Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 19.06.2002

LSG Rpf: behinderung, alter, krampfadern, amt, jahreszeit, zusammensetzung, organisation, legitimation, bedürfnis, rechtsgrundlage

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz
Beschluss vom 19.06.2002 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Koblenz
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 4 SB 112/01
1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 16.5.2001 wird zurückgewiesen. 2.
Die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren trägt der Beklagte. 3. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Gründe:
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren über die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des
Nachteilsausgleichs G (erheblich gehbehindert).
Zuletzt mit Bescheid vom 31.1.1990 stellte das Versorgungsamt Koblenz bei der 1930 geborenen Klägerin ein Grad
der Behinderung (GdB) von 40 fest und bezeichnete die Behinderung entsprechend einer gutachterlichen
Stellungnahme des Dr. M als:
1. degenerative Veränderungen an der Wirbelsäule, an den Hüftgelenken und am rechten Kniegelenk, Schulter-Arm-
Syndrom links, Fußfehlform beidseits, Krampfadern an beiden Beinen,
2. Blutdrucksteigerung, Erkrankung der Atemwege.
Im März 1999 stelle die Klägerin einen Neufeststellungsantrag und verwies auf eine im Februar 1998 durchgeführte
Implantation einer Knie-TEP sowie auf schwere Atemnot bereits bei geringer körperlicher Belastung. Das Amt für
soziale Angelegenheiten Koblenz holte einen Befundbericht des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. G ein, der
weitere Befundunterlagen vorlegte. Entsprechend einer gutachterlichen Stellungnahme des Dr. H erhöhte das Amt für
soziale Angelegenheiten den GdB mit Bescheid vom 9.6.1999 auf 50 und bezeichnete die Behinderungen neu als:
1. degenerative Veränderungen beider Hüft- und Kniegelenke, TEP rechtes Kniegelenk, Krampfadern beider Beine,
Fußfehlform,
2. degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit Schulter-Arm-Syndrom,
3. Blutdrucksteigerung, Erkrankung der Atemwege.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, da der GdB auf 60 zu erhöhen sowie das Nachteilsausgleichs-Zeichen
G zu bewilligen seien. Zur Begründung legte sie ein Attest des Dr. G vor. Der Beklagte holte Befundberichte des
Internisten Prof. Dr. C sowie des Orthopäden Dr. W sowie eine sozialmedizinische Stellungnahme des
Medizinaldirektors K ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 9.12.1999 erhöhte der Beklagte den GdB auf 60 und wies
den Widerspruch im Übrigen hinsichtlich des Nachteilsausgleichs G zurück. Zugleich wurde die Behinderung neu
bezeichnet als:
1. degenerative Veränderungen beider Hüft- und Kniegelenke, TEP rechtes Kniegelenk, Krampfadern beider Beine,
Fußfehlform,
2. degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit Schulter-Arm-Syndrom,
3. Blutdrucksteigerung,
4. tracheobronchiale Instabilität.
Im vor dem Sozialgericht Koblenz durchgeführten Klageverfahren hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch
Beiziehung eines Entlassungsberichts über eine stationäre Heilbehandlung der Klägerin vom 3. bis 26.11.1999 im Ev.
und J Krankenhaus D -S sowie eines Gutachtens des Arztes für Chirurgie, Unfallchirurgie und Orthopädie Dr. W.
