Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 17.02.2011

LSG Rpf: treu und glauben, firma, fehlerhafte rechtsmittelbelehrung, versicherungspflicht, verwirkung, arbeitsentgelt, bekanntgabe, ermessensausübung, auflage, eltern

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz
Urteil vom 17.02.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Speyer S 7 KR 442/07
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 5 KR 9/10
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 27.11.2009 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Umstritten ist, ob die Beklagte zu Recht einen Bescheid zurückgenommen hat, in dem sie festgestellt hatte, dass der
Kläger in der Zeit vom 1.7.1986 bis zum 30.9.2000 nicht sozialversicherungspflichtig gewesen sei.
Der 1964 geborene Kläger war seit 1981 bei der früheren Firma A KG tätig. Dieses Unternehmen, das seit 1926 in
unterschiedlicher Rechtsform als Familienunternehmen betrieben worden war, handelte nach Angaben des Klägers mit
Werkzeugen, Maschinen und Baubeschlägen. Im Gewerberegister war das Unternehmen wie folgt bezeichnet:
"Eisenwaren-, Haushaltswaren-, Waffen-, Munitions- und Sportartikelgeschäft (Einzelhandelsgeschäft) und
Eisenwarengroßhandlung". Inhaber des Unternehmens waren seit 1974 die Eltern des Klägers, H und E P.
Der Kläger absolvierte von 1981 bis 1983 in diesem Unternehmen eine Lehre und war in ihm auch nach seinem
Wehrdienst (1.4.1985 bis 30.6.1986) bis zum 30.9.2000 tätig. Seinen Angaben zufolge war er vor allem mit den
Bereichen Werbung bzw Marketing, Sortimentsgestaltung und strategische Ausrichtung des Unternehmens befasst
und für den Ein- und Verkauf sowie die Netzwerkadministration zuständig. Er war über das Betriebskonto
verfügungsberechtigt; ihm war mündlich Handlungsvollmacht erteilt. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag existierte nicht.
Nach seinen Angaben arbeitete der Kläger wöchentlich durchschnittlich 50 60 Stunden. Sein Arbeitsentgelt wurde ihm
auf ein privates Konto überwiesen. Hiervon wurde Lohnsteuer entrichtet. Das Arbeitsentgelt wurde als
Betriebsausgabe bei der KG verbucht. Im Jahre 2000 gründete der Kläger die Firma A GmbH (Beigeladene zu 3), an
der er mit dem Firmenmitarbeiter R T zu gleichen Teilen beteiligt ist. Die Firma A KG wurde am 31.12.2001 im
Gewerberegister abgemeldet.
Im Mai 2005 beantragte der Kläger bei der Beklagten die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung seiner Tätigkeit bei
der Firma A KG ua in der Zeit vom 1.7.1986 bis zum 1.10.2000. Er legte Unterlagen vor, ua eine von ihm und seinem
Vater unterschriebene Erklärung, wonach er aufgrund der begrenzten finanziellen Möglichkeiten der Firma auf einen
Teil seines Gehalts habe verzichten müssen.
Mit an den Kläger gerichtetem Bescheid vom 5.7.2005 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger ab dem 1.7.1986
selbstständig und damit nicht versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. Zur Begründung führte sie an: Der
Kläger habe durch Sonderrechte Gesellschafterbeschlüsse herbeiführen und verhindern können, sei vom
Selbstkontrahierungszwang nach § 181 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) befreit gewesen und habe als einziger im
Betrieb über die erforderlichen Branchenkenntnisse verfügt. In diesem Bescheid hieß es außerdem, gegen diesen
könne innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe schriftlich oder zur Niederschrift Widerspruch erhoben werden.
Seinen gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch nahm der Kläger im Januar 2006 zurück.
Mit Schreiben vom 6.2.2006 teilte die Beklagte dem Kläger mit: Die Begründung des Bescheides vom 5.7.2005 sei
unrichtig gewesen. Richtigerweise müsse sie lauten, dass der Kläger nicht an Weisungen des Betriebsinhabers
gebunden gewesen sei, seine Tätigkeit habe frei bestimmen können, ein Arbeitsvertrag nicht geschlossen worden sei
und er auf Gehaltsteile verzichtet habe.
