Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 17.03.2003

LSG Rpf: stationäre behandlung, befristete rente, psychologisches gutachten, psychiatrisches gutachten, erwerbsfähigkeit, wohnung, leistungsfähigkeit, gutachter, zeitrente, erwerbsunfähigkeit

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz
Urteil vom 17.03.2003 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Speyer
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 2 RI 230/02
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Speyer vom 13.3.2002 wird mit der Maßgabe
zurückgewiesen, dass der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI in der ab 1.1.2001
geltenden Fassung zu gewähren ist. 2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im
Berufungsverfahren. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit.
Die 1962 geborene Klägerin absolvierte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR von 1978 bis 1980 eine Lehre als
Fachverkäuferin mit der Spezialisierungsrichtung Fisch und Fischwaren, die sie am 15.7.1980 mit Erfolg abschloss. In
diesem Beruf arbeitete sie bis Ende 1988. Danach war sie bis März 1989 als Küchenhilfe und von Mai 1986 bis zu
ihrer Kündigung zum 1.7.1990 als Kantinenbetreuerin in einem Bauunternehmen (V Hoch- und Tiefbau) tätig. Ihre
Tätigkeit bestand darin, das Frühstück zuzubereiten (Brötchen belegen, Kaffee kochen) und zu verkaufen. Die
erforderlichen Lebensmittel hierzu wurden angeliefert. Zum Teil machte die Klägerin auch die Kassenabrechnung,
indem sie den Kassenbestand zählte und zur Bank brachte. Eine echte Einarbeitung fand nach ihren eigenen
Angaben nicht statt.
Vom 1.8.1994 bis zuletzt zum 30.11.1998 bezog die Klägerin von der Landesversicherungsanstalt (LVA) Thüringen
eine Erwerbsunfähigkeitsrente wegen einer distal-symetrischen, gemischten, sensomotorischen durch
Alkoholabhängigkeit ausgelösten Polyneuropathie. Zum 24.3.1997 verzog die Klägerin aus dem Zuständigkeitsbereich
der LVA Thüringen in denjenigen der Beklagten. Ein Antrag auf Weitergewährung der Rente über den 30.11.1998
hinaus wurde durch Bescheid vom 6.1.1999 in der Gestalt des hierzu ergangenen Widerspruchsbescheides vom
18.3.1999 von der LVA Thüringen abgelehnt. Zur Begründung bezog sie sich auf ein nervenärztliches Gutachten des
Neurologen, Psychiaters und Dipl.-Psychologen B vom 30.11.1998, in dem dieser eine leichtgradige Polyneuropathie
im Bereich der Beinnerven bei Zustand nach chronischem Alkoholismus und den Ausschluss einer hirnorganischen
Schädigung bei Zustand nach chronischem Alkoholismus als Gesundheitsbeeinträchtigungen feststellte. Der
Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin aus neurologischer Sicht noch allen Leistungsanforderungen und
Arbeitsbedingungen des freien Arbeitsmarktes vollschichtig gewachsen sei, da sich die Befunde gebessert hätten.
Am 6.1.2000 beantragte die Klägerin erneut die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Zur
Begründung gab sie an, dass sie einen Privatunfall durch Umknicken auf einer Treppe erlitten habe und seit dem
16.12.1999 wegen der dabei erlittenen Fußverletzung in Behandlung stehe.
Die Beklagte ließ ein fachinternistisches Gutachten durch Dr. L unter dem 21.3.2000 erstellen. Dieser nannte folgende
Diagnosen:
1. Euthyreote Struma nodosa I.
2. Cholesteatom der Gallenblase.
3. Phobische Angstzustände.
4. 1/4 Jahr alte Fraktur des Sprunggelenkes.
Zu den beiden internistischen Erkrankungen führte der Gutachter aus, dass diese die Leistungsfähigkeit der Klägerin
nicht minderten. Die diagnostizierten phobischen Angstzustände seien von einem hierfür fachkompetenten Psychiater
zu begutachten. Wegen der ¼ Jahr alten Fraktur des linken Sprunggelenks sei die Wegefähigkeit der Klägerin derzeit
noch eingeschränkt. Es sei aber kein Hinweis dafür erkennbar, dass sich insoweit eine chronische Erkrankung
anbahne.
Mit Bescheid vom 10.4.2000 lehnte die Beklagte daraufhin den Rentenantrag der Klägerin ab. Hiergegen legte die
Klägerin mit am 26.4.2000 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie
aus, dass hinsichtlich der Angstzustände ein psychologisches Gutachten und wegen der an ihren Füssen und Waden
vorhandenen massiven Bewegungseinschränkungen noch ein orthopädisches Gutachten erforderlich sei. Schließlich
regte sie an, ein vom Arbeitsamt Ludwigshafen durch Dr. G im Februar 1999 erstelltes Gutachten beizuziehen, aus
dem ihre beschränkte Wegefähigkeit ersichtlich sei.