Der Sachverständige hat die Klägerin im Juli 2000 untersucht und in seinem Gutachten zusammenfassend
ausgeführt, die Klägerin leide unter geringen degenerativen Veränderungen beider Hüftgelenke, Ersatz des rechten
Kniegelenkes mit TEP, Fußfehlform, Bewegungseinschränkung beider Großzehengrundgelenke, Krampfaderbildung
(GdB 40), Fehlform der Wirbelsäule mit erheblichen degenerativen Veränderungen der unteren LWS, mäßiggradigen
der HWS (GdB 30) sowie Funktionseinschränkung beider Schultergelenke bei Rotatorenmanschettenschaden (GdB
20). Daneben bestünden eine Blutdrucksteigerung (GdB 20) und eine tracheobronchiale Instabilität (GdB 20). Der
Gesamt-GdB betrage 70. Es beständen zwar eine gewisse Minderbelastbarkeit und eine Gangstörung aufgrund der
Wirbelsäulenveränderungen und der degenerativen Veränderungen bzw des Ersatzes des rechten Kniegelenkes. Die
Klägerin werde aber für fähig gehalten, Wegstrecken, welche man in ihrem Alter üblicherweise zu Fuß zurücklege,
auch in ausreichender Zeit zu bewältigen, so dass der Nachteilsausgleich G nicht begründet werden könne. Stelle
man aber darauf ab, dass eine Gehstrecke von 2000 m in einer halben Stunde zurückgelegt werde, so könne die
Klägerin dieses Kriterium nicht erfüllen.
Mit Urteil vom 16.5.2001 hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, die Voraussetzungen für die
Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs G festzustellen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat
es im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe kein GdB von mehr als 60 zu, wobei von den Teil-Behinderungen
auszugehen sei, wie sie Dr. W genannt und mit Einzel-GdB-Werten vorgeschlagen habe. Da danach die Behinderung
der unteren Extremitäten mit einem GdB von 40 zu bewerten sei, wovon sowohl die Klägerin als auch der Beklagte
ausgingen, sei der GdB wegen der Teil-Behinderungen seitens der Wirbelsäule, der Blutdrucksteigerung und der
tracheobronchialen Instabilität auf 60 zu erhöhen. Zudem lägen die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich G
vor. Denn der Sachverständige Dr. W habe eindeutig festgestellt, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, eine
Gehstrecke von 2000 Metern in einer halben Stunde zurückzulegen. Wenn er die Voraussetzungen des
Nachteilsausgleichs "G" deshalb ablehne, weil das Kriterium der Wegstrecke von 2 Kilometern in einer halben Stunde
bei einer 70-jährigen nicht mehr anwendbar sei, könne dem nicht gefolgt werden. Ein gesunder durchschnittlicher 70-
jähriger sei ohne weiteres in der Lage, eine solche Wegstrecke in entsprechender Zeit zurückzulegen.
Am 20.7.2001 hat der Beklagte gegen das ihm am 25.6.2001 zugestellte Urteil Berufung eingelegt.
Der Beklagte trägt unter Bezugnahme auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. U vor, das Sozialgericht
habe das Gutachten des Dr. W fehlinterpretiert. Dr. W habe hinsichtlich der Gehfähigkeit zwar eine gewisse
Minderbelastbarkeit und eine Gangstörung festgestellt, jedoch keinesfalls eine wesentliche von dem Alter
abweichende Minderbelastbarkeit.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 16.5.2001 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, im Hinblick auf die massiven Veränderungen im Bereich der unteren Extremitäten sowie im
Wirbelsäulenbereich, vor allem im Lendenwirbelsäulenbereich sowie auch unter Berücksichtigung des Bluthochdrucks
und der Tracheobronchial-Instabilität sei sie nicht mehr in der Lage, eine Wegstrecke von 2000 m innerhalb einer
halben Stunde zurückzulegen.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines Befundberichts des Prof. Dr. C.
Im Übrigen wird zur Ergänzung Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen und die Klägerin betreffende
Verwaltungsakte des Beklagten (Az: 727054/5) sowie der Gerichtsakte, der Gegenstand der Beratung und
Entscheidungsfindung war.
II.
Der Senat entscheidet gemäß § 153 Abs 4 S 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss. Auf diese
Möglichkeit wurden die Beteiligten hingewiesen. Der Senat hält im vorliegenden Fall eine mündliche Verhandlung nicht
für erforderlich und die Berufung des Beklagten einstimmig für unbegründet. Das Sozialgericht hat den Beklagten zu
Recht verurteilt, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs G festzustellen.