Nachdem der Kläger in der Folgezeit bei der Beigeladenen zu 1 (Rentenversicherungsträger) die Erstattung der
Rentenversicherungsbeiträge beantragt hatte, bat diese die Beklagte unter dem 24.3.2006 um Übersendung des
Bescheides über das Nichtbestehen von Versicherungspflicht. Unter dem 29.3.2006 kam die Beklagte diesem
Ansinnen nach. Der Bescheid vom 5.7.2005 ging bei der Beigeladenen zu 1 am 3.4.2006 ein. Unter dem 10.4.2006
widersprach die Beigeladene zu 1 gegenüber der Beklagten der Auffassung, beim Kläger habe kein
sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorgelegen. Im Juni 2006 teilte die Beklagte dem Kläger mit,
wegen der abweichenden Beurteilung des Rentenversicherungsträgers sei eine weitere Prüfung notwendig; ua möge
der Kläger mitteilen, ob er aufgrund des Bescheides vom 5.7.2005 Vermögensdispositionen getroffen habe. Darauf
erklärte der Kläger, seit 2000 bestünden ein privater Krankenversicherungsvertrag sowie zwei
Altersversorgungsverträge; in Erwartung der Erstattung der zu Unrecht gezahlten Rentenversicherungsbeiträge habe
er Beteiligungszertifikate gezeichnet.
Mit am 19.2.2007 beim Sozialgericht (SG) Berlin eingegangenem Schreiben erhob die Beigeladene zu 1 gegen die
Beklagte Klage gegen den Bescheid vom 5.7.2005 (Az S 72 KR 722/07). Mit Bescheid vom 24.7.2007 nahm die
Beklagte nach Anhörung des Klägers den Bescheid vom 5.7.2005 zurück. Zur Begründung führte sie aus: Nach § 49
Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) könne der Kläger keinen Vertrauensschutz nach § 45 SGB X geltend
machen. Der Kläger habe im Zeitraum vom 1.7.1986 bis zum 30.9.2000 der Versicherungspflicht in der Kranken-,
Renten- und Pflegeversicherung sowie zur Bundesagentur für Arbeit unterlegen. Maßgebend sei, dass er seit dem
1.7.1986 weder am Stammkapital der KG beteiligt noch zu deren Geschäftsführer ernannt gewesen sei. "Kopf und
Seele" des Unternehmens sei der Vater des Klägers gewesen. Dem stehe nicht entgegen, dass der Kläger 1985
wegen eines Unfalls seines Vaters die alleinige Leitung des Unternehmens übernommen habe. Die Erklärung des
Klägers, er habe auf einen Teil seines Gehalts verzichtet, sei vor folgendem Hintergrund unplausibel: Das
Arbeitsentgelt des Klägers sei seit Beginn der Beschäftigung entsprechend der allgemeinen Gehaltsentwicklung
angepasst worden und von ursprünglich durchschnittlich 1.600, DM monatlich auf zuletzt 1.944, DM und 1999 sogar
2.058,46 DM angestiegen. Die regelmäßige Zahlung von Arbeitsentgelt in existenzsichernder Höhe spreche eindeutig
für die Eigenschaft des Klägers als Arbeitnehmer. Eine Unterschreitung des Tariflohns bzw ortsüblichen
Arbeitsentgelts sei im Übrigen bei Unternehmen mit familiären Bindungen nicht unüblich und stehe der
Versicherungspflicht als Arbeitnehmer nicht entgegen.
In dem Verfahren vor dem SG Berlin erklärte die Beklagte unter dem 24.7.2007, sie habe den angefochtenen
Verwaltungsakt gemäß § 49 SGB X zurückgenommen, weshalb die Beigeladene zu 1 klaglos gestellt sei. Die
Beigeladene zu 1 nahm unter dem 28.9.2007 dieses "Anerkenntnis" an. Die Beklagte hatte bereits zuvor den
Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 24.7.2007 durch Widerspruchsbescheid vom 30.8.2007
zurückgewiesen.