Die Beklagte zog alsdann das von Dr. G unter dem 3.3.1999 erstellte Gutachten bei. Der Gutachter beschrieb das bei
der Klägerin vorhandene Leistungsbild dahingehend, dass diese noch vollschichtig überwiegend leichte Arbeiten im
Sitzen sowie zeitweise stehend und gehend verrichten könne. Die Wegefähigkeit sei auf 500 bis 1.000 m
eingeschränkt. Der Gutachter hielt die Tätigkeit einer Telefonistin oder Pförtnerin im Rahmen des Leistungsbildes für
möglich. Ein vom behandelnden Chirurgen Dr. W unter dem 2.8.2000 eingeholter Befundbericht stellte eine
bimalleoläre Luxationsfraktur des linken Sprunggelenks fest. Eine am 14.1.2000 durchgeführte Röntgenaufnahme
habe eine Osteosynthese (operatives Verfahren zur schnellen Wiederherstellung der vollen Funktionsfähigkeit
frakturierter Knochen) der Sprunggelenksfraktur ergeben. Eine weitere Röntgenkontrolle am 14.4.2000 habe eine
knöcherne Durchbauung des Innenknöchels erbracht. Die Beweglichkeit sei durch intensive krankengymnastische
Übungen besser geworden. Bei der letzten Vorstellung am 7.7.2000 hätten sich keine wesentlichen
Blutumlaufstörungen gefunden. Zur weiteren Verbesserung der Beweglichkeit, insbesondere des Hebens und Senkens
des Fußrückens, seien jedoch noch krankengymnastische Übungen erforderlich. "Arbeitsfähigkeit" sei am 1.7.2000
eingetreten. Bis Ende 2000 sei das Leistungsvermögen jedoch wegen der Sprunggelenksfraktur noch derart
eingeschränkt, dass Heben, Tragen und Bewegen schwerer Lasten ebenso vermieden werden sollte, wie das
Besteigen von Leitern und Gerüsten. Auch sei das häufige Begehen von Treppen nicht zumutbar.
Durch Widerspruchsbescheid vom 28.11.2000 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung führte die
Beklagte aus, dass die Klägerin noch körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne Heben, Tragen oder Bewegen
schwerer Lasten und ohne Besteigen von Leitern und Gerüsten verrichten könne. Aufgrund ihrer letzten Tätigkeit als
Kantinenbetreuerin sei sie als Angelernte oberen Ranges einzustufen, die nach dem bei ihr noch bestehenden
Leistungsvermögen jedoch noch auf die Tätigkeit einer Verpackerin, Sortiererin und Etikettiererin leichtgewichtiger
Industrieerzeugnisse verwiesen werden könne, da es sich bei dieser Tätigkeit um körperlich leichte Arbeiten, die
überwiegend im Sitzen und in temperierten Räumen erbracht würden, handele.
Am 20.12.2000 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht (SG) Speyer erhoben. Zur Begründung hat sie sich u.a.
darauf berufen, dass noch immer ungeachtet ihrer seit 1994 bestehenden Abstinenz neurologische
Ausfallerscheinungen aufgrund ihrer Alkoholkrankheit bestünden. Im Übrigen befinde sie sich seit dem Unfall am
16.12.1999, bei dem ihr Sprunggelenk zertrümmert worden sei, in psychotherapeutischer Behandlung bei der
psychologischen Psychotherapeutin S -B , da sie seitdem in ständiger Angst lebe zu stürzen. Auch träten in dem
betroffenen Fuß immer wieder Taubheitsgefühle und Lähmungserscheinungen auf. Diese erstreckten sich auf beide
Füße bzw. Unterschenkel.
Das SG hat einen Befundbericht beim Arzt für Allgemeinmedizin, Dr. W , vom 12.4.2001 eingeholt. Dieser hat
ausgeführt, dass die Klägerin an einer leichtgradigen Polyneuropathie beider Unterschenkel bei Zustand nach
Alkoholkrankheit, einer Struma nodosa II. Grades und einer phobischen Entwicklung in Form einer Agoraphobie
(Platzangst) leide. Seit August 2000 hätten die Beschwerden im Sinne einer Agoraphobie zugenommen. Seit
September 2000 befinde sich die Klägerin in psychiatrischer Mitbehandlung durch Dr. S. Die Beschwerden betreffend
die Agoraphobie stünden im Vordergrund.
In einem mit dem Befundbericht vorgelegten Arztbrief des Neurologen und Psychiaters Dr. S vom 4.10.2000 berichtet
dieser, dass bei der Klägerin, die sich am 21.9.2000 zur Untersuchung vorgestellt habe, der Verdacht auf eine
phobische Entwicklung, insbesondere im Sinne einer Agoraphobie, bestehe. Ein vom Chirurgen Dr. W unter dem
25.4.2001 vorgelegter Befundbericht diagnostizierte einen Zustand nach Innen- und Außenknöchelfraktur links im
Dezember 1999 bei Metallentfernung am 24.4.2001. Er führte aus, dass der Bruch fest verheilt sei. Der
Gesundheitszustand habe sich in Folge der Bruchheilung gebessert, sodass die Klägerin leichte Tätigkeiten auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig verrichten könne.