Gemäß § 146 Abs 1 S 1 SGB IX ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit erheblich
beeinträchtigt und hat nach Maßgabe des § 145 SGB IX Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen
Personennahverkehr, wenn er infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge
von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne
Gefahren für sich oder andere im Ortsverkehr Wegstrecken zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß
zurückgelegt werden. Dies sind solche Entfernungen, für deren Überwindung normalerweise weder ein öffentliches
noch ein privates Verkehrsmittel in Anspruch genommen wird.
Die Länge dieser Wegstrecke ist weder gesetzlich noch durch zur Auslegung des Gesetzes heranzuziehende
Verwaltungsvorschriften geregelt. Wie lang eine Wegstrecke ist, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt wird,
hängt neben witterungs- und jahreszeitbedingten Umständen auch von den Örtlichkeiten und jeweiligen Gewohnheiten
ab. Daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass es in jedem Einzelfall auf die empirisch
festzustellende Gehgewohnheit des "normalen, nicht behinderten Durchschnittsbürgers" in der Nachbarschaft des
Schwerbehinderten ankommt. Da solche Gehgewohnheiten sich erfahrungsgemäß mit den Witterungsbedingungen
und Jahreszeiten ändern, würde die Feststellung der erheblichen Gehbehinderung von Ort zu Ort und Jahreszeit zu
Jahreszeit unterschiedlich sein. Die Legaldefinition des § 46 Abs 1 S 1 SGB IX kann daher nur so verstanden werden,
dass von einem Durchschnittswert auszugehen ist, der üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt wird.
Hierzu ist der Senat in ständiger Rechtsprechung und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG zu der
Auffassung gelangt, dass bei den derzeitigen Verhältnissen die üblicherweise im Ortsverkehr zu Fuß zurückgelegte
Strecke 2 Kilometer bzw 30 Gehminuten beträgt (BSG, Urteil vom 10.12.1987, Az: 9a RVs 11/87; Urteil des
erkennenden Senats vom 22.11.1988, Az: L 4 Vs 98/87, Anhaltspunkte 1996, S 165). Dabei kommt es weder auf die
Fähigkeit an, extreme Wegverhältnisse zu bewältigen, noch darauf, ob die Gehstrecke von 2000 Metern bzw 30
Minuten Dauer schmerzfrei zurückgelegt werden kann. Zumutbar sind auch technische Hilfsmittel wie ein Gehstock
oder orthopädisches Schuhwerk. Die Grenze ist jedoch dort zu ziehen, wo der Behinderte diese Wegstrecke nur noch
unter unzumutbar starken Schmerzen zurücklegen könnte (vgl. Urteil des Senats vom 5.9.1989, Az: L 4 Vs 42/88,
Wilrodt-Neumann, SchwbG 7. Auflage, § 60 Rdn 4).
Nach den Feststellungen des Dr. W im Gutachten vom 20.7.2000 kann die Klägerin Wegstrecken von 2000 Metern
nicht mehr innerhalb von 30 Minuten zurücklegen, wenngleich der Sachverständige dies dem Alter der Klägerin
zuzuschreiben scheint.
Denn behinderungsbedingt und damit nach dem SGB IX auszugleichen sind in der Regel nur solche Nachteile, die
einen gleichaltrigen Nichtbehinderten typischerweise nicht treffen (vgl z.B. Anhaltspunkte 1996, S. 29, BSG, SozR 3-
3870 § 4 Nr 18).
Des Weiteren ist auch zu beachten, dass nach den Anhaltspunkten (zur Rechtswirkung: vgl. BSG, SGB 1993, 579)
die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr
infolge einer Einschränkung des Gehvermögens als erfüllt anzusehen sind, wenn beim Behinderten sich auf die
Gehfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die
für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen (Anhaltspunkte, a.a.O., S 166), und dass bei einem niedrigeren GdB
an den unteren Gliedmaßen diese Voraussetzungen dann gegeben sein können, wenn sich die Teil-Behinderungen auf
die Gehfähigkeit besonders auswirken. Dies ist etwa möglich bei Versteifung des Hüft-, Knie- oder Fußgelenks in
ungünstiger Stellung oder bei einer arteriellen Verschlusskrankheit mit einem GdB von 40.