Mit seiner am 1.10.2007 beim SG Speyer erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt. Er hat ua
angegeben: Wegen eines Verkehrsunfalls seines Vaters habe er seinerzeit seine Grundausbildung bei der
Bundeswehr unterbrechen müssen, um die Firma zu führen; er habe deshalb sein angestrebtes Vollzeitstudium
aufgegeben und sich auf ein Abendstudium beschränkt; auch in der Folgezeit sei sein Vater "wegen notwendiger
Reha" immer wieder im Betrieb ausgefallen. Er habe stets Einsicht in die von seiner Mutter und dem Steuerberater
des Unternehmens geführten betrieblichen Unterlagen gehabt. Die Entscheidungen zur Einstellung und Entlassung
von Arbeitnehmern habe damals der "Familienrat" getroffen. Urlaub habe er nur genommen, wenn die wirtschaftliche
Situation des Unternehmens dies zugelassen habe und sein Vater ihn habe vertreten können. Die Zahlung von
Weihnachtsgeld und eine Kündigungsfrist seien nicht vereinbart gewesen. Auf die Frage des SG, ob bei
Arbeitsunfähigkeit das Arbeitsentgelt fortgezahlt worden sei, hat der Kläger geantwortet, er sei seinerzeit nicht krank
gewesen, weil er keine Zeit dafür gehabt habe.
Das SG hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 27.11.2009 den Kläger persönlich angehört und R T sowie die
Eltern des Klägers, H P und E P , als Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die
Sitzungsniederschrift des SG Bezug genommen. Durch Urteil vom 27.11.2009 hat das SG die Klage abgewiesen und
zur Begründung ausgeführt: Die im angefochtenen Bescheid erfolgte Rücknahme des Bescheides vom 5.7.2005 sei
rechtmäßig. Gemäß § 49 SGB X seien vorliegend § 45 Abs 1 bis 4 SGB X nicht anwendbar. Die Beigeladene zu 1 sei
als Rentenversicherungsträger Dritte iSd des § 49 SGB X. Deren Klage vor dem SG Berlin sei nicht verfristet
gewesen. Wegen des Fehlens einer zutreffenden Rechtsmittelbelehrung für die Beigeladene zu 1 in dem Bescheid
vom 5.7.2005 sei die Klage nach § 66 Abs 2 Satz 1 SGG innerhalb eines Jahres seit der Bekanntgabe des
Bescheides an die Beigeladene zu 1 zulässig gewesen. Da dieser Bescheid erst mit Schreiben vom 29.3.2006 der
Beigeladenen zu 1 übersandt worden sei, habe diese mit ihrer Klage vor dem SG Berlin die Klagefrist von einem Jahr
eingehalten. Der Bescheid vom 5.7.2005 sei insoweit rechtswidrig gewesen, als der Kläger zwischen dem 1.7.1986
und dem 30.9.2000 sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei. In Anbetracht der vom Kläger erzielten
Vergütungen komme eine familienhafte Mithilfe nicht in Betracht. Der Kläger sei auch kein Mitunternehmer gewesen,
da er keinerlei Unternehmerrisiko getragen habe und ihm monatliches Gehalt ausgezahlt worden sei. Nicht
nachvollziehbar sei die Angabe des Klägers, er habe regelmäßig auf einen Teil seines Gehalts verzichtet, zumal diese
Behauptung nicht weiter konkretisiert worden sei, insbesondere hinsichtlich des Umfangs und der Häufigkeit des
Gehaltsverzichts. Für ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis sprächen ferner folgende
Umstände: fehlende Beteilung des Klägers an dem Unternehmen; keine Gewährung von Darlehen, Bürgschaften oder
sonstigen Sicherheiten durch den Kläger; Überweisung des Entgelts auf ein privates Konto des Klägers, Verbuchung
als Betriebsausgabe und Entrichtung von Lohnsteuer. Auf eine selbstständige Tätigkeit weise neben dem
Nichtvorhandensein eines schriftlichen Arbeitsvertrags und fehlenden Urlaubs- und Entgeltfortzahlungsansprüchen
des Klägers allenfalls dessen hohe Eigenverantwortung hin. Letzteres sei jedoch bei Diensten höherer Art,
insbesondere bei familiärer Verbundenheit nicht ungewöhnlich. Auch die Angaben des Vaters des Klägers und von R
T als Zeugen sprächen dafür, dass im streitbefangenen Zeitraum die Selbstständigkeit des Klägers nur angestrebt
gewesen, nicht aber bereits vollzogen worden sei. Hinzu komme, dass der Vater des Klägers die Möglichkeit gehabt
habe, sein Weisungsrecht als Betriebsinhaber auszuüben. Die bloße Nichtausübung dieses Rechts sei rechtlich
unerheblich. Ermessensfehler im angefochtenen Bescheid seien nicht ersichtlich.