In einer Bescheinigung vom 30.5.2001 teilte die Psychotherapeutin S -B mit, dass die Klägerin an einer Agoraphobie
mit Panikstörung sowie einer Störung durch Alkohol (gegenwärtig abstinent) leide. Sie habe diese seit Januar 2001
behandelt. Die Behandlung bewege sich zunächst im Rahmen einer Kurzzeitbehandlung von 25 Sitzungen, die sich
über 6 bis 12 Monate hinzögen.
Das SG hat ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. D vom 24.8.2001 eingeholt. Dieser hat ausgeführt,
dass die Klägerin an einer Agoraphobie mit Panikstörung und einer leichten Polyneuropathie auf dem Boden einer
Alkoholabhängigkeit (seit 1994 abstinent) leide. Für die Diagnose einer Agoraphobie mit Panikstörung spreche das
von der Klägerin an den Tag gelegte Vermeidungsverhalten hinsichtlich bestimmter Orte und Situationen, die
angstbesetzt erlebt würden. Hier seien Menschenmengen, Kaufhäuser und Straßenbahnen zu nennen. In diesen
Kontext gehöre auch das Verhalten der Klägerin, es zu vermeiden, allein unterwegs zu sein, da sie Angst vor Stürzen
habe. Daher verlasse sie ihr Haus nur noch in Begleitung ihres Mannes oder Sohnes. Bei Begleitung sei die Angst
zwar noch vorhanden, werde jedoch nicht zu stark empfunden und damit kontrollierbarer. Mit den Panikattacken
gingen vegetative Symptome, wie Kurzatmigkeit, körperliches Unbehagen, Herzrasen, Schwindel und Zittern, einher.
Dieses Verhalten bestehe seit August 2000 und habe sich etwa im Januar 2001 zugespitzt. Lerngeschichtlich
erklärbar seien diese Ängste durch die von der Klägerin durchgemachte Paraparese 1994 im Rahmen der
Polyneuropathie. Die Störungen durch die Polyneuropathie seien jedoch derzeit objektiv nur noch leicht ausgeprägt.
Die Gehfähigkeit sei wieder gut hergestellt. Es seien jedoch psychologisch ableitbare Ängste verblieben zu stürzen.
Diese seien durch die im Dezember 1999 erlittene Sprunggelenksfraktur, die mit eine länger andauernden
Rekonvaleszenzphase einhergegangen sei, geradezu bestätigt worden. Die Agoraphobie mit Panikstörungen habe
sich seit der letzten Begutachtung durch den Arzt B im März 2000 offensichtlich entwickelt und verstärkt und stehe
derzeit im Vordergrund der Beschwerden. Die Symptomatik sei bei einer intensiven stationären Verhaltenstherapie in
einer psychosomatischen Fachklinik etwa innerhalb eines halben Jahres zu überwinden. Da sich die Polyneuropathie
recht gut zurückgebildet habe und auch keine schwerwiegenden alkoholtoxischen, hirnorganischen Beeinträchtigungen
bestünden sowie eine mehrjährige Alkoholabstinenz zu verzeichnen sei, stehe zu erwarten, dass etwa in einem
halben Jahr insoweit ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich leichte Arbeit überwiegend in sitzender
Tätigkeit und ohne besondere Stressanforderungen erreicht werden könne. Alles in allem sei eine dauerhafte
Einschränkung der Leistungsfähigkeit durch die Agoraphobie mit Panikstörung nicht anzunehmen, da die
Therapiemöglichkeiten keinesfalls ausgeschöpft seien. Schließlich sei momentan auch die Wegefähigkeit aufgrund
der Agoraphobie eingeschränkt. Letztere habe sich bei ängstlicher Grundpersönlichkeit der Klägerin nach der
schlaffen Paraparese und anschließender Rekonvaleszenz entwickelt. Sie sei nach der Sprunggelenksfraktur im
Dezember 1999 und der Rekonvaleszenz verstärkt worden, da beide Erlebnisse als angstbesetzt erlebt worden seien
und zu Vermeidungsverhalten geführt hätten. Eine entscheidende Änderung der Gesamtsituation sei seit August 2000
eingetreten, da seit diesem Zeitpunkt die agoraphobischen Züge zugenommen hätten. Dies äußere sich durch
Unsicherheit und Angst, an denen die Klägerin auch in der Wohnung leide.
Mit Bescheid vom 30.10.2001 hat die Beklagte der Klägerin eine 5-wöchige Heilbehandlung in der P B B als
Rehamaßnahme bewilligt. Der Bescheid enthielt keinen Hinweis auf die Gesetzesbestimmungen der §§ 63, 66 des
Sozialgesetzbuches Allgemeiner Teil - SGB I -). Nach telefonischer Absage der Heilbehandlung durch die Klägerin
teilte die Beklagte dieser unter dem 3.12.2001 mit, dass sie ihren Reha-Bewilligungsbescheid vom 30.10.2001 als
gegenstandslos ansehe.
