro belaufen.
§ 1 Abs. 2 Satz des BliHiG in der ab dem 01. April 2005 gültigen Fassung bestimme, dass
sich dieser Betrag nunmehr auf 470,00 Euro belaufe. In Anbetracht der damit gegebenen
Änderung der rechtlichen Verhältnisse sei von der Bestimmung des § 48 SGB X Gebrauch
zu machen und die ab dem 01. April 2005 neu festgesetzte Blindheitshilfe zu gewähren.
Der Beklagte wies darauf hin, dass neben der einkommens- und vermögensunabhängigen
Blindheitshilfe nach dem BliHiG ggf. ein (ergänzender) Anspruch auf Blindenhilfe nach § 72
SGB XII bestehen könne.
Widerspruch
30. März 2005, den weder der Kläger noch seine Prozessbevollmächtigten begründeten,
Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 2005
Dagegen hat der Kläger durch Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 22. August
Klage
Zur Begründung hat er ausgeführt, dass er die gesetzliche Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 1
BliHiG in der ab dem 01. April 2005 gültigen Fassung für verfassungswidrig halte, da es
keine hinreichende Begründung für die erhebliche Kürzung der Blindheitshilfe um 115,00
Euro monatlich gebe, die eine derart nachteilige Zurückstufung der Blinden rechtfertige.
Der Kläger sehe insbesondere den grundgesetzlich garantierten Vertrauensschutz und
seine Rechte aus Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verletzt.
Der Beklagte hat auf die geänderte Höhe der Blindheitshilfe gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1
BliHiG, welche durch Art. 5 des Gesetzes Nr. 1566 über die Haushaltsfinanzierung und
Haushaltssicherung 2005 vom 17. März 2005 (Amtsblatt vom 31. März 2005, S. 486)
erfolgt ist, verwiesen.
Bescheid vom 05. Dezember 2005
Blindheitshilfe ab dem 01. Januar 2006 auf 438,00 Euro. Diesem Bescheid war eine
Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. In einem Schreiben vom 08. Februar 2006 hat der
Beklagte dagegen die Auffassung vertreten, dieser Bescheid werde gemäß § 96 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des anhängigen Verfahrens.
Mit Verfügung vom 11. April 2006 hat das SG den Beklagten um Überprüfung der
angefochtenen Bescheide im Hinblick auf den Beschluss des Verfassungsgerichtshofes des
Saarlandes (VerfGH) vom 13. März 2006, mit welchem dieser u. a. Art. 5 des Gesetzes
Nr. 1566 für nichtig erklärt hat, gebeten.
Der Beklagte hat darauf hingewiesen, dass die Landesregierung das allein aus formalen
Gründen für nichtig erklärte Gesetz erneut und unverändert dem Saarländischen Landtag
zuleiten werde und dass dieses Gesetz rückwirkend zum 01. April 2005 in Kraft treten
werde. Es sei daher sinnvoll, das anhängigen Verfahren bis zur Verabschiedung des
Gesetzes zum Ruhen zu bringen.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 21. Juli 2006 die
Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Beklagte die Gewährung
der Blindheitshilfe ab dem 01. April 2005 zu Recht auf 470,00 Euro festgesetzt habe.
Zwar sei die maßgebliche Bestimmung des § 1 Abs. 2 BliHiG durch Beschluss des VerfGH
aus formalen Gründen für verfassungswidrig erklärt worden und könne daher zur
Begründung des angefochtenen Bescheides nicht mehr herangezogen werden. Materiell-
rechtlich sei der Bescheid des Beklagten gleichwohl nicht zu beanstanden, da der Landtag
des Saarlandes am 21. Juni 2006 eine neue Fassung des Gesetzes erlassen und
rückwirkend zum 01. April 2005 die monatliche Blindheitshilfe auf 470,00 Euro festgesetzt
habe. Die Verfassungsmäßigkeit des neu geänderten BliHiG habe der Kläger nicht gerügt.