Gegen dieses seinen Prozessbevollmächtigten am 21.12.2009 zugestellte Urteil richtet sich die am 21.1.2010
eingelegte Berufung des Klägers, der vorträgt: Die Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, den Bescheid vom 5.7.2005
zurückzunehmen. § 49 SGB X greife vorliegend nicht ein. Denn die Beigeladene zu 1 habe den Bescheid vom
5.7.2005 nicht rechtzeitig angefochten. Die Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides vom 5.7.2005 sei im Verhältnis
zur Beigeladenen zu 1 nicht fehlerhaft gewesen. Aber selbst wenn zugunsten der Beigeladenen zu 1 die Jahresfrist
des § 66 Abs 2 SGG gegolten hätte, wäre die beim SG Berlin erhobene Klage verfristet gewesen. Es sei davon
auszugehen, dass die Beklagte so früh Kenntnis von dem Bescheid vom 5.7.2005 gehabt habe, dass zum Zeitpunkt
der Klageerhebung beim SG Berlin die Jahresfrist bereits abgelaufen gewesen sei. Ihm, dem Kläger, liege eine
Mitteilung der Beklagten vor, dass sie den Bescheid vom 5.7.2005 bereits am 17.2.2006 auf dem Postweg an die
Beigeladene zu 1 übersandt habe. Es sei davon auszugehen, dass die Beklagte der Beigeladenen zu 1 dieses
Schreiben am gleichen Tag per Fax zugeleitet habe. Jedenfalls sei aber zu diesem Zeitpunkt das Recht der
Beigeladenen zu 1, Klage gegen die Beklagte zu erheben, verwirkt gewesen. In einer Vereinbarung zwischen den am
gemeinsamen Beitragseinzug beteiligten Versicherungsträgern sei ua bestimmt gewesen: "Gegenüber dem
Fremdversicherungsträger soll grundsätzlich keine Rechtsbehelfsbelehrung erteilt werden." Es könne nicht angehen,
dass die beteiligten Versicherungsträger durch bewusstes Verhalten darauf hinwirken könnten, dass dem
Rentenversicherungsträger generell eine Frist von einem Jahr zur Anfechtung der Bescheide über die
Nichtfeststellung der Versicherungspflicht zur Verfügung stehe. Unabhängig davon sei die Berufung deshalb
begründet, weil im streitbefangenen Zeitraum kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vorgelegen
habe. In der Rechtsprechung werde hinsichtlich des Gesichtspunktes des Unternehmerrisikos vermehrt nicht nur auf
die finanzielle Haftung für das Unternehmen abgestellt (Hinweis auf SG München 27.4.2009 S 29 KR 186/06).