Auf Ersuchen des SG hat der Sachverständige Dr. D ergänzend zum Zeitpunkt des Eintritts der phobischen
Symptomatik Stellung genommen. Er hat hierzu ausgeführt, dass die Datierung des Eintritts neurotischer
Entwicklungen zumeist nie zweifelsfrei möglich sei, da sich diese schleichend entwickelten. Eine Datierung könne
daher immer nur eine Schätzung sein, die sich an gewissen nachprüfbaren Kriterien ausrichte. Bei der Klägerin stelle
der Beginn der nervenärztlichen Behandlung, die im August 2000 begonnen habe, einen Einschnitt dar. Dies sei ein
objektiv belegbarer Zeitpunkt, da der Beginn einer nervenärztlichen Behandlung in der Regel mit der Schwere eine
Erkrankung korreliere. Ein weiterer Zeitpunkt sei dann etwa ab Januar/Februar 2001 zu setzen. Dieser beruhe auf
eigenen Angaben der Klägerin, da diese angegeben habe, ab diesem Zeitpunkt Probleme beim Alleinsein in der
Wohnung gehabt zu haben. Ab diesem Zeitpunkt sei auch die ambulante Psychotherapie bei Frau S -B erfolgt. Es
könne daher zusammenfassend davon gesprochen werden, dass möglicherweise ab August 2000 und relativ eindeutig
ab Januar/Februar 2001 der Einfluss der neurotischen Störung auf die Leistungsfähigkeit der Klägerin relativ klar
belegt sei. Eine frühere Datierung, etwa auf den Unfall im Dezember 1999, lasse sich nicht annehmen, da die Klägerin
durch diesen in ihrer Arbeitsfähigkeit aufgrund der Unfallfolgen und nicht durch eine neurotische Symptomatik
beeinträchtigt gewesen sei. Schließlich müsse nochmals betont werden, dass die bei der Klägerin festgestellte
Störung in der Regel gut zu therapieren sei, so dass aus medizinischer Sicht von einer vollschichtigen
Leistungsfähigkeit innerhalb eines halben Jahres ausgegangen werden könne. Auch sei noch darauf hinzuweisen,
dass aus therapeutischer Sicht die Gewährung einer Zeitrente oder Durchführung eines Heilverfahrens kontraindiziert
sei.
Die Klägerin hat alsdann eine Bescheinigung der psychologischen Psychotherapeutin S -B vom 12.12.2001 vorgelegt.
In dieser wurde mitgeteilt, dass die Familie der Klägerin wegen drohender finanzieller Verschlechterung vor einem
erzwungenen Wohnungswechsel stehe. Dieser Umstand erschwere es der Klägerin, sich hinreichend innerlich zu
lösen, um eine stationäre Behandlung im Rahmen einer kurzfristigen stationären Maßnahme anzutreten. Schließlich
würde sich die durch eine stationäre Maßnahme entstehende Herausnahme der Klägerin aus ihren Lebensbezügen in
Form von Hilflosigkeitsgefühlen und direkt depressiogen auswirken.
Das SG hat unter dem 21.2.2002 einen Befundbericht des Neurologen und Psychiaters Dr. H S eingeholt. Dieser hat
mitgeteilt, dass die Klägerin erstmals am 21.9.1998 und letztmalig am 21.9.2000 in seiner Praxis untersucht worden
sei. Bei der Erstvorstellung habe sie über persistierende Taubheitsgefühle in beiden Beinen, bei der Zweitvorstellung
ausgeprägt über innere Unruhe, Spannungsängste, insbesondere nach Verlassen der Wohnung, und ein häufig
ausgeprägtes Engegefühl berichtet. Bei der Klägerin seien eine ethyltoxische Polyneuropathie und eine Agoraphobie
zu diagnostizieren. Bezogen auf die Erstuntersuchung sei mit der Diagnose einer Agoraphobie ein neues Leiden
hinzugetreten. 1998 sei nach einer Einschränkung bezüglich der polyethylischen Polyneuropathie neurologisch
nachweisbar gewesen. Dieser Befund sei bei der Untersuchung im Jahr 2000 jedoch nicht kontrolliert worden. Die
zuletzt diagnostizierte phobische Entwicklung mit vorrangiger Agoraphobie schränke das Leistungsvermögen der
Klägerin ein, da eine derartige Symptomatik sich besonders außerhalb der gewohnten Umgebung manifestiere.