Gegen diesen Gerichtsbescheid, der dem Kläger am 22. August 2006 zugestellt worden
ist, hat dieser mit Schriftsatz vom 05. September 2006, am selben Tag beim
Berufung
Zur Begründung hat er an seiner Auffassung, die ab 01. April 2005 erfolgte Kürzung der
Blindenhilfe von 585,00 Euro auf 470,00 Euro sei verfassungswidrig, festgehalten. So habe
der VerfGH festgestellt, dass diejenige Fassung des BliHiG, auf die der Beklagte den
angefochtenen Bescheid gestützt habe, bereits aus formalen Gründen verfassungswidrig
gewesen ist und daher zur Begründung des angefochtenen Bescheides nicht mehr hätte
herangezogen werden können, so dass die Klage bereits aus diesem Grunde begründet
sei. Im Übrigen hat er seine Ausführungen aus dem erstinstanzlichen Verfahren wiederholt.
Der Kläger beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom 21.
Juli 2006 sowie den Bescheid des Beklagten vom 22. März 2005 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 2005
aufzuheben,
2. den Bescheid des Beklagten vom 05. Dezember 2005
aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und die gegen den Bescheid vom 05.
Dezember 2005 gerichtete Klage abzuweisen.
Er verteidigt die angefochtene Entscheidung und führt zu Begründung aus, dass eine
Verfassungswidrigkeit des Gesetzes Nr. 1594 vom 21. Juni 2006 bisher nicht festgestellt
worden sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Verwaltungsakte der Beklagten mit dem Az: 607173 sowie der Gerichtsakte Bezug
genommen. Diese Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
I.
Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist sowohl der Bescheid des Beklagten vom 22.
März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 2005, mit welchem die
Blindheitshilfe des Klägers ab 01. April 2005 der Höhe nach geregelt wurde, als auch der
im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens ergangene Bescheid des Beklagten vom 05.
Dezember 2005, mit dem die Höhe der Blindheitshilfe des Klägers ab 01. Januar 2006
nochmals verringert wurde. Denn der letztgenannte Bescheid wurde gemäß § 96 Abs. 1
SGG Gegenstand des Verfahrens, da er den ursprünglichen Bescheid des Beklagten vom
22. März 2005 für die Zeit ab dem 01. Januar 2006 ersetzt. Zwar hat das SG den
Bescheid vom 05. Dezember 2005 offenkundig übersehen und daher bei seiner
Entscheidung nicht berücksichtigt; gleiches gilt für den Kläger, der die Aufhebung dieses
Bescheides im Verfahren der ersten Instanz nicht beantragt hat. In diesem Fall muss das
LSG über diesen Bescheid auf Antrag mitentscheiden (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
Kommentar zum SGG, Rz. 12 zu § 96 SGG; Urteil des BSG vom 17.11.2005, Az B
11a/11 AL 57/04, veröffentlicht in Breith. 2006, S. 792). Hierbei entscheidet das LSG nicht
auf die Berufung des Klägers, sondern auf seine Klage hin (vgl. Meyer-Ladewig u.a., a.a.O.
Rz. 7 zu § 96).
Der Kläger hat im Termin zur mündlichen Verhandlung zu Recht sowohl hinsichtlich seiner
Berufung als auch seiner Klage jeweils isolierte Anfechtungsanträge gestellt. Denn durch die
von ihm begehrte Aufhebung der angefochtenen Bescheide des Beklagten gemäß § 48
SGB X wird der ursprüngliche Bescheid vom 13. Juni 2003, mit welchem dem Kläger eine
monatliche Blindheitshilfe von 585,00 Euro bewilligt wurde, wieder wirksam. Eine über die
Aufhebung der angefochtenen Bescheide hinausgehende Verpflichtung des Beklagten zur
Neuberechnung der Blindheitshilfe ist dagegen nicht erforderlich.
II.
Der Berufung war stattzugeben.
A.
Die Berufung ist zulässig, da form- und fristgerecht eingelegt und sich im Übrigen Bedenken
gegen ihre Zulässigkeit nicht ergeben haben.
B.
Die Berufung ist auch begründet.
Das SG hat zu Unrecht die Klage abgewiesen, da der Bescheid des Beklagten vom 22.