Der Kläger beantragt, das Urteil des SG Speyer vom 27.11.2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24.7.2007 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.8.2007 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor: Sie verweise auf ihr bisheriges Vorbringen. Im angefochtenen Bescheid sei wegen § 49 SGB X keine
Ermessensausübung erforderlich gewesen. Den am Beitragseinzug beteiligten Sozialversicherungsträgern könne nicht
vorgeworfen werden, sie hätten bewusst darauf hingewirkt, dass dem jeweils zuständigen Rentenversicherungsträger
keine Rechtsbehelfsbelehrung erteilt werde.
Die Beigeladene zu 1 schließt sich dem Vortrag und dem Antrag der Beklagten an und trägt weiter vor: Hinsichtlich
des Einwands der Verwirkung verweise sie auf das Urteil des SG Berlin vom 13.11.2008 (S 72 KR 530/07). Von einer
rechtsmissbräuchlichen Ausnutzung des § 66 Abs 2 SGG könne keine Rede sein (Hinweis auf mehrere
Entscheidungen des LSG Berlin-Brandenburg).
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten und der Beigeladenen zu 1 sowie die
Prozessakte verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der
Beratung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die nach §§ 143 f, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG – zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage
zu Recht abgewiesen.
Die Beklagte war berechtigt, den Bescheid vom 5.7.2005 nach § 45 SGB X zurückzunehmen. Dieser Bescheid war
von Anfang an rechtswidrig (dazu unten 1.). Da vorliegend § 49 SGB X eingreift, kann der Kläger nicht mit Erfolg
einen Bestandsschutz nach § 45 Abs 1 bis 4 SGB X geltend machen (dazu unten 2.). Für die Rechtmäßigkeit des
angefochtenen Bescheides ist es unschädlich, dass die Beklagte in ihm kein Ermessen ausgeübt hat (dazu unten 3.).
1. Der Bescheid vom 5.7.2005 (in der Begründung geändert durch Bescheid vom 6.2.2006) war von Anfang an
rechtswidrig, weil die Beklagte in ihm zu Unrecht festgestellt hat, dass die Tätigkeit des Klägers für die Firma A & G
KG kein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gewesen sei. Im streitbefangenen Zeitraum lag ein
sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vor, weshalb der Kläger in der Kranken-, Pflege- und
Rentenversicherung sowie zur Bundesagentur für Arbeit versicherungspflichtig war. Zur Begründung verweist der
Senat insoweit auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (§ 153 Abs 2 SGG). Der Vortrag des Klägers
im Berufungsverfahren rechtfertigt keine andere Entscheidung. Bei Gesamtschau aller rechtserheblicher
Gesichtspunkte überwiegen in ihrer Bedeutung eindeutig die Umstände, die für ein sozialversicherungspflichtiges
Beschäftigungsverhältnis sprechen. Der Kläger, der an der KG nicht beteiligt war, trug kein Unternehmerrisiko, und
seine Eltern als Unternehmer waren ihm gegenüber weisungsbefugt, auch wenn sie von dieser Befugnis nur
eingeschränkt oder überhaupt nicht Gebrauch gemacht haben mögen. Die Übernahme des Unternehmens durch den
Kläger war erst in Zukunft geplant. Dem Kläger wurde zudem regelmäßig Gehalt in nicht unerheblicher Höhe auf sein
privates Konto ausbezahlt; dieses Entgelt wurde von der KG als Betriebsausgabe verbucht und es wurde hiervon
Lohnsteuer entrichtet. Dafür, dass der Kläger teilweise auf die Auszahlung eines zuvor verbindlich vereinbarten
Gehalts verzichtet hat, liegen keine Anhaltspunkte vor, zumal kein schriftlicher Arbeitsvertrag geschlossen worden
war. Unabhängig davon würde auch ein teilweiser Gehaltsverzicht bei der im vorliegenden Fall erforderlichen
Gesamtwürdigung nicht ausreichen, um ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis zu verneinen; ein
irgendwie geartetes Unternehmerrisiko wäre mit einem teilweisen Gehaltsverzicht nicht verbunden gewesen. Dass der
Kläger in seiner Tätigkeit für die KG eine hohe Eigenverantwortung hatte und faktisch einen weitgehenden
Handlungsspielraum hatte, reicht nicht aus, um seine Tätigkeit als selbständige Tätigkeit zu qualifizieren.