Durch Urteil vom 13.3.2002 hat das SG die Beklagte verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit
ausgehend von einem am 21.9.2000 eingetretenen Versicherungsfall, befristet bis zum 31.12.2002 zu gewähren. Im
Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass seit dem "23".9.2000, dem Zeitpunkt,
zu dem sich die Klägerin wegen ihren Angstphobien in neurologische Behandlung bei Dr. S begeben habe, ein
aufgehobenes Leistungsvermögen bestehe. Da jedoch die begründete Aussicht bestehe, dass die Minderung der
Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit behoben werden könne, habe die Klägerin lediglich einen Anspruch auf eine
Zeitrente. Die Kammer stütze sich insoweit auf das Gutachten des Neurologen, Psychiaters und Psychotherapeuten
Dr. D , der eine Agoraphobie mit Panikstörung sowie eine leichte Polyneuropathie auf dem Boden einer
Alkoholabhängigkeit bei Abstinenz seit 1994 diagnostiziert habe. Der Sachverständige habe ausgeführt, dass bei der
Klägerin ein zunehmendes Vermeidungsverhalten von bestimmten Situationen und Orten bestehe, die angstbesetzt
erlebt würden. Hier seien beispielsweise Menschenmengen, Kaufhäuser und Straßenbahnen zu nennen. Die Klägerin
vermeide es auch, allein unterwegs zu sein, da sie Angst habe zu stürzen. Sie verlasse daher nur noch in Begleitung
ihres Mannes oder ihres Sohnes das Haus, da die Angst dann von ihr als nicht so stark und kontrollierbar empfunden
werde. Die Angstattacken gingen mit vegetativen Störungen wie Kurzatmigkeit, körperlichem Unbehagen, Herzrasen
und Schwindel sowie Zittern einher. Der Sachverständige habe festgestellt, dass dieses Vermeidungsverhalten seit
August 2000 und zugespitzt seit Januar 2001 zunehmend dazu geführt habe, dass die Klägerin nicht mehr alleine aus
dem Haus gegangen sei. Soweit der Sachverständige Dr. D in seiner ergänzenden Stellungnahme zum Zeitpunkt des
Eintritts des Versicherungsfalles ausgeführt habe, dass dieser möglicherweise aufgrund der Eigenangaben der
Klägerin und der nervenärztlichen Behandlung ab August 2000 angenommen werden könne, sei jedoch nicht der
August 2000, sondern der 21.9.2000, das Datum der Zweituntersuchung durch den Neurologen und Psychiater Dr. S
heranzuziehen, der für diesen Zeitpunkt die Diagnose Agoraphobie gestellt habe. Da auch der Arzt für
Allgemeinmedizin Dr. W in seinem Befundbericht vom 12.4.2001 mitgeteilt habe, dass seit August 2000 die
Beschwerden im Sinne einer Agoraphobie zugenommen hätten und die Klägerin daher seit September 2000 durch den
Neurologen Dr. S mitbehandelt werde, sei vom 21.9.2000, dem Tag der Behandlung durch Dr. S , als dem Zeitpunkt
des Versicherungsfalles auszugehen.
Ein früherer Zeitpunkt könne hingegen nicht angenommen werden. Entsprechende Anhaltspunkte hierfür seien nicht
ersichtlich. So habe der Sachverständige Dr. D ausgeführt, dass ein Versicherungsfall ab Dezember 1999, dem
Zeitpunkt des Unfalles der Klägerin, nicht angenommen werden könne. Angaben zu phobischen Angstzuständen habe
die Klägerin bereits im Rahmen des von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten fachinternistischen
Gutachten des Dr. L gemacht. Im Hinblick auf die dessen Gutachten zu entnehmenden Hinweise auf eine psychische
Problematik und die Empfehlung, ein Gutachten durch einen Psychiater einzuholen, sei sicherlich problematisch,
dass dies durch die Beklagte unterbleiben sei. Da aber der behandelnde Hausarzt Dr. W erst im August 2000 eine
derartige Zunahme der Beschwerden gesehen habe, dass ein Überweisung an den Neurologen Dr. S erfolgte, könne
nicht angenommen werden, dass bereits zu einem früheren Zeitpunkt ein völlig aufgehobenes Leistungsvermögen
bestanden habe. Soweit sich auf Seite 16 des Gutachtens von Dr. D die Formulierung finde, dass die Klägerin sich
seit April 2000 in ihrer Wohnung nicht mehr sicher gefühlt habe, handele es sich hier ersichtlich um einen
Schreibfehler, da der Gutachter in der nächsten Zeile ausgeführt habe, dass die Klägerin auch seit April 2001 in ihrer
Wohnung vermehrt Ängste habe zu stürzen.
Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Zeitrente nach § 102 Abs 2 des Sechsten Buches des
Sozialgesetzbuches (SGB VI) in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung (aF) seien gegeben, da eine begründete
Aussicht auf Besserung im Sinne der vom Bundessozialgericht (BSG) geforderten Wahrscheinlichkeit bestehe. Nach
den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. D sei die Symptomatik der Klägerin bei intensiver
Therapie und guter Motivation innerhalb eines halben Jahres zu überwinden. Auch aus der Stellungnahme der
behandelnden Psychotherapeutin vom 12.12.2001 lasse sich nicht folgern, dass ein stationäres Heilverfahren als
Voraussetzung für eine Besserung derzeit nicht durchführbar sei. Die Psychotherapeutin habe zwar auf die Bedeutung
der persönlichen Lebensbedingungen und die derzeitige unsichere Situation der Familie der Klägerin im Hinblick auf
eine erfolgte Wohnungskündigung hingewiesen. Insoweit sei jedoch zu beachten, dass sich die Lebensumstände
durch die Gewährung der Rente verbessern würden und damit nicht mehr als derart belastend darstellten. Da zum
Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine intensivere Behandlung, wie sie der Sachverständige Dr. D gefordert
habe, noch nicht erfolgt sei, dieser jedoch von einer Besserung innerhalb eines halben Jahres ausgegangen sei, sei
die Erwerbsunfähigkeitsrente bis zum 31.12.2002 zu befristen. Dies gebe zum einen ausreichend Zeit zur
Durchführung eines stationären Heilverfahrens, zum anderen verhindere die ausgesprochene Befristung, dass die
Klägerin an ihrer Genesung selbst nicht hinreichend motiviert mitarbeite. Von Rechts wegen sei die Tatsache, dass
die medizinische Wissenschaft davon ausgehe, dass die Gewährung einer zeitlich befristeten Rente vor Durchführung
eines Heilverfahrens aus therapeutischen Gründen kontraindiziert sei, unbeachtlich. Liege eine Einschränkung des
gesundheitlichen Leistungsvermögens für einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten vor (§ 101 Abs 1 SGB VI), so
bestehe bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen ein Anspruch auf Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit. Diesem könne nicht der von den Rentenversicherungsträgern immer wieder angeführte Grundsatz
des § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VI "Reha vor Rente" entgegen gehalten werden, da dieser lediglich einen Programmsatz
beinhalte, der nicht zur Anspruchsversagung führe. Soweit die Klägerin jedoch eine Rente wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit bereits ab Antragstellung begehre, sei der Klage der Erfolg zu versagen, da im Zeitraum vor
September 2000 bei dieser zumindest noch ein Leistungsvermögen für vollschichtige körperlich leichte Tätigkeiten
des allgemeinen Arbeitsmarktes mit gewissen Einschränkungen bestanden habe. Insoweit stütze sich die Kammer
insbesondere auf das internistische Gutachten des Dr. L und die Aussagen des behandelnden Chirurgen Dr. W. Somit
sei die Klägerin, die aufgrund ihrer zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Kantinenbetreuerin als Ungelernte einzustufen sei,
hinsichtlich der zeit bis 20.09.2000 nicht als berufsunfähig und damit auch nicht als erwerbsunfähig anzusehen.
Gegen das ihr am 9.7.2002 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 8.8.2002 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat
sie im Wesentlichen ausgeführt, dass der Grundsatz "Reha vor Rente" vorliegend zwingend anzuwenden sei. So
ergebe sich aus dem Gutachten des Dr. D , dass die Gewährung einer Zeitrente vor Durchführung eines
Heilverfahrens, das im Übrigen binnen eines halben Jahres zu einem vollschichtigen Leistungsvermögen führe,
kontraindiziert sei. Gesundheitliche Gründe, die der Teilnahme der Klägerin an einer stationären Verhaltenstherapie
entgegenstünden, seien nicht erkennbar, so dass diese ohne Weiteres von der Klägerin gefordert werden könne.
Schließlich ergebe sich auch aus einem Urteil des 6. Senats des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom
31.1.2001 - L 6 RI 232/00 -, dass der Grundsatz "Reha vor Rente" vorliegend der Gewährung einer Rente
entgegenstehe.
Mit Bescheid vom 20.8.2002 hat die Beklagte der Klägerin erneut eine stationäre Leistung zur medizinischen
Rehabilitation für die voraussichtliche Dauer von 5 Wochen in der P B B , bewilligt. Der Bescheid enthält keinen
Hinweis auf die Gesetzesbestimmungen der §§ 63, 66 Abs 1 SGB I. Des Weiteren fehlt eine schriftliche Belehrung
mit Fristsetzung nach § 66 Abs 3 SGB I.
Die Klägerin hat der Beklagten mit Schreiben vom 2.9.2002 mitgeteilt, dass für sie kein Grund bestehe, eine Leistung
zu stationären medizinischen Rehabilitation in Anspruch zu nehmen. Die Beklagte hat dieser darauf mit Schreiben
vom 18.12.2002 mitgeteilt, dass sie ihren Bewilligungsbescheid vom 20.8.2002 als gegenstandslos ansehe.
Die Klägerin ist dem Berufungsvorbringen entgegengetreten und hat insoweit ausgeführt, dass die Überlegungen des
Gutachters Dr. D zur medizinischen Kontraindikation einer Zeitrente vor Durchführung eines Heilverfahrens rechtlich
gesehen irrelevant seien. Im Übrigen habe sich der Gesundheitszustand der Klägerin aufgrund der von ihr seit langem
durchgeführten ambulanten Therapie deutlich verbessert. Diese gehe davon aus, dass sie ab Januar 2003 wieder in
der Lage sei, zu arbeiten.
Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass wegen der fehlenden Mitwirkung der Klägerin bei der ihr zuletzt
angebotenen Reha-Maßnahme nach § 66 Abs 1, Abs 3 SGB I eine Rentengewährung nicht in Betracht komme. Im
Übrigen sei entgegen der Auffassung des SG keine rentenrechtlich relevante Minderung des Leistungsvermögens der
Klägerin anzunehmen gewesen, sondern bei dieser habe lediglich eine Arbeitsunfähigkeit im Sinne der
Krankenversicherung vorgelegen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Speyer vom 13.3.2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie die beigezogenen
Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung und
Beratung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die nach §§ 143 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung der Beklagten führt in der Sache nicht zum Erfolg,
da das SG diese zu Recht zur Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente bis 31.12.2002 ausgehend von einem
Versicherungsfall am 21.9.2000 verurteilt hat.