März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 2005 rechtswidrig ist
und den Kläger in seinen Rechten gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG verletzt.
Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft
aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass
eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung
eintritt. Dabei beurteilt sich die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungsbescheides nach der
Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seines Erlasses (vgl. Steinwedel in: Kasseler
Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Rz. 11 zu § 48 SGB X).
Zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 23. März 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 2005 lag eine wesentliche Veränderung in den
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen nicht vor.
Vergleichsmaßstab ist dabei der Bescheid vom 13. Juni 2003 (Bl. 112 VA), mit welchem
der Beklagte dem Kläger die Blindheitshilfe ab 01. Juli 2003 auf monatlich 585,00 Euro
erhöht hatte. Zwar stützt der Beklagte die angefochtenen Bescheide auf § 1 Abs. 2 Satz 1
BliHiG in der durch Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 1566 über die Haushaltsfinanzierung
und Haushaltssicherung 2005 vom 17. März 2005 geltenden Fassung, wonach die
Blindheitshilfe ab 01. April 2005 auf monatlich 470,00 Euro und ab 01. Januar 2006 auf
monatlich 438,00 Euro reduziert worden war. Dies stellte jedoch zum Zeitpunkt der
Entscheidung des Beklagten keine gültige Rechtsgrundlage für die belastenden
Verwaltungsakte des Beklagten dar, da Art. 5 des Gesetzes Nr. 1566 mit Beschluss des
verfassungswidrig
wurde. Die Entscheidung des VerfGH hat zur Folge, dass die vom Beklagten
herangezogene Rechtsgrundlage für die angegriffenen Bescheide rückwirkend entfallen ist.
Denn die Entscheidungen des VerfGH binden gemäß § 10 Abs. 1 des Gesetzes über den
Verfassungsgerichtshof (VerfGHG) alle saarländischen Gerichte und Verwaltungsbehörden.
Darüber hinaus hat die Entscheidung des VerfGH über die Nichtigkeit einer Vorschrift
Gesetzeskraft
Satz 1 VerfGHG, dass vorbehaltlich einer besonderen gesetzlichen Regelung die nicht mehr
anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer als nichtig festgestellten Rechtsvorschrift
beruhen, unberührt bleiben. Ein solcher Fall liegt hier jedoch gerade nicht vor. Denn der
Kläger hat die Entscheidungen des Beklagten mit den entsprechenden Rechtsbehelfen
angefochten, so dass sich die Feststellung der Nichtigkeit der hier einschlägigen
Gesetzesfassung in der zuvor dargestellten Art und Weise auswirkt. Damit lag zum
Zeitpunkt des Erlasses der angegriffenen Bescheide eine wesentliche Änderung in den
rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vom
13. Juni 2003 vorgelegen haben, nicht vor. Denn durch die Feststellung der Nichtigkeit des
Änderungsgesetzes konnte erneut die bis dahin gültige Regelung des BliHiG, also in der
Fassung des Gesetzes Nr. 1484 zur Anpassung des Landesrechts an die Einführung des
Euro und zur Änderung von Rechtsvorschriften (Siebtes Rechtsbereinigungsgesetz – 7.
RBG) vom 07. November 2001 (Amtsblatt vom 07. Dezember 2001, S. 2158) Geltung
beanspruchen. Folglich bestanden die bei Erlass des Bescheides vom 13. Juni 2003
rechtlichen Verhältnisse
angegriffenen Bescheides vom 22. März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
unverändert
Etwas anderes ergibt sich auch nicht in Anbetracht der sich anschließenden Aktivitäten des
saarländischen Gesetzgebers. Zwar hat dieser durch das Gesetz Nr. 1594 eine mit der
rückwirkend
2005 bzw. zum 01. Januar 2006 in Kraft gesetzt; dies führt jedoch nicht dazu, dass die
gegenüber dem Kläger ergangenen, zum Zeitpunkt ihres Erlasses mangels
Rechtsgrundlage rechtswidrigen, Verwaltungsakte rückwirkend rechtmäßig wurden. Denn
bei einer Änderung in den rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes
Umsetzung durch die
Verwaltung
Steinwedel, a.a.O., Rz. 9 zu § 48 SGB X). Daran fehlt es vorliegend aber, da die
rechtswidrig - mangels Änderung in den rechtlichen Verhältnissen - erlassenen
Verwaltungsakte des Beklagten eben nicht durch ein rückwirkend in Kraft getretenes
Gesetz ohne erneute Verwaltungsentscheidung rechtmäßig werden. Denn § 48 SGB X
mit Wirkung für die Zukunft
mit Wirkung zum Zeitpunkt der
Änderung der Verhältnisse
Voraussetzungen erfolgen darf - andererseits. Für eine rückwirkende Aufhebung ist bei der
im vorliegenden Fall einzig in Betracht kommenden Alternative erforderlich, dass der
Betroffenen wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders
schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch
kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs.