Der Kläger war bis zum 30.9.2000 sozialversicherungspflichtig. Daran änderte die Gründung der Firma A GmbH
(Beigeladene zu 3) im Jahre 2000 (Abschluss des Gesellschaftsvertrags am 2.5.2000; Registereintragung am
3.7.2000) nichts. Die Tätigkeit des Klägers für die Firma A KG dauerte bis zum 30.9.2000 an, wie den Angaben des
Klägers zu entnehmen ist.
Dem Umstand, dass die Beklagte nicht befugt war, isoliert ein sozialversicherungspflichtiges
Beschäftigungsverhältnis festzustellen, sondern über das Vorliegen von Versicherungspflicht zu entscheiden hatte
(BSG 11.3.2009 - B 12 R 11/07 R, juris ; BSG 4.6.2009 - B 12 KR 31/07 R, juris; Merten, SGb 2010, 271), kommt
schon deshalb für den Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits keine Bedeutung zu, weil auch eine an sich rechtlich
nicht zulässige Feststellung eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses - hier durch den
Bescheid vom 5.7.2005 - in Bindungswirkung (§ 77 SGG) erwuchs und damit zu deren Beseitigung zurückgenommen
werden musste.
Der Kläger war in der Zeit vom 2.5.2000 bis zum 30.9.2000 nicht nach § 5 Abs 5 SGB V wegen der Ausübung einer
Tätigkeit für die Firma A GmbH versicherungsfrei in der gesetzlichen Krankenversicherung. Trotz der Gründung dieser
Gesellschaft bereits vor dem 30.9.2000 war der Kläger nicht gleichzeitig für beide Firmen tätig. Vielmehr war die Firma
A GmbH die Nachfolgefirma der Firma A KG, wobei sich die Tätigkeiten des Klägers in beiden Firmen deckten
(Angaben des Klägers im Schreiben vom 5.8.2008).
2. Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 45 SGB X. Die Anwendbarkeit dieser Vorschrift wird nicht
dadurch ausgeschlossen, dass nach § 49 SGB X die §§ 45 Abs 1 bis 4 SGB X nicht gelten. § 49 SGB X schließt
nicht die Möglichkeit der Aufhebung des rechtswidrigen Bescheides nach § 45 SGB X aus, sondern lässt lediglich den
für begünstigende Verwaltungsakte geltenden Bestandsschutz entfallen (Merten in Hauck/Noftz, SGB X, K § 49 Rn
13).
Nach § 49 SGB X greifen §§ 45 Abs 1 bis 4 SGB X nicht ein, wenn ein begünstigender Verwaltungsakt, der von
einem Dritten angefochten worden ist, während des Vorverfahrens oder während des sozialgerichtlichen Verfahrens
aufgehoben wird, soweit dadurch dem Widerspruch abgeholfen oder der Klage stattgegeben wird. Die
Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt.
a) Die Anfechtungsklage der Beigeladenen zu 1 gegen den Bescheid vom 5.7.2005 war zulässig und begründet (zu
diesem Erfordernis als Voraussetzung der Anwendung des § 49 SGB X vgl Merten in Hauck/Noftz, aaO Rn 10; zur
Begründetheit der Klage oben 1.). Die Anfechtungsklage der Beigeladenen zu 1 vor dem SG Berlin war nicht verfristet.
