Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 24.11.2010

LSG Rpf: nachrichten, amerika, kalifornien, hauptsache, vergleich, aufteilung, vereitelung, besuch, aussetzung, umzug

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz
Beschluss vom 24.11.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Koblenz S 12 SO 116/10 ER
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 1 SO 133/10 B ER
1. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Koblenz vom 29.09.2010 - S 12 SO 116/10 ER -
aufgehoben und die Beigeladene verpflichtet, in der Zeit bis zum 24.05.2011 vorläufig zweimal die notwendigen
Kosten des Antragstellers zur Ausübung des Umgangsrechts mit seinem Sohn C C in den Vereinigten Staaten von
Amerika (Kalifornien) für einen jeweils fünftägigen Aufenthalt zu übernehmen.
2. Die Beigeladene hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das gesamte
Beschwerdeverfahren zu 2/3 zu erstatten.
Gründe:
Die Beschwerde ist zulässig und überwiegend begründet. Das Sozialgericht Koblenz (SG) hat den Antrag auf
einstweiligen Rechtsschutz durch Beschluss vom 29.09.2010 zu Unrecht ohne Beiladung des zuständigen Trägers
der Grundsicherung vollständig abgelehnt. Der Antragsteller hat grundsätzlich einen Anspruch gegen die Beigeladene
auf vorläufige Leistung der notwendigen Kosten der Ausübung des Umgangsrechts mit seinem Sohn C C in den
Vereinigten Staaten von Amerika (Kalifornien) im Rahmen eines jeweils fünftägigen Aufenthaltes. Im Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes war allerdings nur von einer Übernahme alle drei Monate auszugehen, da besondere
Umstände für eine höhere Besuchsfrequenz nicht glaubhaft gemacht sind.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag, der gemäß § 86b
Abs. 3 SGG bereits vor Klageerhebung zulässig ist, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand
treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines
Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur
Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Dazu sind gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG
in Verbindung mit (iVm) § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sowohl der durch die Anordnung zu sichernde, im
Hauptsacheverfahren geltend gemachte Anspruch (Anordnungsan¬spruch) als auch der Grund, weshalb die
Anordnung ergehen und dieser Anspruch vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache gesichert werden soll
(Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen. Anordnungsanspruch und Anordnungs¬grund stehen hierbei nicht isoliert
nebeneinander. Vielmehr verhalten sie sich in einer Wechselbeziehung zueinander, in welcher die Anforderungen an
den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind
und umgekehrt. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist aufgrund
einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 12.05.2005 - 1
BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237)
1. Ein Anordnungsanspruch gegen den Antragsgegner besteht deshalb nicht, weil dieser für die Erbringung der
begehrten Leistungen nicht zuständig ist.
Der Antragsteller bezieht berechtigt Leitungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Gemäß § 3
Abs 3 Halbs. 2 SGB II decken die Leistungen nach dem SGB II den Bedarf der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und
der mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen. Sie sind also grundsätzlich abschließend. Zwar hat
die Rechtsprechung in Bezug auf Kosten der Wahrnehmung des Umgangs mit Kindern zunächst einen Rückgriff auf §
73 SGB XII zugelassen, was eine Zuständigkeit des Antragsgegners begründet hätte (grundlegend BSG, Urteil vom
07.11.2006 - BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1).
Dies kann jedoch seit dem 03.06.2010 nicht mehr angenommen werden, da nun und bereits vor Antragstellung beim
SG am 17.09.2010 in § 21 Abs. 6 SGB II eine Regelung zur Abdeckung eines im Einzelfall unabweisbaren, laufenden
und nicht nur einmaligen besonderen Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht
durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen gedeckt
ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Nach der Begründung der
Neuregelung sollten im Anschluss an die Entscheidung durch das BVerfG am 09.02.2010 (vgl. BVerfG, Urteil vom
09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 -, SGb 2010, 227) gerade auch die Kosten des Umgangsrechts
erfasst sein (vgl. die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zum Entwurf eines Gesetzes zur
Abschaffung des Finanzplanungsrates, BT-Drucks. 17/1465, S. 9). Für die Erbringung der Leistungen nach § 21 Abs.
6 SGB II ist gemäß §§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 36 Satz 1 SGB II die Beigeladene zuständig.
2. Die Beigeladene war im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, vorläufig die notwendigen Kosten
der Ausübung des Umgangsrechts des Antragstellers mit seinem Sohn C C in den Vereinigten Staaten von Amerika
(Kalifornien) im Rahmen eines jeweils fünftägigen Aufenthaltes alle drei Monate zu übernehmen. Insoweit besteht ein
Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund.
a. Ein Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 21 Abs. 6 SGB II. Es handelt sich bei den Kosten des Umgangsrechts
um einen im Einzelfall unabweisbaren, laufenden und nicht nur einmaligen besonderen Bedarf.