1 Satz 2 Nr. 4 SGB X).
Nach dem rückwirkenden Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 1594 hätte der Beklagte dieses
Gesetz gegenüber dem Kläger umsetzen müssen. Hierfür hätte er den Bescheid vom 13.
Juni 2003 erneut gemäß § 48 SGB X mit Wirkung für die Zukunft aufheben müssen.
Darüber hinaus hätte er prüfen müssen, ob auch die Voraussetzungen für eine
rückwirkende Aufhebung vorgelegen hätten. Die bloße Bezugnahme auf das Gesetz Nr.
1594 reicht indessen nicht aus. Denn es liegen weder die Voraussetzungen für eine
Umdeutung des ursprünglichen Bescheides vom 23. März 2005 noch für das Auswechseln
der Begründung vor.
Gemäß § 43 Abs. 1 SGB X setzt die Umdeutung eines fehlerhaften Verwaltungsaktes in
einen anderen Verwaltungsakt voraus, dass er auf das gleiche Ziel gerichtet ist. § 43 Abs.
2 Satz 1 SGB X schließt eine Umdeutung u.a. dann aus, wenn die Rechtsfolgen für den
Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes. Da der
Verwaltungsakt vom 23. März 2005 die Höhe der dem Kläger zustehenden Blindheitshilfe
lediglich mit Wirkung für die Zukunft reduzierte, der Beklagte aber nach Inkrafttreten des
Gesetzes Nr. 1594 im Ergebnis eine rückwirkende Verringerung des Anspruchs des Klägers
vorgenommen hat, sind die Rechtsfolgen ungünstiger, so dass eine Umdeutung
ausscheidet.
Ein Auswechseln der Begründung war nicht möglich, weil hierdurch der Verwaltungsakt
nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung
beeinträchtigt werden darf (vgl. Urteil des BSG vom 29. Juni 2000, Az B 11 AL 85/99 R,
veröffentlicht in BSGE, S. 8 ). Dies war hier jedoch der Fall, da der Beklagte - anders als im
rückwirkende
Anpassung der Blindheitshilfe vorgenommen hat, ohne das Vorliegen der Voraussetzungen
des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X zu prüfen und gegenüber dem Kläger ausdrücklich
festzustellen. Folglich war dem Kläger jede Möglichkeit genommen, sich dagegen zu
verteidigen.
Nach alledem führt das rückwirkende Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 1594 nicht dazu, dass
die in Folge des Beschlusses des VGH vom 13. März 2006 rechtswidrigen Bescheide des
ohne erneute Verwaltungsentscheidung
rechtmäßig wurden. Dies folgt – wie dargelegt – bereits aus
verwaltungsverfahrensrechtlichen Gründen, so dass der Senat über die Frage, ob das
Gesetz Nr. 1594 in zulässiger Weise rückwirkend in Kraft gesetzt wurde, nicht zu befinden
hat, da dies nicht entscheidungserheblich ist. Ebenso wenig hat er über die vom Kläger
aufgeworfene Frage, ob die Kürzung der Blindheitshilfe von 585,00 Euro auf 470,00 Euro
bzw. 438,00 Euro verfassungsgemäß ist, zu entscheiden. Da diese gesetzliche Regelung
aus den zuvor dargelegten Gründen im Verhältnis des Beklagten zum Kläger bisher nicht
wirksam umgesetzt worden ist, kann auch ein Eingriff in Grundrechte des Klägers nicht
vorliegen.