An sich hätte die Beigeladene zu 1 diesen Bescheid zwar binnen eines Monats nach dessen Bekanntgabe anfechten
müssen (§ 87 Abs 1 Satz 1 SGG). Der Beigeladenen zu 1 stand jedoch gemäß § 66 Abs 2 Satz 1 SGG eine Frist von
einem Jahr seit der ihr gegenüber erfolgten Bekanntgabe des Bescheides vom 5.7.2005 zur Verfügung. Denn der
Bescheid vom 5.7.2005 enthielt für sie keine zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung. In der Rechtsbehelfsbelehrung des
Bescheides vom 5.7.2005 wurde nur auf die Möglichkeit der Erhebung des Widerspruchs innerhalb eines Monats
hingewiesen. Für die Beigeladene zu 1 war aber nicht der Widerspruch, sondern unmittelbar die Klage zulässig (§ 78
Abs 1 Nr 3 SGG). Die Beigeladene zu 1 hat die ihr hiernach zustehende Jahresfrist eingehalten. Da die Klage beim
SG Berlin am 19.2.2007 (Montag) eingegangen ist, hätte die Beigeladene zu 1 die Jahresfrist nur dann versäumt,
wenn ihr der Bescheid vom 5.7.2005 bereits vor dem 17.2.2006 bekanntgegeben worden wäre. Diese Voraussetzung
ist aber nicht erfüllt. Zwar hat die Beklagte der Beigeladenen zu 1 den Bescheid vom 5.7.2005 bereits mit Schreiben
vom 17.2.2006 übersandt; ausweislich des Eingangsstempels ist dieses Schreiben jedoch erst am 23.2.2006 bei der
Beigeladenen zu 1 eingegangen. Dafür, dass die Beklagte das Schreiben vom 17.2.2006 mit dem Bescheid vom
5.7.2005 der Beigeladenen zu 1 zuvor durch Fax zugeleitet hatte, gibt es keine konkreten Hinweise, wie der Vertreter
des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat eingeräumt hat.
b) Die fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung war abstrakt geeignet, die Beigeladene zu 1 von der Klageerhebung innerhalb
eines Monats abzuhalten (zu diesem Erfordernis Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 66 Rn
12). Dies ist der Fall, wenn die unrichtigen Angaben in der Rechtsbehelfsbelehrung wie hier deren Informationswert
mindern (BSG 2.3.1995 - 7 BAr 196/94, SozR 3-1500 § 66 Nr 3). Ob für den Betroffenen - hier die Beigeladene zu 1 -
die an sich einzuhaltende Frist auf der Hand liegt (vgl Czybulka in Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Auflage, § 58 VwGO Rn
74) oder ihm sogar konkret bekannt ist, ist rechtlich unerheblich.
c) § 66 Abs 2 Satz 1 SGG ist nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) wegen Verwirkung
unanwendbar. Verwirkung tritt in der Regel nicht vor Ablauf der Jahresfrist ein (Kopp/Schenke, VwGO, 16. Auflage, §
74 Rn 20). In Ausnahmefällen kann zwar das Klagerecht bereits vor Ablauf der Jahresfrist verwirkt sein (Czybulka
aaO Rn 78). Voraussetzung hierfür ist aber, dass der Beteiligte, der das Klagerecht hat, nicht nur passiv abgewartet,
sondern konkreten Anlass zu der Annahme gegeben hat, er werde keinen Rechtsbehelf einlegen (Czybulka aaO mit
Hinweisen auf die Rechtsprechung im öffentlichen Baurecht). Daher genügt es für Verwirkung nicht, dass die
Einzugsstelle dem Rentenversicherungsträger üblicherweise keine Rechtsmittelbelehrung erteilt oder dies zwischen
den beteiligten Sozialversicherungsträgern sogar ausdrücklich vereinbart ist.