Ein besonderer Bedarf liegt bereits deshalb vor, weil Kosten des Umgangsrechts in der dem Antragsteller gewährten
Regelleistung nicht enthalten sind (vgl auch BSG, Urteil vom 07.11.2006, a.a.O.). Diese Leistung enthält zwar einen
gewissen Anteil für Fahrkosten, allerdings betrifft dies nur die üblichen Fahrten im Alltag.
Die Kosten des Umgangsrechts stellen einen laufenden Bedarf dar, da die Ausübung des Umgangsrechts auf eine
dauerhafte Aufrechterhaltung der Nähebeziehung zum jeweiligen Kind ausgelegt ist.
Es handelt sich auch um einen unabweisbaren Bedarf, der aus Mitteln der Grundsicherung zu decken ist. Bereits
unter Geltung des Bundessozialhilfe¬gesetzes (BSHG) war anerkannt, dass die Kosten des Umgangsrechts zu den
persönlichen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören, für die über die Regelsätze für laufende Leistungen
hinaus einmalige oder laufende Leistungen zu erbringen waren (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom
25.10.1994 - 1 BvR 1197/93 -, NJW 1995, 1342 f. m.w.N.). Dabei war im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zu
beachten, dass die Leistungen grundsätzlich mehr als das Maß an Umgang ermöglichen mussten, das im Streitfall
zwangsweise hätte durchgesetzt werden können (BVerfG a.a.O.). Die Leistungen zur Sicherung des
Existenzminimums müssen danach - und insoweit ist weder eine zeitliche Zäsur (01.01.2005: In-Kraft-Treten des
SGB XII) noch eine strukturelle Unterscheidung zwischen SGB II und SGB XII gerechtfertigt - im Ergebnis die
Ausübung des Umgangsrechts bei Bedürftigkeit ermöglichen. Wie dies im Einzelnen zu erfolgen hat, ist abhängig von
der einfachrechtlichen Ausgestaltung, die im Licht des Art 6 Abs 1 und 2 S 1 GG auszulegen ist (vgl auch BSG, Urteil
vom 07.11.2006, a.a.O.).
Eine Gewährung der Kosten des Umgangsrechts scheidet nicht bereits deshalb aus, weil damit unangemessen hohe
Kosten verbunden sind. Die Kosten müssen sich in einem Bereich bewegen, der den Einsatz öffentlicher Mittel noch
rechtfertigt, es dürfen also keine außergewöhnlich hohen Kosten vorliegen. Auch hinsichtlich des Umgangsrechts mit
den Kindern ist in der Grundsicherung nämlich keine unbeschränkte Sozialisierung von Scheidungsfolgekosten
möglich (vgl. bereits BSG, Urteil vom 07.11.2006, a.a.O.). Als Vergleichsmaßstab können die Kosten angesehen
werden, die ein verständiger Umgangsberechtigter außerhalb des Bezugs von Grundsicherungsleistungen aufwenden
würde. Hierbei sind jedoch auch die Umstände des Einzelfalles zu beachten, insbesondere die Ausübung des
Umgangsrechts in der Vergangenheit.
Nach einer Recherche des Gerichts (www.opodo.de, recherchiert am 16.11.2010) fallen für einen Hin- und Rückflug
nach Los Angeles Kosten von ca. 590 EUR an. Hinzu kommen Kosten für die Unterbringung, die sich pro
Übernachtung in einem Bereich von 38 bis 50 EUR bewegen (www.hrs.de, recherchiert am 22.11.2010). Dies sind
Kosten, die ein verständiger Umgangsberechtigter ohne den Bezug von Grundsicherungsleistungen allenfalls viermal
im Jahr aufwenden würde, solange - wie hier - keine besonderen Anhaltspunkte bestehen, dass eine für das betroffene
Kind nachteilige Entwicklung vorliegt. Im Hinblick auf das bereits in der Vergangenheit ausgeübte Umgangsrecht
(einmal monatlich persönlich; vgl. zu diesem Aspekt LSG NRW, Urteil vom 06.09.2007 - L 9 AS 80/06 -, FamRZ
2008, 1789) und das derzeit ganz regelmäßig telefonisch in Anspruch genommene Umgangsrecht, erscheinen vier
Besuche je Jahr im Falle des Antragsteller auch nicht unangemessen. Die Kosten hierfür decken sich im Übrigen im
Wesentlichen mit den durch den Antragsgegner bereits für Fahrten nach B bewilligten Kosten, wenn diese auf drei
Monate hochgerechnet werden. Eine Grenze der Angemessenheit sieht das Gericht nicht bereits bei Beträgen von
500 EUR je Besuch erreicht (a.A. offenbar LSG NRW, Beschluss vom 10.05.2007 - L 20 B 42/07 SO ER, Juris). Dies
würde der Bedeutung des grundrechtlich geschützten Umgangsrechts sowohl für den Umgangsberechtigten als auch
für das Kind nicht gerecht.