Da der Bescheid des Beklagten vom 23. März 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 2005 rechtswidrig ist, war dieser ebenso wie der
Gerichtsbescheid des SG aufzuheben. Damit ist der ursprüngliche Bewilligungsbescheid
vom 13. Juni 2003 wieder in Kraft, eine darüber hinaus gehende Verpflichtung des
Beklagten zur Neuberechnung der dem Kläger zustehenden Blindheitshilfe ist dagegen nicht
erforderlich.
III.
Aus den zuvor dargelegten Gründen ist auch der Bescheid des Beklagten vom 05.
Dezember 2005 rechtswidrig, so dass der Kläger auch durch diesen beschwert ist. Denn
auch insoweit fehlt es wegen des Beschlusses des VerfGH vom 13. März 2006 an einer
wesentlichen Änderung der rechtlichen Verhältnisse.
Hinzu kommt, dass der Bescheid vom 05. Dezember 2005 auch deshalb rechtswidrig ist,
weil er ohne die gemäß § 24 Abs. 1 SGB X erforderliche Anhörung ergangen ist. Insoweit
kann dahingestellt bleiben, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Absehen von
der Anhörung gemäß § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X (gleichartige Verwaltungsakte in größerer
Zahl) vorgelegen haben. Denn während die Behörde nach § 24 Abs. 1 SGB X zur Anhörung
Ermessen
abzusehen
Zweifelsfall stets tun (vgl. Krasney in: Kasseler Kommentar, Rz. 31 zu § 24 SGB X; Urteil
des BSG 26.09.1991, Az 4 RK 4/91, veröffentlicht in BSGE 69,247). Weder der streitige
Bescheid noch das Vorbringen des Beklagten vor dem SG und dem LSG enthalten
Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte überhaupt eine Ermessensentscheidung im Sinne
von § 24 Abs. 2 SGB getroffen hat. Die somit notwendige Anhörung hat er auch nicht
gemäß § 41 Abs. 2 SGB X nachgeholt.
Da der Bescheid vom 05. Dezember 2005 rechtswidrig ist, war er auf die isolierte
Anfechtungsklage hin aufzuheben mit der Folge, dass es bei der bis dahin erfolgten
Regelung durch den Bescheid des Beklagten vom 13. Juni 2003 verbleibt.
Der Beklagte wird nunmehr in einem neuen Verwaltungsverfahren gemäß § 48 SGB X
unter Berücksichtigung von § 24 SGB X darüber zu entscheiden haben, ob der Bescheid
vom 13. Juni 2003 lediglich mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit
aufzuheben ist. Dabei wird er insbesondere zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen des §
48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 vorliegen. In diesem Zusammenhang gibt der Senat zu bedenken,
Verletzung der erforderlichen Sorgfalt in besonders
schwerem Maße
Grundlage der Anspruch des Klägers auf die Gewährung von Blindheitshilfe in Höhe von
monatlich 585,00 Euro teilweise in Wegfall gekommen war, für verfassungswidrig und
nichtig erklärt hat, spricht nach Auffassung des Senates vieles dafür, dass der Kläger
jedenfalls bis zur Entscheidung des Gesetzgebers, eine inhaltsgleiche Vorschrift rückwirkend
in Kraft zu setzen, darauf vertrauen durfte, Anspruch auf Blindheitshilfe in der bisherigen
Höhe zu haben. Der Senat hat daher erhebliche Bedenken, dass die Voraussetzungen für
rückwirkende
Juni 2003 vorliegen. Selbst wenn der Beklagte dies gleichwohl bejahen sollte, hätte er
sodann zu prüfen, ob ein atypischer Fall vorliegt mit der Folge, dass er hinsichtlich der
Entscheidung, ob der Verwaltungsakt rückwirkend zurückgenommen wird oder nicht, sein
pflichtgemäßes Ermessen auszuüben hätte.
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.
Gründe, nach § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.