d) Zwar beschränkt sich der Anwendungsbereich des Grundsatzes von Treu und Glauben nicht ausnahmslos auf die
oben bei c) angeführten Fälle der Verwirkung. Auch unter diesem Gesichtspunkt verstößt jedoch die Anwendung der
Jahresfrist des § 66 Abs 2 Satz 1 SGG nicht gegen Treu und Glauben. Zwar begegnet die Vereinbarung der
Spitzenorganisationen der Sozialversicherung, dass dem Fremdversicherungsträger regelmäßig keine
Rechtsmittelbelehrung erteilt werden soll, in Anbetracht der grundsätzlichen Obliegenheit zur Erteilung einer solchen
(vgl § 66 SGG), grundlegenden rechtlichen Bedenken. Die Nichtanwendung einer gesetzlichen Vorschrift (hier: § 66
Abs 2 Satz 1 SGG) wegen des Grundsatzes von Treu und Glauben ist jedoch allenfalls in besonderen
Ausnahmefällen möglich, in denen die Verfolgung einer Rechtsposition dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht
Denkenden gänzlich widerspricht. Dies ist jedenfalls bei der vorliegend gegebenen Fallgestaltung nicht der Fall (im
Ergebnis ebenso LSG-Berlin-Brandenburg in ständiger Rechtsprechung, zB 23.7.2009 - L 1 KR 406/08). Die Beklagte
hatte die Beigeladene zu 1 vor der Erteilung des Bescheides vom 5.7.2005 nicht in das Verfahren einbezogen, obwohl
diese in derartigen Fallkonstellationen auf die Beteiligung besonderen Wert legt (vgl Bl 20 VA der Beigeladenen zu 1).
Jedenfalls bei einer solchen Fallgestaltung, bei welcher der Rentenversicherungsträger ohne vorherige Kenntnis der
Sachlage innerhalb eines Monats Klage erheben müsste, wenn § 66 Abs 2 Satz 1 SGG nicht angewandt würde,
kommt der Grundsatz von Treu und Glauben nicht zugunsten des Bürgers zur Anwendung.
3. Der angefochtene Bescheid ist nicht wegen fehlender Ermessensausübung rechtswidrig. § 49 SGB X dispensiert
lediglich von den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 SGB X, ohne dass damit eine Ermessensbetätigung
generell entbehrlich wäre (vgl Steinwedel in Kasseler Kommentar, § 49 SGB X Rn 8; Merten aaO Rn 14). Im
vorliegenden Fall hatte die Beklagte aber kein Ermessen auszuüben. In Verfahren, in denen es um die Feststellung
von Versicherungspflicht geht, ist das Ermessen der Einzugsstelle, den rechtswidrigen Bescheid zurückzunehmen,
jedenfalls dann auf Null reduziert, wenn keine besonderen Aspekte, insbesondere Vertrauensschutzgesichtspunkte
(zur Frage, ob diese im Rahmen einer Ermessensausübung in den Fällen des § 49 SGB X überhaupt
berücksichtigungsfähig sind, vgl Merten aaO), vorliegen, die eine andere Entscheidung rechtfertigen können (vgl zur
Ermessensreduzierung auf Null bei Anwendung des § 50 Verwaltungsverfahrensgesetz VwVfG
Bundesverwaltungsgericht - BVerwG - 8.11.2001 - 4 C 18/00, juris). Denn ansonsten wäre der gebotene Rechtsschutz
der Beigeladenen zu 1, die im öffentlichen Interesse für die Wahrung der Belange ihrer Versichertengemeinschaft
zuständig ist, nicht gesichert. Vorliegend ist nichts ersichtlich, was eine Ermessensentscheidung zugunsten des
Klägers hätte rechtfertigen können. Der Kläger durfte spätestens nach dem Erhalt des Schreibens der Beklagten vom
23.6.2006 nicht mehr damit rechnen, dass es bei der Feststellung im Bescheid vom 5.7.2005 verbleiben würde. Dafür,
dass er zwischen dem Bescheid vom 5.7.2005 und dem Erhalt des Schreibens vom 23.6.2006
Vermögensdispositionen getroffen hat, zu deren Rückgängigmachung er jetzt mit erheblichen nachteiligen
Folgewirkungen gezwungen wäre, gibt es keine Anhaltspunkte. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass
er sich wegen der Rücknahme des Bescheides vom 5.7.2005 von den von ihm erworbenen Beteiligungszertifikaten
mit Verlust trennen müsste.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision wird zugelassen. Denn die Fragen, ob bei einer Fallgestaltung wie der vorliegenden § 66 Abs 2 Satz 1
SGG unanwendbar und im Rahmen der Anwendung des § 45 SGB X das Ermessen auf Null reduziert ist, sind von
grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).