Der Dauer des Umgangsrechts mit 20 Tagen im Jahr kann auch nicht entgegengehalten werden, dass der
Antragsteller noch zwei weitere Kinder hat. Zwar würde eine solche Zeitdauer bei einem erwerbstätigen
Umgangsberechtigten dazu führen, dass ein Teil des Jahresurlaubs verbraucht wäre (mindestens 12 Tage). Im
Hinblick auf den Umstand, dass die übrigen Kinder ganzjährig durch den Antragsteller betreut werden, erscheint diese
Aufteilung auch im Vergleich mit einem solchen Erwerbstätigen aber nicht unangemessen.
Einer Gewährung der Leistungen zur Ausübung des Umgangsrechts kann auch nicht entgegengehalten werden, dass
das Recht dadurch nicht sinnvoll ausgeübt werden kann. Aus den vorgelegten E-Mail-Nachrichten ergibt sich, dass
der Antragsteller regelmäßig in telefonischem Kontakt mit dem Sohn steht. Die Nähebeziehung wird also aufrecht
erhalten. Insoweit erscheint es sinnvoll für die Entwicklung des Kindes, dass zumindest alle drei Monate auch ein
persönlicher Eindruck von seinem Wohlergehen ermöglicht wird.
Eine noch vom SG angenommene Vereitelung des Umgangsrechts durch die Mutter des Sohnes, die einer
Leistungsbewilligung hätte entgegenstehen können, kann nach den vorgelegten E-Mail-Nachrichten nicht mehr
gesehen werden. Die Mutter hat in Aussicht gestellt, dass der Antragsteller den Sohn bereits im Dezember 2010
sehen kann.
Schließlich kann dem Antragsteller auch nicht entgegengehalten werden, dass nach der Rechtsprechung des BVerfG
zu prüfen ist, ob die Mutter des Kindes ggf. an den Umgangskosten zu beteiligen ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss
vom 05.02.2002 - 1 BvR 2029/00 -, NJW 2020, 1863). Ein solcher Anspruch wäre unabhängig von der Frage einer
Grundlage dafür bei der im Ausland lebenden Mutter jedenfalls nicht zeitnah durchzusetzen.
Durch die Beigeladene sind nur die notwendigen Kosten der Ausübung des Umgangsrechts zu übernehmen. Das
Gericht geht davon aus, dass sich diese im dargelegten Rahmen bewegen oder darunter liegen. Soweit der
Antragsteller die Möglichkeit hat, eine günstigere Unterkunft in Anspruch zu nehmen, z.B. bei der Kindesmutter, hat er
diese wahrzunehmen. Er hat aufgrund seiner zeitlichen Flexibilität seine Flüge auch so auszuwählen, dass sie
möglichst günstig sind. Verpflegungskosten können grundsätzlich nicht übernommen werden, da der Antragsteller
insoweit regelmäßig in Deutschland Aufwendungen erspart, die mit der Regelleistung bereits abgegolten sind.
b. Ein Anordnungsanspruch ergibt sich aus dem Umstand, dass der Antragsteller sein Kind bereits seit November
2009 nicht mehr gesehen hat und ihm nun erstmalig wegen der Bereitschaft der Mutter zur Ausübung des
Umgangsrechts wieder die Möglichkeit hierzu eingeräumt ist. Bei einer noch längeren Aussetzung des
Umgangsrechts bzw einer Beschränkung auf telefonische Kontakte droht eine Entfremdung. Dies ergibt sich aus den
vorgelegten E-Mail-Nachrichten, in denen über Schwierigkeiten bei der telefonischen Kontaktaufnahme berichtet wird,
die für das Kind nur schwer nachvollziehbar sind. Der Antragsteller hat im Übrigen bereits seit Umzug des Kindes mit
Nachdruck versucht, sein Umgangsrecht durchzusetzen.
3. Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist im Hinblick auf die Entwicklung der Beziehungen zwischen dem
Antragsteller und seinen Sohn zunächst eine vorläufige Regelung für die nächsten zwei Quartale zu treffen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
5. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum BSG angefochten werden (§ 177 SGG).