Diese Voraussetzungen für die Feststellung des Nachteilsausgleichs G nach den Anhaltspunkten liegen hier vor.
Denn wie sich aus dem Gutachten des Dr. W ergibt, dessen Befunde und Befundbewertung von den Beteiligten nicht
bestritten werden, ist alleine schon für die unteren Extremitäten der Klägerin in der Teil-Behinderung Nr. 1 ein GdB von
40 anzusetzen. Hinzu kommen die Funktionseinschränkungen und Beschwerden seitens der Wirbelsäule, wobei nach
den Feststellungen der Sachverständigen degenerative Veränderungen in mehreren Segmenten und eine Instabilität
im Segment L 4/S 5 besteht, während allerdings die Rumpfwirbelsäule in der Beweglichkeit nur gering eingeschränkt
ist. Dadurch ist die Klägerin in ihrer Beweglichkeit in erheblichem Maße eingeschränkt, wie sich aus dem Gutachten
des vom Sozialgericht gehörten Sachverständigen ergibt. Damit liegen Teil-Behinderungen und GdB-Werte vor, die
auch nach den Anhaltspunkten die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs G
begründen, wovon das Sozialgericht zu Recht ausgegangen ist.
Die von Dr. W aufgeworfene Frage, ob die von der Rechtsprechung entwickelten und in den Anhaltspunkten (a.a.O., S
165) aufgeführten Kriterien (Wegstrecke zu Fuß und notwendige Dauer) auch bei behinderten Menschen im Alter der
Klägerin noch Maßstab sein können, ist rechtlich unbeachtlich, da maßgeblich allein die Vorgaben sind, die die
Anhaltspunkte nennen (vgl z.B. BSG, SozR 3-3870 § 60 Nr 2). Das BSG und der erkennende Senat haben bereits
mehrfach entschieden, dass den Anhaltspunkten als antizipirten Sachverständigengutachten zwar keine Normqualität
zukommt. Sie wirken sich in der Praxis der Versorgungsverwaltung aber normähnlich aus. Als geschlossenes
Beurteilungsgefüge gewährleisten sie die nach Art 3 GG gebotene gleichmäßige Behandlung der Betroffenen und
entsprechen damit einem für die Rechtsanwendung und für die Praxis unabweisbaren Bedürfnis. Das
Regelungssystem der Anhaltspunkte entbehrt zwar einer demokratischen Legitimation insoweit, als es weder für die
Anhaltspunkte noch für die Organisation, das Verfahren und die Zusammensetzung des für die Anhaltspunkte
zuständigen Expertengremiums eine Rechtsgrundlage im Sinne eines materiellen Gesetzes gibt. Auf diesen
Missstand hat das BSG unter Hinweis auf das Rechtsstaatsprinzip in den o.g. Entscheidungen hingewiesen und den
Erlass einer Ermächtigungsgrundlage angemahnt. Die Beachtlichkeit der Anhaltspunkte im konkreten Verwaltungs-
und Gerichtsverfahren als antizipierte Sachverständigengutachten bis zur Schaffung einer gesetzlichen
Ermächtigungsgrundlage ergibt sich aber daraus, dass eine dem allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende
Rechtsanwendung im Rahmen des § 3 SchwbG/§ 2 SGB IX dann gewährleistet ist, wenn bei der Beurteilung der
verschiedenen Behinderungen gleiche Maßstäbe zur Geltung kommen. Bis zur Schaffung einer derartigen
Ermächtigung und auf ihr beruhender Normen müssen sie jedoch im Interesse der Gleichbehandlung der Behinderten
für die praktische Rechtsanwendung an die Stelle eines bisher fehlenden Normgefüges treten und unterliegen der
richterlichen Überprüfung nur im gleichen Umfange wie echte Normen (BVerfG, Beschluss vom 6.3.1995, NJW 1995,
S 3049; BSG, SozR 3-3870 § 4 Nr 1, BSGE 72, S 285 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6).
Die Berufung ist daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Revisionszulassungsgründe (§ 160 Abs 2 Nr 1 und Nr 2 SGG) nicht vorliegen.