Das SG ist im angefochtenen Urteil zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin einen Anspruch auf
Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit gemäß §§ 44 Abs 1, 102 Abs 2 Satz 1 1 Nr 1 SGB VI in der bis zum 31.12.2000
geltenden Fassung hat. Das SG ist vom 21.9.2000 als dem Datum des Eintritts des Versicherungsfalles
ausgegangen. Es hat ein Nachlassen der körperlichen und geistigen Kräfte der Klägerin zu diesem Zeitpunkt mit der
Erwägung bejaht, dass die insoweit bei der Klägerin vorhandene Platzangst mit Panikstörung derart ausgeprägt war,
dass ihr Leistungsvermögen in rentenrechtlich relevantem Umfang vermindert war. Die diesbezüglichen Ausführungen
des SG sind frei von Rechtsfehlern. Sie fußen auf der gutachterlichen Stellungnahme des Dr. D , der insoweit
ausgeführt hat, dass es bei neurotischen Entwicklungen, die ihrem Wesen nach meist schleichender Natur seien, nie
zweifelsfrei möglich sei, eine genaue Datierung festzumachen. Es könne jedoch davon ausgegangen werden, dass
der Beginn einer nervenärztlichen Behandlung als objektiv belegbarer Zeitpunkt herangezogen werden könne, da er
regelmäßig mit der Schwere der Erkrankung korreliere. Der Sachverständige hat weiter ausgeführt, dass aufgrund
seiner gutachterlichen Feststellungen und der Eigenangaben der Klägerin der Beginn der nervenärztlichen Behandlung
als Zeitpunkt angenommen werden könne, zu dem die bei der Klägerin vorhandene Erkrankung eine die
Leistungsfähigkeit in relevantem Umfang beeinträchtigende Ausprägung angenommen habe. Das SG hat auf dieser
Grundlage in weiterer Zusammenschau mit den Feststellungen des behandelnden Hausarztes Dr. W in seinem
Befundbericht vom 12.4.2001 und demjenigen des Neurologen Dr. S vom 21.2.2002 den 21.9.2000 als rechtlich
maßgeblichen Zeitpunkt angesehen. Auf die ausführlichen und zutreffenden Darstellungen des Urteils hierzu wird
Bezug genommen (§ 153 Abs 2 SGG).
Der Rentenanspruch wird nicht dadurch berührt, dass durch eine Berentung nach Auffassung von Dr. Dressing das
Vermeidensverhalten verstärkt werden konnte, so dass es zu einer Chronifizierung kommen konnte (S. 34 des
Gutachtens). Wenn die Prognose zuverlässig gestellt werden kann, dass die Ablehnung der Rente die neurotischen
Erscheinungen verschwinden lässt, muss allerdings nach der Rechtsprechung eine Rente versagt werden, weil es mit
dem Sinn und Zweck der Rentengewährung unvereinbar ist, dass gerade diese den Zustand aufrechterhält, dessen
nachteilige Folgen sie ausgleichen soll (BSG, Urteil vom 12.9.1990 - 5 RI 88/89 - SozV 1991, 81). Eine solche sichere
oder zumindest mit Wahrscheinlichkeit gestellte Prognose ist jedoch dem Gutachten von Dr. D nicht zu entnehmen.
Vielmehr hat er lediglich erklärt, durch eine Rente "könne" das Vermeidungsverhalten verstärkt werden.
Das SG ist weiterhin zutreffend davon ausgegangen, dass der Klägerin kein Anspruch auf eine
Erwerbsunfähigkeitsrente auf Dauer zusteht. Der Senat nimmt auf die diesbezüglichen Ausführungen des Urteils zur
Befristung ebenfalls Bezug.
Das Berufungsvorbringen der Beklagten, das SG habe den Grundsatz "Reha vor Rente" (§ 9 Abs 1 Satz 2 SGB VI)
verkannt, da es zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass die Weigerung der Klägerin, an einer stationären Reha-
Maßnahme zur
Behandlung ihrer Agoraphobie teilzunehmen, keine Versagung des Rentenanspruchs zur Folge habe, führt zu keiner
anderen rechtlichen Bewertung.
§ 9 Abs 1 Satz 2 SGB VI führt aus, dass Leistungen zur Teilhabe Vorrang vor Rentenleistungen haben, die bei
erfolgreichen Leistungen zur Teilhabe nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind.
Auch § 8 Abs 2 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) normiert explizit, dass Leistungen zur
Teilhabe Vorrang vor Rentenleistungen haben. Gemäß Abs 1 der vorbezeichneten Bestimmung ist, wenn bei einem
Reha-Träger ein Antrag auf Sozialleistungen wegen einer Behinderung - hier einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit -
gestellt worden ist, unabhängig von der Entscheidung über die Leistungen zu prüfen, ob Leistungen zur Teilhabe
voraussichtlich erfolgreich sind. Aus dem Normwortlaut der Bestimmungen der §§ 9 Abs 1 Satz 2 SGB VI, 8 Abs 2
SGB IX lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass diesen im Hinblick auf die Gewährung von Rentenleistungen
anspruchsversagender Charakter zukommt. Sie sind vielmehr als allgemeine Programmsätze auszulegen (Niesel,
Kasseler Kommentar, § 9 SGB VI RdNrn. 4, 7), denen weder anspruchsbegründender Charakter im Hinblick auf die
Gewährung von Leistungen zur Teilhabe noch anspruchsversagender Charakter im Hinblick auf die Gewährung von
Rentenleistungen im Falle der fehlenden Mitwirkung des Versicherten bei Leistungen zur Teilhabe zukommt. Dass die
schlichte Berufung eines Rentenversicherungsträgers auf die §§ 9 SGB VI, 8 SGB IX nicht dazu führt, dass dem
Versicherten bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eines Rentenanspruchs die Gewährung der Rente
versagt werden kann oder gar zu versagen ist, wird durch folgende systematische Erwägung belegt: Im SGB I hat der
Gesetzgeber im Einzelnen die Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten geregelt. So soll nach § 63 SGB I
derjenige, der wegen Krankheit oder Behinderung soziale Leistungen beantragt, sich auf Verlangen des zuständigen
Leistungsträgers einer Heilbehandlung unterziehen, wenn zu erwarten ist, dass sie eine Besserung seines
Gesundheitszustandes herbeiführen oder eine Verschlechterung verhindern wird. Nach § 66 Abs 2 kann der
Leistungsträger die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen, wenn derjenige, der
eine Sozialleistung wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit beantragt hat, seinen Mitwirkungspflichten nach §§ 63 bis
65 SGB I nicht nachkommt und unter Würdigung aller Umstände mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass
deshalb die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht verbessert wird.
Voraussetzung für eine derartige im Ermessen des Leistungsträgers stehende Versagung ist jedoch, das der
Leistungsberechtigte auf diese Folge zuvor schriftlich hingewiesen worden und seiner Mitwirkungspflicht nicht
innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist (§ 66 Abs 3 SGB I). Enthält das SGB I mithin
klare Regelungen hinsichtlich Art und Umfang der Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten sowie der Folgen
fehlender Mitwirkung, so kann die Berufung auf den allgemeinen Programmsatz "Reha vor Rente" nicht zur
Anspruchsversagung führen. Vielmehr kann eine Versagung der Leistung nur bei Vorliegen der Voraussetzungen der
§§ 63, 66 SGB I erfolgen.
Hieran fehlt es vorliegend jedoch. Zwar hat die Beklagte der Klägerin mit Bescheiden vom 30.10.2001 sowie vom
20.8.2002 jeweils eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation bewilligt. Keiner der beiden Bescheide hat
aber der Bestimmung des § 66 Abs 3 SGB I Rechnung getragen, wonach Sozialleistungen wegen fehlender
Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden dürfen, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich
hingewiesen worden und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist
nachgekommen ist. Hat die Beklagte mithin die Bestimmung des § 66 Abs 3 SGB I nicht beachtet, so bedarf die
Frage, ob das Verhalten der Klägerin die Voraussetzungen für die Verletzung ihrer nach § 63 SGB I bestehenden
Mitwirkungspflicht erfüllt, keiner Erörterung.
Das von der Beklagten als Beleg für ihre Rechtsauffassung angeführte Urteil des 6. Senats des Landessozialgerichts
Rheinland-Pfalz vom 31.1.2001 - L 6 RI 232/00 –, das ohne Begründung § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VI
anspruchsversagenden Rechtscharakter zubilligt, vermag nicht zu überzeugen. Um letztlich eine Rentenleistung
rechtswirksam versagen zu können, bedarf es in jedem Einzelfall eines konkreten, durch Verwaltungsakt erfolgenden
Reha-Angebots, das unter Beachtung der Bestimmungen der §§ 60 ff SGB I ergeht. Die schlichte Berufung auf den
Programmsatz des § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VI entbindet hingegen nicht von der Beachtung der wegen des auch im
Sozialrecht geltenden Gesetzesvorbehalts (vgl. § 31 SGB I) anzuwendenden Bestimmungen der §§ 60 ff SGB I, die
Art und Umfang der Mitwirkungspflichten der Versicherten regeln.
Nach alledem war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen. Die im Tenor ausgesprochene Maßgabe beruht auf
dem Umstand, dass die der Klägerin zustehende befristete Rente ausgehend von einem am 21.9.2000 eingetretenen
Versicherungsfall wegen der Regelung in § 101 Abs 1 SGB VI nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach
dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit und damit hier nach dem 1.1.2001, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens
der Neuregelung des § 43 SGB VI nF (Rente wegen Erwerbsminderung), zu zahlen war. Konnte die Klägerin mithin die
Rentenzahlung erstmals unter Geltung des neuen Rechts verlangen, so hat ihr Rentenanspruch nicht im Sinne des §
302 Abs 2 SGB VI bis zum Zeitpunkt der Aufhebung des alten Rechts bestanden. Für ihn ist mithin das neue Recht
maßgebend (vgl hierzu BSG, Urteil vom 24.2.1999 - B RJ 28/98 R - SozR 3-2600 § 300 Nr 14).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe der in § 160 Abs 2 SGG genannten Art nicht vorliegen.